Читать книгу: «Zorn und Zärtlichkeit», страница 2

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»Wo willst du dabei sein?« Erika schüttelte den Kopf. In acht Jahren – wer dachte denn schon so weit voraus? Dann waren sie beide einundzwanzig, also erwachsen. Stinus hatte dann sicher schon einen Beruf, und sie war bei irgendeiner Bauernfamilie in Stellung, den Haushalt führen und lernen für ihr künftiges Leben als Hausfrau und Mutter. Erika schauderte bei diesem Gedanken. Wenn man Pech hatte, dann waren diese Jahre beim Bauern eine einzige Tortur, das erzählten sich die älteren Mädchen im Dorf. Sieben Tage die Woche schuften, frei nur zur Kirche und über Weihnachten, und wenn der Bauer zudringlich wurde, durfte man noch nicht einmal den Mund aufmachen. Kein Wunder, dass viele Mädchen heirateten, sobald sich jemand fand, irgendwer, nur um dieser Schinderei zu entkommen! Nein, so weit mochte Erika nicht denken, noch nicht. An die Zukunft denken, das sollten ruhig die Jungs tun, die hatten davon sowieso mehr zu erwarten.

»Na, wo will ich dann wohl sein? Bei den Olympischen Spielen!« Stinus warf sich in die magere Brust, was unter seinem weiten Jungvolk-Hemd nur zu erahnen war. »Turner oder Leichtathlet, kommt drauf an, wie viel ich wachse, sagt Herr Köster. Können tu ich beides! Bin ein richtiges Bewegungstalent.«

Sportler bei Olympia! Das war so vermessen, dass Erika nicht einmal darüber lachen konnte. Und verglichen mit dem, was ihr selbst bevorstand, fand sie Stinus’ Hirngespinste sogar zum Heulen. »Wo sind denn die Spiele in acht Jahren überhaupt?«, fragte sie, um überhaupt etwas zu sagen.

Der kleine Pimpf zuckte die Achseln. »Was weiß ich? Irgendwo halt. Wenn Deutschland bis dahin die Welt beherrscht, wie der Führer sagt, dann bestimmt wieder in Berlin. Wenn’s damit länger dauert, dann eben woanders. Ich schaffe es überall!«

Und ehe Erika noch etwas erwidern konnte, hatte Stinus seine Hände an ihre Wangen gelegt, sich auf die Zehenspitzen gestellt und ihr einen Kuss aufgedrückt. Auf den Mund! Erika stand starr vor Ekel und Entsetzen, während der kleine Pimpf lachend über die Ackerfurchen zu seinem Fahrrad rannte. Auch Oma lachte. Sie stand zwar weit entfernt, denn sie hatte sich inzwischen einen großen Vorsprung beim Jäten erarbeitet, aber den entscheidenden Augenblick hatte sie nicht verpasst. Schelmisch drohte sie mit dem Zeigefinger.

Erika machte sich wieder an die Arbeit. In ihren Wangen pochte die Schamesröte. Mit jedem Rupfer aber ließ das Gefühl des Ekels nach. Immerhin, sie hatte ihren ersten Kuss bekommen. Zwar von Stinus, diesem Dreikäsehoch, dem sie das von allen ihren Klassenkameraden am wenigsten zugetraut hätte. Aber – wenn schon!

Und je länger sie darüber nachdachte, desto interessanter kamen ihr die Möglichkeiten vor, die sich daraus ergeben mochten.

Leise summend, begann sie den Vorsprung ihrer Oma aufzuholen, rhythmisch und gleichmäßig arbeitend wie eine Maschine. Erst nach einiger Zeit wurde ihr bewusst, was sie da summte: Die Gedanken sind frei.

3.

»In diesem Sinne – nochmals alles Gute!« Wieder war eine Ansprache zu Ende, wieder wurden die Gläser erhoben, wurde vielmundig am Orangensaft oder am alkoholfreien Schaumwein genippt. Die Zeiten, als zu Verabschiedungen und anderen Feierlichkeiten in Polizeidienststellen noch Bier und Sekt in Strömen flossen, waren längst vorbei, und mit der verordneten Nüchternheit nahm man es in Leer äußerst genau. Lag es daran, dass ihm die ach so launigen Reden der Führungskräfte von Mal zu Mal banaler vorkamen? Hauptkommissar Stahnke sinnierte in seine Champagnerflöte hinein, ohne sich von der schalen, kaum noch prickelnden Flüssigkeit darin eine Antwort zu erhoffen.

Dabei lag diese Antwort doch so nahe. Genau genommen lag sie nicht, sie stand – aber auf jeden Fall nahe. Zu nahe. Und wie es aussah, würde das auch so bleiben.

