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Woher? Wohin?

Lyrische »Luftfracht«: Harald Hartungs anthologischer Versuch, das »Museum der modernen Poesie« fortzuführen

Zu den wenigen Gedichtbänden, deren Wirkung man epochal nennen darf, gehören neben denen, deren aufreizend neuer Ton zum Signal für einen ästhetischen Kurswechsel wurde – Walt Whitmans »Leaves of Grass« und Baudelaires »Les Fleurs du Mal« wären hier zu nennen –, auch einige, die einen solchen bilanzierten, Anthologien also. Die »Menschheitsdämmerung« etwa, mit der Kurt Pinthus 1920 den Expressionismus endgültig etablierte, war eine solche Anthologie, deren sogar den Zweiten Weltkrieg überdauernder Erfolg darauf beruhte, dass sie zugleich Bilanz- und Signalcharakter hatte.

Beides lässt sich auch dem kaum minder erfolgreichen »Museum der modernen Poesie« attestieren, mit dem Hans Magnus Enzensberger 1960 den so lange von der Entwicklung der modernen Weltliteratur abgeschnittenen Deutschen endlich die Portalfiguren der modernen Weltliteratur vorstellte, von Apollinaire bis Michaux und René Char, von Vicente Huidobro und Jorge de Lima bis zu Neruda und Vallejo, von Ezra Pound und T. S. Eliot bis zu Marianne Moore und E. E. Cummings, von Chlebnikow bis zu Mandelstam, von Dino Campana bis zu Ungaretti, von Fernando Pessoa bis zu František Halas und Nâzim Hikmet. Auch Enzensberger stillte nicht nur Hunger, sondern machte zugleich Appetit: Er bot einer heraufkommenden Dichtergeneration die dringend benötigten lyrischen Anregungs- und Nachahmungsmuster. Poesie, man kann es nicht oft genug wiederholen, entsteht auch durch Nachahmung, Poesie entsteht auch durch Poesie. »Erfinden heißt sich erinnern«, meinte Paul Valéry.

Dass solches Erinnern nicht zwangsläufig produktiv sein muss, sondern auch einige Findungen verhindern oder verformen kann, ist freilich genauso wahr. Wer jetzt Harald Hartungs Lyrikanthologie »Luftfracht« aufschlägt, die sich ausdrücklich als Erweiterungsbau zu Enzensbergers »Museum« versteht und das für die zweite Jahrhunderthälfte leisten will, was das »Museum« für die erste geleistet hat, wird feststellen können, wie beflügelnd oder wie hemmend jene Entdeckungen, die Enzensberger dort präsentierte, für die Nachgeborenen waren. Fast ausnahmslos alle rekurrieren zwar auf die revolutionären Errungenschaften der Moderne – die Muster schimmern fast immer durch –, aber was geleistet wird, sind fast durchweg nur noch lyrische Rückzugsgefechte. Offenbar weiß man, dass auch die literarische Revolution gern ihre Kinder frisst – oder aber, was aufs selbe hinausläuft, ins Museum befördert.

»Jede heutige Avantgarde ist Wiederholung, Betrug oder Selbstbetrug«, dekretierte Enzensberger in seinem Essay »Die Aporien der Avantgarde«. Hat das Wissen darum den Mann mit der phänomenalsten Witterung für alles Neue daran gehindert, selbst den Anbau zu seinem Museum zu errichten? Salopp gefragt: War ihm vielleicht zu wenig los in der Lyrik nach 1945, schien sie ihm, die eigenen lyrischen Bemühungen eingeschlossen, zu sehr Arrièregarde? Oder war ihm neun Jahre vor der Jahrhundertwende eingedenk Goethes Wort: »Innerhalb einer Epoche gibt es keinen Standpunkt, eine Epoche zu betrachten«, die lyrische Lage noch zu unübersichtlich?

