Читать книгу: «Eine Liebe in der Toskana», страница 3

Шрифт:

Der nüchterne Betrachter schlägt sich verzweifelt den Kopf auf die Tischplatte, aber für den Säufer entfaltet sich nun das große Glück.

In unserem Fall sah das so aus, dass drei Sprachstudenten im besten Mannesalter, imaginäre Äxte schwingend, durch die Bar sprangen und mit albernem Gelächter den schottischen Akzent von Murdos Landsleuten imitieren: »An aerrroplane frrrom the Krrrauts with grrreetings frrrom Adolf Hitlerrr ...«

Dazwischen infernalisches Geschnäuze und eine aufjaulende Nazuko, »... it must be a Messerrrschmidt ... King Arthurrrrrrrr ... wherrre is Sirrrr Galahad ...«

O herrliche Leichtigkeit des Seins! Ein wahrhaft großer Tag fand hier sein finale furioso.

Hochzufrieden begab ich mich nach Hause, legte mich in mein quietschendes Eisenbett und zog Bilanz:

Ich hatte eine interessante Stadt und viele nette Leute kennengelernt. Ich hatte wertvolle völkerkundliche Beobachtungen gesammelt und den Verbleib der Hess’schen Messerschmidt in Erfahrung gebracht. Ich hatte mein Italienisch vervollkommnet und im reifen Alter noch die Erfahrung machen dürfen, dass Schule Spaß machen kann. Ich hatte mich unsterblich verliebt und sogar bereits erste, vielversprechende Erfolge in dieser Angelegenheit verbuchen können. Darüber hinaus hatte ich drei Kirchen, ein Skelett und zum ersten Mal in meinem Leben eine komplette Folge von »Kommissar Rex« gesehen.

Mehr kann man von einem Tag nicht verlangen. Mehr Leistung geht nicht!

Ich dankte dem lieben Gott und Rainer Maria Rilke. Sobald ich nach Deutschland zurückkehrte, würde ich mir sein Gesamtwerk kaufen.

Ja, ich glaube Nicoletta mag mich, umwölkte es mich noch, als ich mich behaglich in mein Laken räkelte. Und außerdem, Italian women love German men, da konnte ja gar nichts schief gehen. Meine Operation lief wie geschmiert. Ach was, Operation! Ein Feldzug würde es werden, ein Feldzug für die Liebe. Une battaglie d’amour! Voilà! Allez les bleus!

Und du San Giovanni Valdarno, du sollst mein Austerlitz sein!

Was hatte mein Leben auf einmal für einen wundervollen Drive?

»Mi chiamo mi chiamo, ti amo ti amo«, echote es noch von fern, ehe mich Orpheus in seine Arme schlang.

San Lorenzo

Der zweite Schultag begann vielversprechend. Zum Frühstück gab es wieder Hörnchen, Milchkaffee, und die Nachrichten von RAI befriedigten mein über Nacht aufgestautes Informationsbedürfnis mit schwarzen Limousinen, Regierungskrise und dem neuesten Schwank aus Neapel.

Hei, was muss das wieder für ein Geballer gewesen sein. Vier Blechsärge wurden aus einem Saunaclub getragen. Danach noch ein bisschen Überwachungskamerazeug, Brangolina auf rotem Teppich, Fußballtore und Wetter.

Ich nahm meine Schulsachen und verabschiedete mich von der zeitungslesenden Franca mit einem leicht übermütigem »Ciao ragazza (Mädchen)«.

»Ciao Peter!«, erwiderte Franca meinen Gruß.

Ich ging zur Tür, aber gerade als ich auf die Klinke gedrückt hatte, hörte ich Franca noch einmal:

»Peter ...«

»Ja?« Ich drehte mich um.

»Danke!«, sagte sie und sah von der Zeitung auf.

»Für was?«

»Für die Ragazza.«

»Niente!«, lachte ich.

Heiter beschwingt hüpfte ich zur Schule. So heiter und so beschwingt, dass ich ab und zu versuchte, mit einem nicht böse, eher spielerisch gemeinten Außenrist eine Taube zu treffen.

Ich tänzelte ins Klassenzimmer, wo sich meine Heiterkeit noch weiter steigerte. Frau Lehrer hatte sich Pippi-Langstrumpf-Zöpfchen geflochten und den Rest ihres schönen Körpers in allerlei Geringeltes gesteckt. Che donna! Sie sah nun aus wie eine sechzehnjährige Pennälerin!