Jetzt war Manninga an der Reihe; als guter Gastgeber hatte er hochrangigen Vertretern über- und nebengeordneter Dienststellen den Vortritt gelassen. »Eigentlich war ich ja davon ausgegangen, dass mein eigener Abschied der nächste sein würde, den wir hier feiern«, sagte der breit und schwer gebaute, väterlich wirkende Polizeidirektor. »Aber du, mein lieber Gerd, konntest ja wieder mal nicht abwarten.«

Stahnke fand den Spruch des Inspektionsleiters reichlich unsensibel, immerhin ließ sich Gerd Plöger ja beileibe nicht deshalb vorzeitig pensionieren, weil er gewollt hätte, sondern weil es nicht anders ging. Der scheidende Leiter des Zentralen Kriminaldienstes war krank, schwer krank. Man sah es ihm nicht an; Plöger sah aus wie das blühende Leben, war schlank, meist tief gebräunt und immer gut gelaunt. Aber seine Lunge funktionierte einfach nicht mehr richtig, schon seit Jahren, und so hatten seine Kräfte immer mehr nachgelassen. Erst konnte er keine Treppen mehr steigen, dann nicht einmal drei Zimmer weit über den Flur gehen, ohne sich zwischendurch abzustützen und zu verschnaufen. Zuletzt waren seine krankheitsbedingten Fehlzeiten so lang geworden, dass er beruflich kaum noch in Erscheinung trat. Der Abschied war die unvermeidliche Konsequenz.

Er war mein direkter Vorgesetzter, rief sich der Hauptkommissar in Erinnerung. Praktisch hatte er gar keinen gehabt, jedenfalls keinen wahrnehmbaren, einmal abgesehen von Manninga, der gelegentlich selbst in die Bresche gesprungen war, wenn Stahnke als Leiter des Fachkommissariats I wieder einmal zu selbstherrlich agiert hatte. Stahnke selbst hatte sein Kollege und engster Mitarbeiter Kramer als Korrektiv stets vollkommen ausgereicht. Aber Kramer, sosehr er ihn auch schätzte, war eben sein Untergebener, zwar eine wichtige Instanz, aber nicht weisungsbefugt. So war Stahnke all die Jahre sein eigener Herr gewesen.

Damit war es jetzt vorbei. Jetzt hatte er wieder einen direkten Vorgesetzten, einen aktiven, dienstfähigen. Dort stand er, klein und hager, das Saftglas zwischen den nikotingelben Fingern, einen misstrauischen Ausdruck auf seinem grauen Gesicht. Unruhig zuckte sein Blick durch den Raum und zwischen seinen künftigen Kollegen hin und her, von denen sich ihm noch keiner genähert hatte – außer Manninga, der ihm gerade betont herzlich die Hand entgegenstreckte. Anscheinend hatte er Gerd Plögers Verabschiedung inzwischen beendet und war zur Begrüßung seines Nachfolgers übergegangen, ohne dass Stahnke seit der Einleitung auch nur ein Wort mitbekommen hätte.

Dedo de Beers rechte Hand zuckte vor, ehe sich ihr Besitzer an das Saftglas darin erinnerte; gelber Saft schwappte über den Rand und suppte über gelbe Finger. Schnell wechselte der frisch ernannte Kriminalrat das Glas in die Linke, streckte die Rechte aus, bemerkte gerade noch rechtzeitig, wie nass und klebrig sie war, und wollte rasch nach seinem Taschentuch angeln, was aber nicht ging, da Klebesaft und Glas nun seine beiden Hände blockierten. Hilflos und bedeppert stand de Beer da, während die tief eingekerbten Falten zwischen Nasenflügeln und Mundwinkel, die seine ungewöhnlich hohe Oberlippe vom Rest des Gesichts abteilten, immer noch tiefer wurden und seine künftigen Untergebenen sich das Lachen nur mühsam verkneifen konnten.

Der alte Manninga war es schließlich, der die Situation entschärfte, indem er de Beer sein eigenes, noch sauber gefaltetes Taschentuch reichte und ihn mit derselben unauffälligen Handbewegung von seinem Glas befreite, während er gleichzeitig seine Begrüßungsansprache mit ein paar seichten, aber verbindlich klingenden Floskeln zum Abschluss brachte. Endlich konnte er doch noch seinen gefürchteten Händedruck anbringen. Stahnke sah deutlich, wie de Beers schmale Rechte in Manningas Pranke verschwand, die grauen Gesichtszüge des Kriminalrats schmerzhaft zuckten und er seine farblosen Augen zwischen zusammengekniffenen Lidern in Deckung brachte. Während der Inspektionsleiter seinen Arm bearbeitete, als wäre er der Schwengel einer Regenwasserpumpe, zuckte de Beers Blick zu Stahnke hinüber. Der schrak zurück wie vor einer Geschossgarbe; blanker Hass flammte ihm da entgegen. Für seinen missglückten Start in neuer Position schien der neue Kriminaldienstleiter ihn ganz allein verantwortlich zu machen.