Der 1932 geborene Harald Hartung hat literarisch und lebensgeschichtlich – er ist selbst Lyriker und Lyrik-Rezensent der »FAZ« – kaum mehr Distanz zur Epoche als Enzensberger. Wäre ein Anbau des Museums, wenn er denn schon so früh erfolgen musste, insofern nicht besser von jemand sehr Jungem und Rücksichtslosem besorgt worden, dem noch nichts heilig ist? Es war 1960 schließlich ein gerade Dreißigjähriger, der das »Museum der modernen Poesie« verantwortete! Andererseits: Hat Enzensberger, indem er Hartungs »Luftfracht« in die von ihm herausgegebene »Andere Bibliothek« aufnahm, dieses Unternehmen nicht quasi abgesegnet?

Mit Widersprüchen konfrontiert uns sofort auch Harald Hartung selbst, wenn er beklagt, dass für den Anthologisten heute »alles leichter – und schwerer zugleich« geworden sei: »Die Informationen quellen über, doch der Fundus ist nicht sicherer geworden; alles ist verfügbar, alles scheint möglich, aber was ist wirklich zwingend?« Tatsächlich befindet sich Hartung von vornherein in der Defensive – und paradoxerweise gerade deshalb, weil es nichts mehr zu verteidigen gibt. Enzensberger musste die moderne Poesie insgesamt gegen »reaktionäre Empörung«, gegen den Vorwurf der nihilistischen Zersetzung, der Entwurzelung, der Willkür und Unverständlichkeit in Schutz nehmen. Inzwischen hat sich die Moderne durchgesetzt, aber damit auch zum Teil um ihre Sprengkraft gebracht. Es ist heute tatsächlich alles möglich – und damit gleichzeitig eine wesentliche Wirkung nahezu unmöglich geworden.

Undenkbar, dass noch wochenlang empörte Leserbriefe gegen ein Gedicht geschrieben würden wie damals, Ende der fünfziger Jahre, nachdem die »FAZ« das Gedicht »eia wasser regnet schlaf« von Elisabeth Borchers abgedruckt hatte! Eher schon könnte sich wiederholen, was in den siebziger Jahren Rolf Dieter Brinkmann – einem von Hartungs Autoren – passierte, dem empörte Leser vorwarfen, seine Gedichte seien »viel zu verständlich«.

Womit Poesie heute am wahrscheinlichsten zu rechnen hat, ist ein gar nicht mehr kaschiertes Desinteresse. Die Auflagen der Lyrikbände – soweit sie überhaupt noch Verleger finden – sinken und sinken, und entsprechend sinkt auch das Interesse der Lyriker an öffentlicher Wirkung, sie sprechen jetzt zumeist nur noch vor sich hin oder in sich hinein oder bestenfalls zueinander. Die Metapher, zu der Hartung mit seinem Titel »Luftfracht« Zuflucht nahm, signalisiert bereits, dass es jetzt vor allem um den Austausch lyrischer Botschaften über große Entfernungen hinweg geht, um – so Hartung – eine »Verschwörung« zwischen Dichtern: »Du schickst mir deine Gedichte, / ich schick dir meine« (Robert Creeley).

Dass dies nicht nur metaphorisch gemeint ist, zeigen in Hartungs Anthologie schon die auffallend vielen an Dichter gerichteten Gedichte, die keineswegs nur Hartungs Vorliebe für literarische Anspielungen und Querverbindungen verraten, sondern Ausdruck einer Lage sind, in der die lyrischen Stimmen zu einer Art Flüsterchor unter Freunden – wirklichen und imaginären – geworden sind, die alle nur eines wirklich gemeinsam haben, dass nämlich ihre Kunstgläubigkeit nachhaltig erschüttert wurde.

Die Maxime, unter der die Väter und Großväter der modernen Poesie angetreten waren, stammte von Rimbaud und lautete: »Il faut étre absolument moderne!« Es war eine Maxime, die für vieles stehen konnte, ästhetischen wie zivilisatorischen wie politisch-ideologischen Anspruch, aber jedenfalls für einen Anspruch. Die Söhne und Enkel aber sahen sich genötigt, so anspruchslos wie nur möglich aufzutreten, sie verfügten über keine oder allenfalls eine negative Maxime, die besagte, es sei unmöglich, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben – oder barbarisch. Wer nach 1945 das alte Wagnis des Gedichts dennoch einging, musste mehr als virtuose Kunstfertigkeit vorweisen können, er stand mit jedem neuen Gedicht auch auf dem moralischen Prüfstand.