Frau Lehrerin war auch recht aufgekratzt, vielleicht, weil die isländischen Nervensägen blau gemacht hatten, oder auch vielleicht, weil wir uns heute über die italienische Gossensprache unterhielten. Ein interessantes Feld!

Während die italienische Vulgärsprache wie bei fast allen Völkern sexueller Natur ist, beziehen wir uns ja auf das Fäkale, oder Anale, wie es Sigmund Freud nannte. Der Kot ist ein Meister aus Deutschland! Und nur bei uns kann er es sein, schon der uns sprachlich so verwandte Holländer fühlt sich nicht beschissen, sondern »hodig«.

Aber ist das etwa eine Lösung? Ich sage nein! Wir Deutsche sind weniger sexistisch, weniger frauenfeindlich, und hätte beispielsweise im WM-Finale zweitausendundsechs der Italiener Materazzi zu seinem Gegenspieler Zidane einfach »du bekacktes Arschloch« gesagt, dann wäre die Sache ohne Kopfstoß abgegangen, aber nein, er musste ja irgendeinen sexuellen Blödsinn mit Mutter und Schwester ins Spiel bringen. Nein, nein, da lob ich mir schon unsere gute alte Scheiße!

Nicolettas warmherzigen Spott kannte ich ja schon. Meine Ausführungen für unsere Vorliebe für das Exkrementelle kommentierte sie auf ihre Weise. Sie sah mir tief in die Augen, zog eine Augenbraue nach oben und hauchte ein laszives: »Che bello!«

Ich war kurz davor, den Verstand zu verlieren!

Nach der Pause sprachen wir über das Klischee des »Latin Lovers«. Ich ergriff die Gelegenheit, um einer Frage auf den Grund zu gehen, die mich gerade akut beschäftigte.

»Italian men love German women, and Italian women love German men.«, zelebrierte ich genüsslich das Zitat jener Campariglas-wedelnden Schönheit von einst in Sorrent. »Stimmt das?«, fragte ich und sah Nicoletta erwartungsfroh an.

Sie schmunzelte, dachte kurz nach, und sagte:

»Der erste Teil des Satzes ist sicher richtig. Unsere Männer stehen tatsächlich auf blonde, blauäugige Frauen, der zweite Teil eher nicht. Wir Italienerinnen bevorzugen den südlichen, romanischen Männertyp.«

»Mit Sonnenbrille«, fügte ich leicht eingeschnappt, aber angriffslustig hinzu.

»Mit Sonnenbrille«, nickte sie.

»Und Gel in den Haaren ...«

»Und Gel in den Haaren ...« Sie grinste. Solche Spielchen gefielen ihr.

»Und Markenunterhose!«

»Klar mit Markenunterhose!«, antwortete sie schnippisch.

»Und Stroh im Kopf!«

Sie warf lachend den Kopf in den Nacken, dann kippte sie schnell nach vorn, wurde auf einmal ernst und deutete mit dem Zeigefinger auf mich: »Hey, du beleidigst unsere Männer!«

»Na und?«

»Ich sprach nur von einem Stereotyp«, lächelte sie und streichelte dabei die Schreibtischoberfläche, »von einer Mehrheit, einer Tendenz ...«, sie hörte auf zu streicheln, sah mich an und gurrte warm: »Das heißt nicht, dass das der Geschmack aller Italienerinnen ist!«

Mein bescheuerter Gesichtsausdruck unterschied sich wohl kaum von jenem damals in der sorrentinischen Bar. Aber dann legte sie zuckersüß nach: »Meiner allerdings schon!«

»Peccato (schade)«, schluckte ich, und zum ersten Mal musste ich mir eingestehen, dass sich diese Eroberung wohl etwas schwieriger als gedacht gestalten könnte.

*

Zuhause schaltete ich den Fernseher ein und legte mich auf’s Bett. Ich wollte ein bisschen dösen, und dachte, dafür würde sich die Livedebatte, die auf RAI 1 aus dem römischen Parlament übertragen wurde, gut eignen. Aber da hatte ich mich gewaltig verschätzt. Das Gegenteil trat ein. Ich wurde immer wacher, denn es ging zu wie im Tollhaus!

Es sprach gerade ein gewisser Gianfranco Fini. In feuriger Rede geißelte Herr Fini die seiner Ansicht nach unfähige Prodi-Regierung. Dabei wurde er immer wieder vom frenetischen Beifall seiner Parteifreunde sowie den impulsiven Zwischenrufen seiner Gegner unterbrochen. Verglichen mit diesen heißblütigen Temperamentsbolzen kamen mir unsere Berliner Politiker bald wie ein Haufen valium-vollgepumpter Melancholiker vor.