Der Moment war kurz, und er ging vorbei. Schon war de Beer von seinen neuen Mitarbeitern umringt und in kollegiale Gespräche verwickelt. Nur Stahnke stand da wie festgewachsen. Die schlimmen Befürchtungen, mit denen er diesem Tag, dieser Stunde entgegengesehen hatte, waren klar übertroffen worden.

Der Hauptkommissar sah sich unauffällig nach Kramer um, entdeckte ihn inmitten der Traube, die sich um de Beer geballt hatte. »Judas«, knurrte Stahnke leise.

Eine breite Silhouette schob sich in sein Gesichtsfeld und füllte es aus. »Na, amüsieren wir uns denn auch?«, fragte Manninga und schaute Stahnke forschend an, die Stirn in wulstige Dackelfalten gelegt.

Der Hauptkommissar hob anerkennend die Augenbrauen und deutete eine Verbeugung an. »Pluralis majestatis, schau an, schau an. Da ist mir wohl eine kürzliche Beförderung Eurer Person entgangen, Hoheit. Aber wenn Eure Hoheit selbst nicht wissen, ob Hoheit sich amüsieren, wer dann?« Sein Verhältnis zu seinem Inspektionsleiter hatte sich in den letzten Jahren mehr und mehr entspannt, sicherlich auch angesichts der Annahme, Manninga werde in absehbarer Zeit ohnehin in den Vorruhestand gehen. Inzwischen aber wurde gemunkelt, Manningas Jüngster hätte erneut ein Studium abgebrochen und benötige noch auf Jahre hinaus finanzielle Unterstützung, weshalb sich der Kriminaldirektor das Pensionärsdasein noch gar nicht leisten könne. Infolge dessen war das vertraute Du, das längst fällig gewesen wäre, noch nicht erklärt worden, während das Sie, das einfach nicht mehr angemessen erschien, nach Kräften vermieden wurde. Ein merkwürdiger Eiertanz, den beide widerwillig tanzten, weil keiner ihn beenden mochte.

»So eine Beförderung hätten bestimmte Leute hier auch haben können«, erwiderte Manninga ungerührt. »Schon vergessen? Der neue Vizekönig und Herrscher des Zentralen Kriminaldienstes hätte nicht unbedingt de Beer heißen müssen. Aber gewisse Anwesende mussten ja unbedingt den Steert einkneifen.« Er drosch Stahnke kameradschaftlich auf den Rücken, dass es dröhnte und schmälere Gestalten als der massige Hauptkommissar unter der Wucht dieses Hiebes eingeknickt wären. Dann überließ er ihn seinen grüblerischen Gedanken.

Er hat ja recht, dachte Stahnke, der das Brennen oberhalb seines rechten Schulterblatts viel leichter ignorieren konnte als den nagenden Schmerz in seinem Inneren. Das Angebot war ja dagewesen. Lag praktisch vor mir auf dem Tisch, dachte er. Hätte nur zugreifen müssen. Habe ich aber nicht gemacht. Und jetzt habe ich den Salat.

Inzwischen war ihm auch klar geworden, warum er die verlockende Offerte zurückgewiesen hatte. Aus Angst vor zu viel Verantwortung nämlich. Und weil er sich an den Zustand der zumeist abwesenden übergeordneten Hierarchie-Ebene gewöhnt hatte. War ja auch unglaublich bequem gewesen, meist tun und lassen zu können, was ihm beliebte, und sich nur ausnahmsweise rechtfertigen zu müssen, solange die Resultate nur stimmten. Was bei Stahnke zumeist der Fall war – nicht zuletzt dank eines Oberkommissars Kramer, der korrekt, gründlich und selbstlos die gelegentlichen Schnitzer seines Vorgesetzten auszubügeln pflegte.

Ja, das war es wohl: dass er ein bequemes Machtvakuum einfach als gegeben und dauerhaft hingenommen hatte. Ein Vakuum jedoch übte stets einen großen Sog aus, neigte einfach dazu, gefüllt zu werden. Und ein Machtvakuum lockte unweigerlich diejenigen an, die auf Macht geil waren. Wie zum Beispiel einen Dedo de Beer. Ihn draußen zu halten, wäre einfach gewesen; Stahnke hätte das Vakuum nur selbst zu füllen brauchen. Das aber hatte er unterlassen, und jetzt war es zu spät.