Doch ebendiese moralische Hypothek war es, die nun so viele Gedichte – und Dichter – erdrückte, ins Schweigen trieb – oder, schlimmer noch, ins Predigen. Das »Gefühl der Verantwortung für den Zustand des menschlichen Gewissens«, das der polnische Lyriker Zbigniew Herbert vom Dichter forderte – und Harald Hartung stützt diese Forderung ausdrücklich –, schlug sich künstlerisch allzu oft als ästhetisches Defizit nieder. Umgekehrt verdankten viele Gründerväter der modernen Poesie ihren ästhetischen Glanz auch der Bedenkenlosigkeit, mit der sie moralische Verantwortung von sich wiesen und sich etwa Ausflüge in die Politik leisteten, die zunächst nur eskapistisch wirkten, sich später jedoch als gemeingefährlich herausstellen sollten. Einige der Besten – Yeats, Eliot, Pound, Wyndham Lewis, Benn – sympathisierten mehr oder weniger offen mit dem Faschismus; andere – sie waren weit in der Mehrzahl – sangen jener sowjetstaatlich verordneten Utopie, die ihre Vernichtungstendenz von Anfang an nicht zu verbergen trachtete, Loblieder – so Aragon, Éluard, Brecht, Neruda, Alberti, Hikmet, Nezval, Quasimodo, Majakowski und noch etliche mehr.

Sicher, viele dieser Gründerväter witterten auch die heraufkommenden Katastrophen und warnten vor ihnen, aber viele zettelten sie gleichzeitig auch mit an – und, so muss man gerechterweise hinzufügen, fielen ihnen schließlich zum Opfer. So wurde Enzensbergers »Museum« auch zum Mausoleum für viele Vertriebene, Verschleppte, Verbannte, Gefangene, Gefolterte, Ermordete – und viele Selbstmörder. Noch in Hartungs Nachfolge-Anthologie, in der sich die Lebensläufe, so meint man, doch friedlicher lesen müssten, gibt es allzu viele Opfer, angefangen von Spätopfern wie Primo Levi und Paul Celan über den in griechischen Lagern geschundenen Jannis Ritsos bis zu den Dissidenten aus den diversen kommunistischen Ländern – wie Brodsky, Zbigniew Herbert, Adam Zagajewski, Györgi Petri, Jiři Gruša, Mircea Dinescu, Heberto Padilla (Kuba) oder Bei Dao und Gu Cheng (VR China).

Erstaunlich bleibt, dass nach 1945 überhaupt noch so viele Nachgeborene – mit Brechts berühmtem Gedicht »An die Nachgeborenen« schloss Enzensberger sein »Museum« – die längst zu Albträumen gewordenen Träume der Gründerväter weiterträumten, dass so viele noch eine gesellschaftlich »eingreifende Poesie« propagierten und – der Schreibende zählt sich ausdrücklich dazu – mit Brecht glaubten, dass »ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen« sei. Hatte nicht gerade Enzensberger selbst, lange bevor er die »Helden des Rückzugs« entdeckte (und in der »FAZ« pries), in allzu forschen Vorwärtsstrategien gedacht und Alternativen ausgerufen, deren revolutionärer Anstrich – wie etwa in Enzensbergers Pilgerziel Kuba – ein Rot aufwies, das auch aus Blut gewonnen war?

Harald Hartung scheint das dichterische »Gespräch mit Bäumen« bis heute noch nicht so recht geheuer, jedenfalls findet das ausgesprochene Naturgedicht kaum Gnade vor seinen Augen (oder nur wenn es aus dem angelsächsischen Raum kommt), und er sperrt allen Ernstes so originäre Naturlyriker wie etwa Peter Huchel und Jan Skácel aus seiner Anthologie aus! Dabei hätte er jenen der von ihm abgedruckten Pisaner Cantos, in dem Ezra Pound verkündet: »Lerne von grüner Welt erkennen, wo dein wahres Maß!«, geradezu als Auftakt zu einer Folge »grüner Gedichte« nehmen können, die unsere Welt im Sinne Pounds vermessen. Da Hartung aber biografische Querverbindungen offenbar wichtiger scheinen als motivische, lässt er Pounds Gedichte lieber ein diesem gewidmetes von James Laughlin folgen.