Wehmütig erinnerte ich mich an alte Wehner-Strauß-Zeiten, an den alten Bundestag in Bonn, an das schwarze Holz mit den silbernen Nägeln – ganz klar Winnetous Silberbüchse nachempfunden –, goldene Zeiten in schwarz-weiß waren das!

Das römische Parlament war wie ein Amphitheater angelegt. Man könnte auch sagen wie ein Zirkus, das trifft es wahrscheinlich eher. Die Abgeordneten saßen auf gepolsterten, mit rotem Leder bezogenen Bänken. Ein alter, sitzender Parlamentspräsident wurde von zwei jungen, stehenden Amazonen flankiert, die auf mich, das muss ich zugeben, in ihren perfekt sitzenden Uniformen und ihren kühlen Blicken, extrem sexy wirkten.

War das seine Leibwache oder gehörten die zum Zirkus? Oder hatte man sich das gar vom Libyer Ghadaffi abgeschaut? Der hatte immerhin vierzig Leibwächterinnen um sich.

Mein lieber Herr Gesangsverein, diese Leibwache, eine Augenweide war das! Und wie die beiden so streng dreinblickten, genau mit dieser Sorte »stolzer Blick«, für den die Italienerinnen offenbar das Patent besitzen, dieser spezielle Blick, zwar unterkühlt aber doch nicht so richtig unterkühlt, mehr so lasziv unterkühlt mit einer kleinen Prise Arroganz. Sicher hatten sie auch noch diese Reibeisenstimmen ..., ...also ich weiß jetzt nicht so recht wie ich das sagen soll, auf dem weiten Feld der Sexualität soll es ja die tollsten Sachen geben, und grundsätzlich stehe ich allen Neuerungen aufgeschlossen gegenüber, man weiß ja nie, vielleicht kommt’s mir eines Tages tatsächlich in den Sinn und ich sage mir, jawoll, heute möchte ich aber mal so richtig ausgepeitscht werden. In diesem Fall hätte ich die Tracht Prügel bitte gern von dieser Leibwache!

Nicht, dass hier ein falscher Eindruck entsteht, masochistische Neigungen sind mir bislang völlig fremd, aber wer weiß denn schon wie die Welt in fünf Jahren aussehen wird? Nach Angela Merkel, nach der Abschaffung des Euro, nach Veröffentlichung dieses Romans? – Aber das bleibt jetzt unter uns!

Leider kam der Parlamentspräsident viel zu selten ins Bild. Stattdessen dauernd Fini, der irgendwann seine Rede schloss. Auf dem Weg zurück zu seinem Platz wurde er von einer Traube von Partei­freunden umringt, die ihn herzten und auf die Schultern schlugen, als hätte er soeben das Siegtor in einem WM-Finale geschossen.

Grinsend zu all dem und noch auf der Oppositionsbank: Silvio Berlusconi, ein Erzschlawiner wie kein Zweiter, ein Bazi durch und durch.

Aber wie er da so saß und grinste, da erschien er fast sympathisch und eigentlich ziemlich ungefährlich. Und wohl auch deshalb, weil er so ungefährlich erscheint, wird er so ausdauernd von seinen Landsleuten gewählt. Ein verhängisvoller Fehler, denn von Berlusconi regiert zu werden, ist ungefähr genauso ungefährlich wie ein Oralverkehr mit einem Sumpfkrokodil ..., ... ahhh, endlich wieder der Parla­mentspräsident ...

Hatte dieses Parlament nicht sogar schon die Pornografin Ilona Staller in seinen Reihen? Diese moderne Messalina mit dem Künstlernamen Cicciolina, Schnuckelchen!

Ein spätantiker Geist umweht noch immer dieses Land. Und wer einmal gesehen hat, was sich in Imola abspielt, wenn die roten Ferrari vor dem Rennen an der Haupttribüne vorbeiparadieren, der weiß, dass sich seit Ben Hur nicht viel verändert hat.

Ich öffnete zur Feier des Tages ein Fläschchen Chianti, trank auf den römischen Staatszirkus und hoffte noch auf viele Auftritte des Parlamentspräsidenten.

*

Nach einem pisolino, einem Nickerchen (was dachten Sie?), erledigte ich noch schnell die Hausaufgaben, dann war auch schon Abendessenszeit. Heute gab es Spaghetti Carbonara und »Un caso per due« – »Ein Fall für zwei«.