Wieder peilte de Beer zu Stahnke herüber, das Gesicht grau wie eine Bunkerwand, die Augen schmal wie Schießscharten. Sie beide verband eine jahrelange, gut gepflegte Feindschaft. Als de Beer noch FK-Leiter in Wittmund gewesen war und die Insel Langeoog zu seinem Beritt gehört hatte, war Stahnke ihm mehr als einmal in die Quere gekommen. Die Konflikte, die sich daraus ergeben hatten, waren nicht mehr als lästig gewesen, hatten dem Leeraner zuweilen sogar Spaß gemacht – solange sie beide dienstgradmäßig gleichgestellt waren und ihre getrennten Rückzugsbereiche hatten. Damit aber war es jetzt vorbei.

Rache, dachte Stahnke, ist etwas für kleine Geister. Und damit genau passend für Dedo de Beer. Besser, ich richte mich gleich darauf ein.

Kramer stand immer noch in der Gruppe rund um den neuen Kriminalrat, aber etwas hatte sich verändert. Die hagere Gestalt des Oberkommissars hatte alle Lockerheit verloren, war plötzlich gerade und gespannt wie eine Bogensehne. Jetzt machte Kramer eine Vierteldrehung, und Stahnke konnte sehen, dass er sein Handy am linken Ohr hatte. Bestimmt etwas Dienstliches, und keine Routine.

Kramer beendete das Gespräch, und Stahnke wollte sich schon in Bewegung setzen, als er sah, dass de Beer seinen Kollegen am Arm griff und ihn ansprach. Knapp, präzise und unhörbar forschte er ihn aus, erteilte dann seine Anweisungen. Kramers Blick irrte noch einmal zu Stahnke herüber, die schmalen Schultern zuckten, dann verließ der Oberkommissar den Raum, gefolgt von einigen Kollegen des Kriminaltechnischen Dienstes. Stahnke wollte ihnen nach, zögerte aber eine Sekunde zu lange, denn auf einmal stand Gerd Plöger vor ihm, um sich zu verabschieden. Der Hauptkommissar wechselte ein paar Sätze mit ihm, das war er ihm schuldig. Danach waren Kramer und die anderen verschwunden.

Der Rachefeldzug hat schon begonnen, dachte er. Aber warte nur, Dedo, du graue Eminenz. Dies hier ist mein Territorium. Das wirst du schon noch merken.

Das Handy in Stahnkes Hosentasche kitzelte am Oberschenkel. Kramer hatte eine SMS geschickt, wie erwartet. Gespannt und verstohlen rief der Hauptkommissar den Text auf.

4.

Regen prasselte an die Fenster, der Wind pfiff um die Ecken. Typisch, dachte Erika, immer, wenn ich Geburtstag habe, geht der Sommer zu Ende und das Wetter wird schlechter. Wenn andere Kinder Geburtstag hatten, konnten sie mit ihren Freunden im Garten spielen und draußen Kuchen essen und Saft trinken. Oder sie feierten, wie Stinus, im tiefsten Winter, dann konnten sie immerhin Schlitten fahren oder auf den zugefrorenen Kanälen schöfeln, meistens jedenfalls. Mitte September aber war einfach nur Schietwetter, da ging weder das eine noch das andere.

Wenigstens war es in Omas Küche warm und gemütlich. Das Torffeuer im Stangenherd verbreitete seinen typischen Geruch, und der große Kessel mit den Einmachgläsern bullerte vor sich hin. Manchmal begann es darin zu scheppern, dann eilte Oma hin und rückte den Kessel ein wenig mehr zum Rand der Ofenplatte, damit die Gläser mit den Pflaumen, Gurken oder Bohnen keine Sprünge bekamen. »Glaub mir man, das Einkochen ist eine Wissenschaft für sich«, sagte Oma dann und zwinkerte Erika zu.