Der Herausgeber scheint immer noch ziemlich fixiert zu sein auf Geschichte und benutzt leider entgegen seiner eigenen Absichtserklärung Gedichte oft lediglich als Belegstücke für historische Vorgänge, er bebildert Geschichte mit Gedichten. Nicht von ungefähr hat er seine Anthologie nach Jahrzehnten unterteilt – im Gegensatz zu Enzensberger, der wohl wusste, dass Poesie nicht nach solchen zu messen ist, und der deshalb sein »Museum« nach Motiven und Themen ordnete.

Das Ergebnis bei Hartung sieht so aus, dass etwa Celans »Todesfuge«, von der er doch wissen musste, dass ihr Dichter sie am liebsten ungeschrieben gemacht hätte, zum platten Belegstück für die Existenz von Auschwitz degradiert wird. Oder dass, um »das Utopie-Verlangen« der frühen DDR-Lyrik zu dokumentieren, ein eher belangloses Ikarus-Gedicht von Günter Kunert vorgestellt wird. Und weil auch der Vietnam-Krieg nicht unterschlagen werden darf, muss Erich Fried herhalten, der zwar viel bloß Gutgemeintes geschrieben hat, aber doch auch einiges Bessere als gerade dieses Vietnam-Gedicht. Schließlich fühlt sich Hartung sogar noch bemüßigt, den gerade erst erfolgten Zusammenbruch des DDR-Regimes lyrisch zu belegen, und dazu gibt es prompt ein Gedicht von Heiner Müller, der aber als Lyriker – nur als Lyriker? – doch bestenfalls Brecht-Epigone ist.

»Man muß über ewige Dinge schreiben, um immer aktuell zu sein«, konstatierte Simone Weil. Obwohl die beiden in West wie Ost wohl aktuellsten gesellschaftlichen Tendenzen – oder besser: Bedürfnisse – durchaus ewigen Dingen gelten, nämlich der Natur (ihrer Erhaltung) sowie dem Übernatürlichen (dem Verlangen nach Erlösung, nach metaphysischem Trost), fehlen gerade jene im Sinne Simone Weils aktuellen Dichter in Hartungs Anthologie auffallend. Oder aber sie werden wie etwa Robert Lowell oder Joseph Brodsky (den doch seine »Große Elegie an John Donne«, den größten der englischen metaphysical poets, erst berühmt machte und den nach eigenem Bekunden an den von ihm verehrten Autoren vorrangig ihr »metaphysisches Bedürfnis« anzieht) nicht entsprechend repräsentiert. In seiner Abneigung gegen die metaphysical poets unserer Tage weiß sich Hartung allerdings mit Enzensberger einig, der sein »Museum« überhaupt allen großen christlichen Dichtern von Claudel, Péguy, Jammes, Pierre Jean Jouve und Pierre Emmanuel bis zu David Jones, Jesse Thoor oder Konrad Weiß verschlossen hielt. Hartung aber opfert vermeintlicher Aufgeklärtheit so bedeutende Dichter wie Czesław Miłosz, János Pilinszky, Ernst Meister und sogar Christine Lavant, für die zuletzt immerhin noch Thomas Bernhard mit einer Auswahl ihrer Gedichte warb.

Vor so unerbittlichen Versen, wie sie aus dieser ans Kreuz ihrer Krankheiten geschlagenen Mystikerin aus Kärnten herausbrachen, müsste sich ein Großteil der von Harald Hartung per Luftfracht beförderten Poesie sozusagen anstandshalber in Luft auflösen. Nun hat aber ein gewisser Andreas Thalmayr, dessen Handschrift leicht als die Hans Magnus Enzensbergers zu identifizieren war, im Vorwort zu seiner ebenfalls in der »Anderen Bibliothek« erschienenen Anthologie »Das Wasserzeichen der Poesie« kürzlich seine Unlust an schwierigen und schmerzenden Gedichten bekundet und sich künftig so recht vergnügliche Lyrik gewünscht – »wir gäben uns schon mit einem Gedichtbuch zufrieden, das uns unterhielte, statt uns zu quälen« –, und diesem Wunsch eines übersättigten Lyrikprofis wollte und konnte Harald Hartung sich anscheinend nicht ganz verschließen. Jedenfalls hat er in seine »Luftfracht« viel zu wenig quälende, dafür aber umso mehr unterhaltende Gedichte aufgenommen, leichte Nichtigkeiten – möglichst made in USA.