Ja Himmel Arsch und Zwirn, durchfuhr es mich, fällt denn diesen einfältigen Gnocchi-Scheißern nichts Dümmeres ein, als sich den wirklich allergrößten Mist aus unserem Land andrehen zu lassen?

»Ihr Deutschen macht einfach die besten Krimis!«, lobte mich Franca, während sie ihre Nudeln in die Gabel drehte. »Am allerbesten war Derrick!«

»Danke, Franca«, antwortete ich kleinlaut, »das ist sehr nett, Derrick fand ich auch sehr gut.«

Nach dem Essen und dem Abendtelefonat mit meinen Kindern, zog es mich zielstrebig in die Bar Valentino und traf dort auch, wie erhofft, die Hauptdarsteller des Vorabends an. Nach zwei Bieren beschlossen wir, zur Abwechslung mal einen kleinen Lokalwechsel vorzunehmen.

An diesem Dienstagabend betrat ich zum ersten Mal das San Lorenzo.

Die Bar war brechend voll und hatte, das verriet mir mein Kennerblick sofort, einen ganz speziellen Charme, einen Hauch von Hafenkneipe, etwas leicht spelunkiges, allerdings auf hohem Niveau.

Im vorderen Teil des Etablissements befand sich der Bartresen, danach gelangte man durch einen Torbogen in den ein paar Stufen tiefer gelegenen Hauptraum des Lokals, dessen Cottoboden und geziegelte Gewölbedecke Geschmack und Gemütlichkeit verbreiteten. An den Wänden hingen gerahmte schwarz-weiße Filmaufnahmen, auf denen immer ein Mann abgebildet war, der aussah wie Hans Albers. Später erfuhr ich, dass der Mann, dem hier offenbar quasireligiöse Verehrung widerfuhr, Totò hieß, ein aus Neapel stammender Komiker war, über hundert Filme gemacht hat und heutzutage landesweiten Kultstatus besitzt.

Wir stellten uns an die Bar, tranken einen Limoncello, dann wurde ein Tisch frei, und wir setzten uns.

Auf einmal wurde eine Gitarre hervorgeholt, es wurde gesungen, und das Instrument wanderte von einem zum anderen. Ich staunte, wie viele es beherrschten.

Irgendwann hielt ich die Klampfe in der Hand und fing zu spielen an. Ich weiß gar nicht mehr genau was es war, ich glaube, es war Sunny Afternoon von den Kinks.

Und nun geschah schier Unglaubliches! Ein Sturm brach los, und es hob ein Singen und ein Jubel an, als hätte die Kneipe jahrelang nur auf mich gewartet. Wildfremde Menschen klopften mir auf die Schulter, ja herzten mich. Eilig wurden uns Freigetränke, die ein ganzes Bundeswehrbataillon ins Wanken gebracht hätten, auf den Tisch gestellt, auf dass sich der Deutsche und seine Freunde laben mögen. Flaschen von Grappa, Limoncello, Chianti, ja sogar Asti Spumante wurden gereicht. Es war ein absoluter Höhepunkt in meinem gastronomischen Leben!

Diese Reaktionen waren insofern überraschend, da in Deutschland bei ähnlichen Anlässen der Jubel oftmals keinen Anfang nehmen will, um es mit Karl Valentin zu sagen.

Angefeuert von so viel Zuspruch legte ich natürlich nach. Ich wurde mutiger und knödelte nun voll Inbrunst Johnny B. Goode heraus, eine schwungvolle Weise aus der Mitte des letzten Jahrhunderts von Chuck Berry. Berry ist ein betagter Tunichtgut aus St. Louis, der immer noch sein Unwesen auf den Bühnen des Erdballs treibt. Er ist wirklich ein ganz schlimmer Finger. Ich war einmal Zeuge, wie Herr Berry während eines Konzerts in Nürnberg eine Zuschauerin zum Tanzen auf die Bühne gelockt hatte, und ihr dann voll Übermut mit dem Gitarrenhals den Rock hochhob.

O fahriges Volk!

Inzwischen hatte sich der Chef der Kneipe einen halben Meter direkt vor mich hin platziert und starrte für die nächste Stunde gebannt auf meine Finger. Er war für niemanden mehr ansprechbar. Ab und zu kam die Kellnerin vorbei, um ihn etwas zu fragen, er schob sie jedes Mal mit einer unwirschen Handbewegung beiseite. Es gibt eben Prioritäten. Die Kellnerin war – wie ich später erfuhr – seine Frau.