Erika zwinkerte ebenso fröhlich zurück. Sie liebte ihre Oma, und sie liebte auch die feuchtwarme Küche mit ihrem Torfgeruch, den wackligen Stühlen mit ihren ausladenden, abgegriffenen Armlehnen und den durchgesessenen, buckligen Polstern, dem groben Spülstein mit den beiden großen kupfernen Schwengelpumpen, von denen eine schon ewig kaputt war, der trüben Lampe mit dem gelben Schirm, den grobmaschigen Gardinen und den kleinen Fensterscheiben, an denen jetzt das Wasser herunterlief. Sogar der klebrige Fliegenfänger, vom Sommer noch voller winziger Leichen, schreckte sie hier nicht, sondern gehörte eben dazu. Ja, sie war gerne hier, viel lieber als zu Hause. Erika bekam einen Schreck, als ihr das klar wurde, schließlich hatte sie gelernt, dass der liebe Gott alles sah und alles wusste, und so etwas zu denken, gehörte sich bestimmt nicht. Aber es war die Wahrheit, und wenn Gott so weise war, wie der Pastor im Religionsunterricht immer sagte, dann wusste er das auch.

War es wegen ihres Vaters? Der hatte sich so verändert in letzter Zeit. Zwar war er nur noch selten zu Hause, aber wenn, dann hatte Erika regelrecht Angst vor ihm. Vor allem, wenn er am späten Abend aus der Kneipe wiederkam. Einmal war sie aus dem Bett geklettert, um ihn freudig zu begrüßen, da hatte er sie verdroschen. Nicht nur so ein paar Klapse auf den Po, das war ja normal, sondern richtig schlimm, so dass Erika vor lauter Schluchzen kaum noch Luft kriegen konnte. Dazu hatte Vater furchtbar geschimpft und gedroht, er werde ihr schon noch Benehmen beibringen, Gehorsam und Disziplin, wie sich das für ein deutsches Mädel gehörte. Mitten im Schimpfen hatte er laut gerülpst und dabei nach Schnaps und Mettwurst gerochen, und fast hätte Erika gelacht, nur hatte sie dazu nicht genügend Luft bekommen. Später wurde ihr klar, dass das wohl ihr Glück gewesen war.

Aber es lag nicht nur an Vater allein. Auch Mama war jetzt anders. Sie lachte kaum noch, schaute niemanden mehr richtig an, war ganz verschlossen und verhuscht. Meist ging sie gebückt, als ob ihr eine schwere Last die Schultern nach vorne drückte, dabei war sie doch noch ziemlich jung, und wenn man sie etwas fragte, dann zuckte sie zusammen, selbst wenn es nur um ganz harmlose Sachen ging. Dabei hatte es kaum Zweck, sie irgendwas zu fragen, denn meistens machte sie nur »Scht!« und wedelte mit den Händen wie ein lahmes Huhn mit den Flügeln. Je lauter ihr Vater wurde, desto leiser wurde ihre Mutter, fiel Erika plötzlich auf. Ob das etwas miteinander zu tun hatte?

Sie trat ans Fenster, hob die Gardine und wischte mit der Hand über die feuchte Scheibe. Draußen dämmerte es schon, und durch das unebene, verschmierte Glas war kaum etwas zu erkennen. Jedenfalls keine Bewegung. Wenn er nicht bald kam, dann wurde das heute wohl nichts mehr, denn wenn es erst richtig dunkel war, ließ seine Mutter ihn bestimmt nicht mehr auf die Straße, und bis nach Neu-Jemgum schon gar nicht.

»Na, hältst du schon wieder nach ihm Ausschau?« Auf einmal stand Oma hinter ihr. In ihren ausgetretenen Hausschuhen konnte sie sich fast lautlos bewegen. Zärtlich strich sie ihr mit ihren dicken, harten Fingern durchs Haar.

»Ach, Oma!« Erika drehte sich ärgerlich weg. »Was du immer redest! Jungs sind doch doof. Und der ganz besonders.«

Omas Grinsen verstärkte sich noch. »Aha, der besonders, was? Glaub mir, so fängt das immer an.« Ein leichter Klaps auf Erikas Rücken, dann ging sie wieder an die Arbeit.

Erika schnaufte vor Empörung. Was dachte Oma eigentlich von ihr? Sie war doch erst dreizehn – na gut, schon fast vierzehn, in einer Woche hatte sie ja Geburtstag. Aber trotzdem, mit Jungs hatte sie noch nichts im Sinn, das kam doch erst später. Klar, es gab so ein paar Frühreife, vor allem Klaasina, die dicke Sitzenbleiberin, die knutschte schon mit Jungen rum. Jedenfalls erzählten sie das. Erika fand das unmöglich. Allein der Gedanke, furchtbar.

Andererseits … Erika interessierte sich für alles, was Erwachsene sagten und taten, das war nicht zu leugnen. Natürlich wusste sie genau, was sich für Kinder gehörte, das sagten ihr die Großen ja oft genug. Aber sie empfand ihr eigenes Kindsein dabei nur als Übergangsphase, wie das Puppenstadium zwischen Larve und Falter. Eine Schmetterlingspuppe war hässlich und plump, aber ohne ihr beschränktes Dasein gab es nun einmal keine Metamorphose. Die Kindheit sah Erika genauso. Man konnte noch wenig, man durfte fast nichts, aber da musste man eben durch, um erwachsen zu werden. Das, nur das war das Ziel.