Damit kein Missverständnis entsteht; hier soll nicht jener höheren und höchsten Leichtigkeit, die es nicht nur in Mozarts Musik, sondern eben auch in gewissen Gedichten von Goethe bis William Carlos Williams zu bestaunen gibt, Anthologierecht bestritten werden. Es wird ja stets ein Ziel der Poesie bleiben, Mühsal und Schmerz in reine Seligkeit zu verwandeln. Doch diese ist nicht unter Preis zu haben: Größte Lebenserfahrung und höchste Artistik müssen zusammenkommen. Was etwa bei einem Jim Jarmusch, von dem Hartung gleich zwei Gedichtchen anführt, sicher nicht der Fall ist. Jarmusch schuf bezaubernde Filme, gewiss, als Gelegenheitsdichter aber ist er Durchschnitt; wenn schon Jarmusch, so muss sich Hartung fragen lassen, warum dann nicht auch und erst recht Bob Dylan, Patti Smith, Bulat Okudschawa oder Georges Brassens? (Enzensberger hat es ja auch nicht verschmäht, etwa Prévert oder Ringelnatz in sein »Museum« aufzunehmen.)

Enzensbergers »Museum« enthielt dreihundertzweiundfünfzig Gedichte von sechsundneunzig Lyrikern aus zweiundzwanzig Ländern. Hartungs »Luftfracht« befördert zweihundertsiebenundvierzig Gedichte von hundertneunundzwanzig Lyrikern aus dreißig Ländern (oder sind es inzwischen, wo Reiche wie rasend zerfallen, schon wieder mehr?), von denen freilich ein Großteil bereits bei Enzensberger vertreten waren. Hartung nahm auch Dichter aus Afrika und Asien, einen (von Brodsky nachhaltig empfohlenen) Dichter aus der Karibik, Derek Walcott, und sogar einen neuseeländischen Maori, seines Zeichens Kesselschmied, in seine Sammlung auf, während Enzensberger sein »Museum« nur Europäern und Amerikanern reservierte, er hätte anders seine These von der »Weltsprache der modernen Poesie« kaum aufrechterhalten können. In Wahrheit gab es eine solche Weltsprache nie, auch wenn Hartung sie jetzt noch einmal für seine Auswahl reklamiert.

Schon Enzensberger konnte sie nur behaupten, weil er kurzerhand über alle Arten von Abweichlern Ausstellungsverbot verhängte; so fehlen in seinem »Museum« allein aus dem deutschen Sprachraum etwa Hofmannsthal, Stefan George, Rudolf Borchardt, Robert Walser, Oskar Loerke, Gertrud Kolmar oder Konrad Weiß, deren Werk sich zum Teil als wesentlich haltbarer erwiesen hat als etwa das der expressionistischen Riege, die Enzensberger noch komplett aufmarschieren ließ, von Lichtenstein und van Hoddis über Georg Heym und Ernst Stadler bis zu Else Lasker-Schüler. Und es fehlt in diesem »Museum« – um nur noch diesen einen zu nennen, in dem T. S. Eliot geradezu »das Symbol des Dichters der ersten Jahrhunderthälfte« sah – sogar Paul Valéry.