Dieser Chef hieß Gianni, kam ursprünglich aus Sardinien und hatte etwa mein Alter. Er war von kleiner, südländischer Gestalt, trug einen Dreitagebart und einen Mecki-Haarschnitt, um einmal einen fast schon vergessenen Fachausdruck aus dem Friseurhandwerk der sechziger Jahre ins Geschehen zu werfen, das heißt, das graumelierte Haar war kurzgeschoren. Das hervorstechendste Merkmal an Gianni waren seine warmen, braunen Augen.

Außer Gianni lernte ich an diesem Abend noch Paolo, Mino, Andrea, Gianluca, Fabio, Pino und Nicola kennen.

Immer noch traktierte ich die Saiten, und unaufhaltsam tobte der Abend seinem Höhepunkt entgegen. Ich knallte einen Ü-Dreißig-Hit nach dem andern raus, schrammelte mich durch das Frühwerk von Bob Dylan und die mittlere Schaffensperiode der Rolling Stones, ich schmetterte alle fünfundachtzig Strophen von »Let it be« und ließ mich sogar – ich trau’s mir kaum zu sagen – zu »Angie« und »Blowin in the Wind« herab.

Ich wurde in dieser singenden, alles niederreißenden Glückseligkeit absolut hemmungslos!

Die Stimmung kochte, die Meute sang wo sie nur konnte lautstark mit, und immer wenn ich ein Lied beendet hatte, erhob König Arthur sein Glas zu einem launigen »Stinkspruch«, wie er es nannte. Gegen ein Uhr wurde das Rauchverbot per Dekret vom Chef persönlich aufgehoben. Gegen ein Uhr dreißig auch das Rauchverbot für Zigarren. – Ich war damals noch Zigarrenraucher.

Als ich irgendwann doch noch das Instrument erschöpft beiseitelegte, übernahm Gianni meinen Part. Er setzte sich vorher aber noch eine Lesebrille auf und legte ein dickes Songbook auf den Tisch, aus dem er nun Lieder vortrug, deren Schöpfer zu ihrer Zeit noch Chansoniers, später dann Liedermacher hießen. Diese Musikergattung erlebte ihre Hochzeit in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, war grundsätzlich links und beklagte in gezupften, beziehungsweise geschrubbten Liedern alles Leid der Welt. Extra für sie wurden das Prädikat »anspruchsvoll« sowie der A-Mollakkord erfunden. Da sie aber soffen wie die Bierkutscher und sich auch sonst nur von filterlosen, französischen Zigaretten ernährten, ist diese Gattung heute so gut wie ausgestorben.

Gianni sang ausgezeichnet, und seine warme, sonore Stimme, verbunden mit den vielen traurigen Molltonarten sorgte an unserem Tisch für eine selig-betroffene, ja feierliche Besinnlichkeit, die vom Wohlfühlfaktor her schon weihnachtliche Ausmaße annahm.

Es wurde spät, sehr spät. Ich erinnere mich noch, dass König Arthur einmal sagte, es sei nun zwei Uhr sechzig. Ich erinnere mich auch noch, dass er sagte, dies sei zwar mitteleuropäische Zeit, wir uns aber nicht in Mitteleuropa befänden, nein falsch, umgekehrt, er sagte, dass das keine mitteleuropäische Zeit wäre, sondern Graubündner Zeit, wir uns aber durchaus in Mitteleuropa befänden ... oder anders? ... Nein, ich krieg’s nicht mehr zusammen ...

Irgendwann ging auch dieser glorreiche Tag zu Ende. Wo sollte das alles noch enden?

»Ich liebe Italien«, seufzte ich glücklich in meinem Eisenbettchen, »und Italien liebt mich!«

*

Erst das wiederholte und nun schon sehr energische Klopfen Francas brachte mich allmählich zu Bewusstsein. O Gott, ich hatte verschlafen! Ich gab mir einen Ruck und schoss aus dem Bett. Hastig zog ich mich an, schlürfte noch schnell im Stehen den Milchkaffee, den mir eine kopfschüttelnde Franca verabreichte und rannte aus dem Haus.

Schade, ich hatte die Blechsärge verpasst.

Der Unterricht hatte schon begonnen, als ich unter dem tadelnden Blick meiner Lehrerin ins Klassenzimmer stürmte. Nicoletta begann den Morgen immer mit der Frage, was wir am Vortag gemacht hätten. Ich kam gerade noch rechtzeitig, um voller Stolz von meinen nächtlichen Heldentaten in der Bar San Lorenzo berichten zu können.