Dass solches Denken wenig kindgemäß war, wusste sie selbst; frühere Versuche, sich Mitschülern, Lehrern oder Eltern anzuvertrauen, hatten ihr das klargemacht. Altklug und naseweis hatte man sie genannt. Das war zwar etwas anderes als frühreif, aber irgendwie lief es aufs selbe hinaus: Sie war anders als die anderen. Das war immer besorgniserregend, und in letzter Zeit ganz besonders. Also hielt sie lieber den Mund. Außer hier bei Oma. Die verstand sie noch am ehesten.

Oma hatte auch gesehen, wie Stinus sie geküsst hatte. Klar, dass sie sie jetzt damit aufzog. Dabei hatte das mit Stinus doch einen ganz anderen Grund. Einen, von dem Oma nichts wusste und den sie auch nicht wissen durfte. Obwohl er sie doch mindestens ebenso viel anging wie Erika.

»Hast du deine Schularbeiten denn schon fertig?«, fragte Oma vom Herd herüber.

Erika zuckte die Achseln. »Hausaufgaben heißt das jetzt. Ja, schon lange. Wir haben ja kaum was auf. Heute in der Schule haben wir die meiste Zeit gesungen und Vorträge angehört, erst vom Rektor und dann vom Biolehrer. Aufgekriegt haben wir nur Abschreiben. Anderthalb Seiten über die Juden.« Sie verzog das Gesicht. »Rassenlehre. Ich dachte immer, das Judentum wäre eine Religion.«

Oma wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie grinste nicht mehr. »Tja, Olympia ist um«, sagte sie leise. »Jetzt geht es wieder härter zu. War ja abzusehen.« Versonnen nickte sie ein paarmal, den Blick ins Nirgendwo gerichtet. Ein paar helle Haarsträhnen, die ihrem strengen Dutt entwischt waren, umschwebten ihr Gesicht und ließen es abgehärmt und älter als sonst wirken. Ein paar Momente nur, dann lächelte Oma wieder, als wäre nichts gewesen. Man musste schon so genau hinschauen wie Erika, um zu erkennen, dass die frühere Schalkhaftigkeit fehlte, dass dieses Lächeln nur Fassade war.

Etwas knallte von außen gegen die Scheibe. Erika fuhr zusammen und stieß einen hellen Schrei aus. Oma griff nach einem der langen, schweren Kochlöffel, die neben dem Herd an der Wand hingen.

Draußen lachte es laut und hämisch. »Ha! Da habt ihr euch ganz schön erschrocken, was?« Natürlich Stinus. Nicht nur die Stimme, vor allem diese selbstzufriedene Dreistigkeit war unverkennbar, dachte Erika. Viel eindeutiger als das helle, triefnasse Oval, das da verzerrt durch die gewellte Scheibe schimmerte, eingerahmt von der Kapuze eines glänzenden Kleppermantels, der dem Knirps viel zu groß war.

»Koom man rin, du lüttje Undög«, rief Oma und drohte scherzhaft mit dem Holzlöffel. »Aber hintenrum, durchs Swienhuck! Lass Mantel und Schuhe gleich da, sonst machst du mir noch den ganzen Flur nass.« Leise fügte sie hinzu: »Und wir haben ja kein Gesinde wie gewisse Leute, das wir mal eben saubermachen schicken können.«

Eine Minute später huschte Stinus in die Küche, trotz des Wetters in kurzen, speckigen Lederhosen, Uniformhemd und feuchten Wollstrümpfen, eine Zusammenstellung, die Erika höchst lächerlich fand, was sie aber nicht zeigen mochte. Oma deutete ihr bewegtes Mienenspiel falsch. »Geht ruhig in die Vorderküche«, sagte sie mit verschwörerischem Augenbrauenzucken. »Da ist es auch warm. Ich kann hier jetzt nicht weg, die Einweckgläser sind gleich so weit.«

Die Vorderküche war eigentlich keine Küche, sondern das Wohn- und Esszimmer für den alltäglichen Gebrauch. Gegenüber lag die gute Stube, die nur zu besonderen Anlässen genutzt wurde. Dort war Erika erst zwei- oder dreimal drin gewesen und hatte die mächtigen geschnitzten Schränke bewundert, die Truhenbank mit den Löwenköpfen, die Bilder an den Wänden, den langen Tisch mit den hochlehnigen, ebenfalls mit Schnitzereien verzierten Stühlen und den großen Ofen, dessen weiß-blaue Kacheln ein Segelschiff in Seenot zeigten. Mit diesem Prachtzimmer konnte die Vorderküche natürlich nicht mithalten, aber auch hier gab es Möbel mit geschnitzten Reliefs und eine weiche, tiefrote Samtdecke auf dem ovalen Tisch. Ein kleiner Kanonenofen sorgte für wohlige Wärme. Das war das Wichtigste, fand Erika; drüben in der guten Stube war es jetzt bestimmt lausig kalt, und die Luft roch muffig und feucht.