»Das beste Werk wahrt sein Geheimnis am längsten, lange ahnt man nicht einmal, daß es ein Geheimnis hat«, schrieb Paul Valéry. Und Ludwig Wittgenstein notierte: »Wer seiner Zeit voraus ist, den holt sie einmal ein.« Wer zu früh kommt als Anthologist, den bestraft die Literatur. Selbst ein Rudolf Borchardt, dessen »Ewiger Vorrat deutscher Poesie« immer noch die anregendste deutsche Anthologie darstellt, hatte 1926 offenbar noch zu wenig Distanz zur Jahrhundertwende – und so passierte es ihm, dass er seine Sammlung ausgerechnet mit einem von heute aus gesehen völlig belanglosen Sonett von Rudolf Alexander Schröder beschloss. Nun darf man Harald Hartung sicher nicht Borchardts Ehrgeiz nach »Ewigem« unterstellen, er erhebt ausdrücklich »nicht den Anspruch, die schönsten oder bloß die wichtigsten Gedichte der Weltlyrik der letzten fünfzig Jahre zu präsentieren«, ihm geht es eher um Trends und um ein eingestandenermaßen subjektiv gesehenes »Netz der Bezüge«.

Doch dabei ebnet er die ohnehin schon recht flache und abgeräumte Lyriklandschaft eher noch weiter ein – statt den Blick auf die wenigen Erhebungen und Gipfel zu lenken. Die wirklich essenziellen Erfahrungen, die dieses Jahrhundert der Menschheit und auch deren dichtendem Teil auferlegte, wurden nicht in den letzten vierzig Jahren, sondern davor gemacht, und das Gros der seither geschaffenen Gedichte bringt es eben nur zur Widerspiegelung dieser unserer aussichts- und anspruchslosen Lage, aber nicht zu einem Gegenbild.

Hätte Hartung versucht, dem einzelnen Werk der Dichter gerecht zu werden, statt lediglich Zusammenhänge aufzuzeigen, hätte er sich bald dazu gezwungen gesehen, sich auf jene wenigen Dichter zu konzentrieren, denen noch ein solches Gegenbild gelang. Und es wäre dann unmöglich eingetreten, was jetzt der Fall ist, dass nämlich »Luftfracht«, um nur ein einziges Beispiel anzuführen, nur drei Gedichte von Paul Celan – obendrein nicht seine stärksten oder charakteristischsten –, aber ganze drei Gedichte von Heberto Padilla enthält. Das ist, als hätte jemand drei Hölderlin-Gedichten drei Gedichte von Herwegh oder Freiligrath konfrontiert: Die Proportionen stimmen nicht.

Es soll dem Herausgeber hier beileibe nicht Kennerschaft bestritten werden, von ihr zeugen schon seine biografisch-poetologischen Anmerkungen zu den einzelnen Autoren. Auch Entdeckungen, durch die sich der echte Anthologist ausweist, hat Hartung vorzuweisen, so etwa den 1957 verstorbenen Elsässer Jean-Paul de Dadelsen (dem der Lyriker Hartung schon einmal ein Gedicht widmete). Dass allerdings in Spanien, das doch die erste Jahrhunderthälfte poetisch so enorm bereichert hat, nur noch ein einziger Dichter zu entdecken gewesen sein soll, will nicht recht einleuchten.

Das grundsätzliche Dilemma, dessen Ausdruck diese Anthologie ist, hat weniger Harald Hartung zu verantworten als dieses verendende Jahrhundert, das – ähnlich wie das ausgehende neunzehnten Jahrhundert mit seiner blässlichen Postromantik – einer Postmoderne verfallen ist, deren Aufgeregtheit nur schlecht ihre totale Erschöpfung zu verbergen vermag. Insofern wäre es zu diesem frühen – zu frühen – Zeitpunkt sicher sinnvoller gewesen, einen Anbau des »Museums der modernen Poesie« jenen zu reservieren, die Enzensberger seinerzeit entweder nicht in sein poetisches Weltsprachenkonzept passten oder die selbst ihm, dem kolossalen Kenner, noch unbekannt geblieben waren – etwa jene Pioniere der modernen Poesie, die Manfred Peter Hein im ostskandinavischen und osteuropäischen Raum aufgespürt und jetzt in seiner rundum spannenden Anthologie »Auf der Karte Europas ein Fleck« (im Schweizer Ammann-Verlag) vorgestellt hat. Also Ergänzung des Museums statt Versuch seiner Fortsetzung.

Erstdruck in: DIE ZEIT, 11. 10. 1991.

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