Nicoletta war nicht sonderlich beeindruckt, lächelte ein wenig und meinte nur, sie wüsste schon, dass es in dieser Kneipe ab und zu etwas merkwürdig zuginge.

Hoppla! Das San Lorenzo schien einen schrägen Ruf zu genießen. Oder war Nicoletta am Ende – trotz ihres oft burschikosen Auftretens – gar ein wohlbehütetes, kreuzbraves Töchterchen? Meine Recherchen in dieser Angelegenheit waren noch nicht abgeschlossen und ergaben bislang ein lückenhaftes Bild.

Ihr Kleidungsstil war sicherlich gewitzt, aber auf keinen Fall etwa flippig. Sie trug zum Beispiel keine Tattoos, widerstand also lobenswerterweise dieser Modeseuche, die sich auch auf der Halbinsel schlimmer als die Schweinepest verbreitet hat. Auf jeden Fall ein Pluspunkt!

Politisch war sie eher links, jedenfalls hasste sie Berlusconi.

Zumindest letzteres verdient einen Punkt.

Sie war sehr umweltbewusst, das heißt, für deutsche Verhältnisse war sie völlig normal, für italienische jedoch eine bekloppte Radikale, eine grüne Fundamentalistin.

Klarer Pluspunkt!

Zur katholischen Kirche hatte sie ein loses, eher passives Verhältnis.

Dazu schweigt der Protestant.

Aber jetzt kommt’s: Sie wohnte noch zuhause bei ihren Eltern!!!

Hundert Punkte!

Es gab also offenbar keinen Mann in ihrem Leben!

Warum nicht? Wieso war dieses Prachtstück noch nicht unter der Haube? Was war in ihrem Leben schief gelaufen? Eine Enttäuschung? Oder hatte es gar etwas mit ihren Moralvorstellungen zu tun? Am Ende war sie noch Jungfrau ... Nein, das war nicht möglich ... obwohl ... in diesem Land war doch so vieles so viel anders ... ganz sicher wartete sie noch auf den Richtigen. –

Genau, und zwar auf mich!

Ich war an diesem Schultag nicht in allerbester Form, was nach nur drei Stunden Schlaf, reichlich Alkohol- und Zigarrengenuss auch kein Wunder war. Wohl auch aus diesem Grund vergeigte ich an diesem Tag einen Matchpoint geradezu jämmerlich:

Wir mussten zu Adjektiven wie »geizig«, »leidenschaftlich«, »eitel« usw. mit einer Punktzahl von eins bis fünf angeben, wie sehr das jeweilige Attribut auf uns selbst zuträfe.

Ich war mit dem Wort »tenero« dran. Nicoletta hatte die Bedeutung kurz erklärt. Ich war wohl nicht so recht bei der Sache, jedenfalls dachte ich, die deutsche Bedeutung sei »eifersüchtig«.

Ich gab mir einen Punkt, was auch schon gelogen war.

Nicoletta sah mich ungläubig an: »Nur einen Punkt? Peter, das kann doch nicht dein Ernst sein.«

»Gut, dann eben zwei Punkte.« Man darf vielleicht auch nicht überpowern.

»Aber Peter, du bist doch tenero.«

Irgendwas lief hier gründlich schief. Verdammt, was bedeutete dieses dämliche Wort.

»Nein, ich bin nicht besonders tenero. Tut mir leid. Höchstens drei Punkte. Aber das ist das Äußerste.« Augen zu und durch.

Nicoletta sah mich enttäuscht an. Es war dieser das-hätte-ich-jetzt-nicht-von-dir-gedacht-Blick.

Verdammt, was war das nur für ein Mistwort. Und warum hatte ich ausgerechnet heute mein Wörterbuch vergessen.

Nach dem Unterricht rannte ich auf mein Zimmer. Wörterbuch raus, tenero, tenero, tenero ... o Gott, nein: ZÄRTLICH.

Verdammt!

Da lag der Ball auf dem Elfmeterpunkt, und ich haute ihn – Uli Hoeneß wäre vor Neid erblasst – stockvoll in die Wolken. Noch ein paar Schnitzer wie dieser, und sie hasst mich!

Mein Feldzug war ins Stocken geraten.

*

Mit der Lehrkraft Francesca – die mit der wilden Lockenpracht – und meinen letzten Kräften fuhren wir am Nachmittag ins etwa dreißig Kilometer südlich gelegene Arezzo. Nach zwei Bahnstationen erreichten wir die Stadt, die im Schatten von Siena und Florenz zu Unrecht ein etwas verkanntes Mauerblümchendasein führt.