»Und?«, bestürmte sie Stinus, kaum dass sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Hast du gefragt? Hast du etwas erreicht?«

Stinus antwortete nicht. Er schaute sie nicht einmal an. Stattdessen blickte er sich ausgiebig in der Wohnstube um, als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt. »Mensch«, sagte er, »das hätte ich nicht gedacht. So toll verzierte Möbel haben wir ja nicht einmal! Und das Schiff da ist erste Klasse.« Er wies auf das maßstabsgetreue Modell eines eleganten, glattdeckigen Zweimastseglers, das unter einem Glassturz auf einer hohen Kommode stand, die mit ihren säulenartig geschnitzten Eckpfosten wie ein Altar aussah. »Wie kommen deine Großeltern denn an so was? Ich dachte, dein Opa war bloß Arbeiter.«

»Opa ist Arbeiter«, fauchte Erika. Die naive Geringschätzung, die aus Stinus’ Worten klang, tat ihr weh. »Und zwar Vorarbeiter in der Ziegelei! Da kommt er gleich nach dem Chef, weil er sich nämlich so gut auskennt mit allem. Sein Chef hat mal gesagt, ohne meinen Opa könnte er überhaupt nicht auskommen.« Sie verstummte abrupt, als ihr bewusst wurde, was sie da gerade gesagt hatte. Sie konnte die zwangsläufige Antwort schon hören: »Anscheinend ja doch!«

Aber der kleine Pimpf erwiderte nichts dergleichen, blickte sich nur weiter um, breitbeinig, die Daumen in den Hosenbund gehakt. »Verdient ein Vorarbeiter denn so viel?«, fragte er.

»Opa schnitzt selber«, erklärte Erika. »Er kauft sich Möbel ohne Verzierungen, da schnitzt er dann Bilder hinein, nach Geschichten aus der Bibel meistens. Manchmal tauscht er auch Teile aus, wenn er für die Schnitzereien dickeres Holz braucht. Und dann verkauft er die meisten Sachen wieder, natürlich für mehr Geld, als sie gekostet haben. Auch von den Modellen hat er schon welche verkauft. So verdient er sich Geld dazu.« Einnahmen, die ihrer Oma jetzt ebenso fehlten wie Opas Lohn aus der Ziegelei, dachte das Mädchen. Und so war, seitdem Opa weg war, auch manches Stück der Einrichtung verschwunden.

Stinus nickte anerkennend. Mehr Geld für etwas zu bekommen, als man dafür bezahlt hatte, schien ein Prinzip zu sein, das ihm gefiel.

Erika aber verließ endgültig die Geduld mit Stinus und seinem breitspurigen Auftreten. »Was ist jetzt?«, zischte sie. »Weißt du was, oder gibst du hier bloß an wie eine Tüte Mücken?«

Endlich wandte er sich ihr zu. Sofort erkannte sie das triumphierende Grinsen, das seine Mundwinkel umspielte. Trotzdem zuckten seine Augäpfel nach rechts und links, ehe er antwortete: »Erst musst du mir versprechen, dass du den Mund hältst, klar? Keiner darf irgendwas davon erfahren.«

»Ja, aber … aber Oma!« Erika rang die Hände. »Es ist doch vor allem wegen ihr!« Dann kam ihr ein furchtbarer Gedanke. »Opa ist doch nicht … ich meine, ist er am Leben?«

Stinus starrte ihr in die Augen. Das freche Grinsen war wie weggewischt, und Erika fürchtete schon das Schlimmste, als der Junge nickte, langsam und kaum merklich. »Ja, er lebt«, flüsterte er. »Das kannst du deiner Oma auch sagen, aber verrate ihr auf keinen Fall, woher du das weißt! Sag einfach, ein Scherenschleifer hätte es dir erzählt, verstanden? Es ist gerade einer im Rheiderland unterwegs, in Jemgum ist er schon durch und will weiter nach Leer. Sag, der hätte den Namen am Haus gelesen und dich darauf angesprochen, während deine Oma auf dem Acker war. Merk dir das, hörst du?«

Ihr Opa am Leben! Erikas Herz schlug so stark, dass ihr ganzer Körper davon zu zittern schien. Was würde ihre Großmutter sich freuen! Obwohl – vor allem würde Oma sie mit Fragen überschütten, wenn sie ihr das erzählte. Und sie, Erika, durfte nichts verraten! Sie musste lügen. Und es war mehr als ungewiss, ob Oma das Märchen vom Scherenschleifer schlucken würde.