Francesca führte uns durch die Altstadt, und die herbstliche Luft war erfüllt von den Maroni, die an fast jeder Straßenecke geröstet wurden. Beim Dom angekommen, erzählte sie uns von den amtlich anerkannten Stadtwundern, bei denen sich besonders der Märtyrer San Donato, im vierten Jahrhundert Bischof von Arezzo, hervorgetan hat. Zu dessen zwei Hauptwundern zählt die Tötung eines Drachen (?), der einen Brunnen vergiftet (??) hatte, sowie das Zusammenfügen eines zerbrochenen Kruges, und zwar ohne Pattex, wie König Arthur unqualifiziert dazwischen frug. »Urbi et Obi«, schob der Schweizer noch nach und grinste dabei wie Konfuzius im dritten Lehrjahr.

Irgendwann wurde das Treiben des Bischofs den Römern zu wundersam, und sie köpften den Heiligen in spe. Als man den Toten den heutigen Corso Italia hinaufkarrte, fiel der Kopf jedoch dreimal vom Wagen und rollte talwärts. Die Gläubigen – es klingt wie aus einer Monty-Python-Szene – werteten dies als Zeichen und beerdigten den Kopf gleich an Ort und Stelle. Dann taten sie das, was sie in solchen Fällen immer taten: sie bauten eine Kirche drum herum. So wurde der Kopf im Tal und der Körper auf dem Hügel beerdigt. Uns schlackerten nur so die Ohren.

»Aber für was soll denn das gut sein, wenn der Kopf und der Körper getrennt beerdigt werden?«, wollte ich wissen.

Francesca lächelte sybillinisch und zuckte mit den Schultern.

Der Katholik lächelt, und der Protestant kommt aus dem Staunen gar nicht mehr heraus!

*

Am Abend gab es Hühnchen mit Rosmarin und »Siska« – nein, ich sage nichts mehr –, jedenfalls machte ich danach einen weiten Bogen um das San Lorenzo. Danach smste ich noch mit meinen Kindern und ging früh zu Bett.

*

Der Donnerstag begann vertraut. Alles hatte endlich wieder seine gewohnte Form gefunden, alles wieder seine Ordnung. Es gab Milchkaffee, Hörnchen, Regierungskrise, Brangolina und die neuesten Kabbeleien aus Neapel.

Ja, so musste es sein, wie im Film »Und täglich grüßt das Murmeltier«. Der Titelsong »I’ve got you babe« wäre in Bezug auf die Camorra zwar etwas gewagt, aber durchaus treffend.

Franca hatte an diesem Morgen aber ganz andere Sorgen.

»Ist dir eigentlich dieses neue Restaurant aufgefallen?«, fragte sie mich, während sie das Geschirr abtrocknete.

»Welches Restaurant?«

»Das an der Piazza«, antwortete sie, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.

»Welches an der Piazza? Das San Lorenzo?«

»Nein, dieses ... chinesische ...«

»Ach, das ist neu?«

»Es hat letzte Woche eröffnet«, sagte sie in einem merkwürdig zerknirschten Tonfall und hielt mit dem Abtrocknen kurz inne.

»Und?« Ich hatte keine Ahnung auf was sie hinaus wollte.

»Für was brauchen wir denn in Italien chinesisches Essen!«, platzte es aus ihr heraus.

»Ich weiß nicht. Das hab ich mich auch schon gefragt ...«

Sie legte Besteck und Geschirrtuch beiseite und stemmte die Hände in die Hüften.

»Ist unsere Pasta etwa nicht mehr gut genug? Unsere Pizza? Unsere Bistecca? In der ganzen Welt schätzt man unser Essen.« Sie ruderte mit der Rechten in der Luft herum. »Für was braucht San Giovanni ein Chinarestaurant?«

»Hast du schon dort gegessen?«, fragte ich.

»Bist du verrückt? Glaubst du, ich will mich umbringen? Gestern bin an deren Küchenfenster vorbeigelaufen, du weißt schon, es führt hinaus zur Via Mazzini. Soll ich dir zeigen, wie ich vorbeigelaufen bin? – So!«

Sie hielt mit gespreizten Fingern ihre Nase zu und ging theatralisch mit riesengroßen Schritten um den Esstisch. »So bin ich vorbeigelaufen!«

Franca war wirklich ein vergeudetes Talent.