»Wo ist mein Opa eigentlich?«, fragte sie. »Und warum kommt er nicht endlich nach Hause? Andere Männer waren doch auch ein oder zwei Jahre weg, und viele von denen sind inzwischen wieder zu Hause.«

»Dein Opa ist in Börgermoor«, sagte Stinus wichtig, aber leise. »In einem Moorlager bei Esterwegen. Da sind lauter Männer, die sich etwas gegen die Partei haben zuschulden kommen lassen. Kommunisten, Sozis, Gewerkschafter, Zeitungsfritzen, auch ein paar bescheuerte Christen, so Leute eben. Die werden dort umerzogen. Sollen mal lernen, wie es ist, richtig zu arbeiten, sagt Janssen.« Erschrocken schlug er sich die Hand vor den Mund. Offenbar hatte er den Namen seines Informanten für sich behalten wollen.

»Richtig arbeiten zu lernen? Mein Opa?« Erika musste sich sehr zusammenreißen, um nicht laut zu werden. »Der weiß, wie man arbeitet, das kannst du mir glauben! Bestimmt besser als du und deine ganze … Bande von Polderfürstenknechten!« Im Flüsterton hervorgestoßen, kam ihr dieses Schimpfwort noch verletzender vor. Bestimmt würde Stinus jetzt empört aus dem Haus stürmen. Aber so etwas konnte Erika einfach nicht auf ihrem Opa sitzen lassen.

Der kleine Pimpf aber zuckte nur die Achseln. Entweder gab er nicht viel auf das Ansehen seiner Familie, oder er war selber Erikas Ansicht. »Das ist nun mal das, was so gesagt wird«, erwiderte er. »Alle sagen das. Aber natürlich weiß jeder, worum es wirklich geht. Der Führer hatte alle seine Feinde doch gewarnt. Sogar schriftlich! Jeder wusste, was passieren würde. Jeder konnte Mein Kampf lesen, und viele haben das auch getan. Bloß geglaubt haben sie es nicht. Tja, ihr Pech! Jetzt passiert es eben. Wer nicht hören will, muss fühlen.«

»Fühlen? Wieso fühlen?« Erika schwante nichts Gutes.

Wieder dieses Achselzucken von Stinus. »Im Moorlager geht es ziemlich rau zu, hat Janssen erzählt. Morgens raus zum Torfstechen, mit Holzspaten und Holzschuhen, kilometerweit marschieren, dann den ganzen Tag nasse, schwere Soden stechen und verladen, und abends zurück. Dann sind die Leute natürlich kaputt, die meisten kommen ja aus der Stadt und sind so was nicht gewohnt, anders als dein Opa.« Vorsichtshalber erhob der Junge beschwichtigend die Hand. »Aber Ruhe bekommen die Häftlinge auch am Abend nicht. Sie müssen immer wieder antreten, stundenlang beim Appell strammstehen, auch im strömenden Regen, und immer mal wieder müssen welche durch die Prügelgasse. Janssen sagt, die Wachen wollen nichts riskieren, schließlich sind die Häftlinge weit in der Überzahl, und man müsste sie immer schön am Boden halten, damit sie gar nicht erst hochkommen. Hat er so gesagt.«

Janssen hießen viele in Ostfriesland, aber Erika glaubte den Janssen zu kennen, den Stinus meinte. Ein grober, versoffener Kerl mit brutalem Kiefer und gierigem Blick, der zur Arbeit nicht recht taugte und deshalb schon früh zur SA gegangen war, weil man dort gut zu essen bekam, wenn man Leute verprügelte. Inzwischen trug er, wenn er sich mal wieder in Jemgum blicken ließ, keine braune Uniform mehr, sondern eine schwarze. Auch seine Mütze war schwarz, und das Abzeichen daran war ein Totenkopf. Erika schauderte. Ja, in diesem Punkt hatte Stinus recht, die Nationalsozialisten machten wirklich kein Geheimnis daraus, was sie vorhatten. Jeder konnte es sehen. Diese Leute wollten Menschen töten.

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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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452 стр. 5 иллюстраций
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9783839264720
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