»Wer isst denn so etwas?«, nahm sie nach dieser beeindruckenden Einlage den Faden wieder auf. »Isst du etwa chinesisch?«

»Hier in Italien sicher nicht!«

»Na also! Das ist doch kein Essen für einen Europäer. Hunde, Katzen, was weiß ich was alles ... Gibt es in Deutschland etwa viele Chinesen?«

»Eigentlich schon ...«

»Ja, aber sicher nicht in einer Kleinstadt wie San Giovanni, oder? Ihr habt doch außerdem selber eine gute Küche?«

»Schon ... aber ...«

»Und dann habt ihr auch noch unsere Pizzerien. – Wie das schon roch! So bin ich vorbeigelaufen!«

Sie drehte noch einmal eine Ehrenrunde mit zugehaltener Nase, wobei sie diesmal noch mit dem rechten Arm flügelartige Bewegungen zu den großen, raumgreifenden Schritten vollzog.

Also das musste man ihr lassen: Mochten ihre Ansichten vielleicht provinziell erscheinen, deren künstlerische Darstellung hatte Weltniveau!

*

Ich machte mich auf den Schulweg. Trotz der unterhaltsamen Frühstückseinlage war ich unzufrieden. Ich operierte zuletzt recht unglücklich, und die erste Woche war fast schon vorbei, bald war Halbzeit, es musste endlich etwas Zählbares her!

Doch irgendein Liebesgott meinte es gut mit mir, und an diesem, meinem vierten Schultag, gab es eine ganze Reihe von bemerkenswerten Erfolgen. Es ging quasi Schlag auf Schlag:

Mein abstinenter Vorabend machte sich bezahlt. Ich war in Toppform, und vor der Pause schrieb ich einen Aufsatz, den Nicoletta so überschwänglich lobte, dass es mir vor den anderen Studenten fast schon ein wenig peinlich war. – Na also! Endlich punktete ich wieder.

Gegen Mittag kam Erica, die Bürokraft, ins Klassenzimmer.

»Am kommenden Sonntag findet eine Fahrt nach Orvieto statt«, verkündete sie mit Kugelschreiber in der einen und Klemmbrett samt Teilnehmerliste in der anderen Hand. »Die Reise wird im Zug stattfinden, und eure Begleitperson wird Nicoletta sein!«

Der letzte Halbsatz haute meinen Gefühlshaushalt derart durcheinander, dass ich Mühe hatte, die Contenance zu wahren und meine Teilnahme in einem einigermaßen gezügelten Tonfall zu vermelden.

In meinem Hirn liefen die Drähte heiß! Che bella sorpresa! Was für eine herrliche Überraschung! Einen ganzen Tag lang zusammen mit der Angebeteten! Auf eine solche Gelegenheit hatte ich gewartet. Jetzt ging das Spiel erst richtig los!

Sofort schossen mir allerlei taktische Varianten und Angriffsstrategien durch den kranken Kopf. Bisher war doch alles nur Geplänkel gewesen! Vorsichtiges Abtasten! Rasenschach! Nun aber konnte ich in die Tiefe gehen und mit klug getimten Pässen die Schnittstellen ihrer Abwehr entblößen. Ich würde kompakt stehen, über die Flügel angreifen, den Zweikampf suchen und war selbstverständlich bereit, auch dahin zu gehen, wo es weh tat! –

Was für ein doppeldeutiger Quatsch ist mir da völlig unbeabsichtigt aus der Feder, beziehungsweise in den Laptop geflossen. Tststs! Mit jedem Mal durchlesen erscheint mir das Geschriebene unanständiger. Egal! Honni soit qui mal y pense ... Jedenfalls würde das Spiel von jetzt an horizontal verlaufen ... nein, jetzt ist Schluss ...

Ich überschlug kurz: Orvieto, das waren mindestens zwei Stunden einfache Fahrt, das heißt vier Stunden insgesamt. Benissimo! Ich musste nur aufpassen, dass ich während der Fahrt neben ihr sitzen würde, dann hätte ich geschlagene vier Stunden Zeit, ihr das süße Gift meines Charmes aus nächster Nähe, quasi in Hochpotenz – ich bitte das um Himmelswillen nicht misszuverstehen – was ist nur plötzlich mit mir los? –, einzuflößen.

Ja, dieser Tag hatte wieder Glanz und Schliff. Blühende Felder allerorten, und wohin ich sah, winkte mir das Glück entgegen.

Бесплатный фрагмент закончился.

765,11 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
241 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9783862871209
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают