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8.

»Was ist das für eine Hose?«, fragte Stahnke. »Sieht ja albern aus. Was soll das sein?«

»Eine Trainingshose, wie man sie in Fitnessstudios trägt«, erwiderte Kramer. Mit einem Seitenblick auf seinen Vorgesetzten fügte er hinzu: »Solltest du eigentlich kennen.«

Unwillkürlich strich sich der Hauptkommissar über seine Bauchregion, die in den letzten Monaten deutlich flacher geworden war. »Wo ich trainiere, gibt es solch ein Schickimicki-Zeug nicht«, erwiderte er. »Guck dir das doch bloß an, schwarz mit goldenen Stickereien! Wo gibt’s denn so was.«

»Geht’s noch?« Dr. Mergner hatte mitgehört und baute sich vor den beiden Kriminalbeamten auf. »Wir waten hier im Blut, und Sie beide diskutieren Modefragen! Sind Sie denn schon so abgestumpft?« Seine schmale Gestalt bebte vor Empörung, seine wirren Haare bildeten eine weiße Aureole um seinen Gelehrtenschädel, und seine dicken Brillengläser waren beschlagen. Eine Antwort wartete er gar nicht erst ab, sondern warf sich wieder ins Getümmel der Tatortaufnahme.

Stahnke hatte den erfahrenen Gerichtsmediziner lange nicht mehr so fassungslos erlebt. Richtiger gesagt: noch nie. Dabei hatte er ihn schon tote Kinder exhumieren sehen.

Mit mehreren Kameras zugleich wurde der Tatort aufgenommen, wurde jedes Detail gesichert für spätere Inaugenscheinnahmen, dreidimensional wie konventionell. Stahnke versuchte es auf herkömmliche Weise, die Hände in den Taschen, die Augen und den Verstand aufnahmebereit umherschweifend. Leicht war das nicht.

Der Tote war kräftig gewesen, Oberkörper und Arme auffallend muskulös. Genützt hatte ihm das nichts. Man hatte ihn nach kurzem Kampf überwältigt, laut Spurenlage wohl in der Küche; vermutlich waren ihm dabei das Nasenbein sowie das Jochbein links und die linke Augenhöhle zertrümmert worden. Das linke Auge dürfte bereits bei dieser Gelegenheit zerstört worden sein. Als Tatwerkzeug kam eine dünne Stahlstange in Frage, möglicherweise ein Teleskop-Schlagstock, leicht in der Hosen- oder Jackentasche zu transportieren. In der Wohnung gefunden hatte man jedenfalls nichts Derartiges.

Was dann folgte, dürfte sich über einige Zeit hingezogen haben, nach Mitternacht, als das Restaurant unten bereits geschlossen, gesäubert und verlassen gewesen war. Der oder die Täter hatten Frederik Jaschinsky das Kapuzenshirt vom Leib gerissen, hatten ihn durch den kleinen Flur ins Wohnzimmer geschleift, an den altmodischen Heizkörper gefesselt und ihm systematisch eine Wunde nach der anderen zugefügt, teils mit besagtem Schlagstock, überwiegend jedoch mit einem Messer. Mehrere Rippen waren gebrochen, vermutlich durch Fußtritte mit Stiefeln, deren Abdrücke sich sowohl auf dem Fußboden als auch auf dem Unterhemd des Toten gefunden hatten.

Irgendwann, nachdem Frederik Jaschinskys Gesicht vollkommen zerschnitten und zerprügelt worden war, hatte ein tiefer Schnitt durch die Kehle der Sache ein Ende gemacht. Entsprechend ausgedehnt war die Blutpfütze auf dem Fußboden, in deren Mitte der Tote saß, die Beine ausgestreckt, die Hände ins eigene Blut herabhängend. Offenbar hatte er noch eine Weile gezuckt, während die Pfütze an den Rändern schon zu gerinnen begann. Spuren davon waren deutlich zu erkennen. Ein weiteres grausiges Detail in diesem Szenario des Schreckens.

»Todeszeitpunkt?«, fragte Stahnke, als Mergner wieder einmal an ihm vorbeihastete. Den üblichen bösen Blick ob der Unziemlichkeit dieser verfrühten Frage steckte er regungslos weg.

»Zwischen drei und vier Uhr heute früh. Aber nageln Sie mich nicht drauf fest«, knurrte der Gerichtsmediziner und hastete weiter.

»Das deckt sich mit der Aussage des Nachbarn«, sagte Kramer. »Der will letzte Nacht Geschrei und laute Musik gehört haben, stundenlang. Genau weiß er nicht, wann der Lärm aufgehört hat, aber seine Vermutung lautet auch gegen vier Uhr.«

Heute früh also; inzwischen war es Abend. Der Tote hatte demnach den ganzen Tag über hier gelegen. Beziehungsweise gesessen oder gehangen, wie auch immer. Und er, Stahnke, hatte dort unten gesessen, im Buchladen, direkt unterhalb dieses Wohnzimmers, hatte hochgeblickt und die fetten Dachbalken bewundert.

Der Hauptkommissar wandte sich an einen Kriminaltechniker, der auf dem Parkett kniete und Fußspuren vermaß. »Schon etwas Verwertbares?«, fragte er.

»Normal groß«, erwiderte der Mann. »Jedenfalls der eine. Vermutlich Größe dreiundvierzig. Stiefel, mäßig profiliert, kaum abgetragen.«

»Springerstiefel?«, fragte Kramer. Stahnke hob die Augenbrauen.

Der Techniker schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall, die haben ein völlig anderes Profil. Ansonsten können das alle möglichen Stiefel gewesen sein. Muss ich abgleichen, aber das dauert ein bisschen.«

»Wie viele verschiedene Fußspuren habt ihr denn?«, fragte Stahnke weiter.

»Zwei, definitiv. Die anderen Abdrücke scheinen kleiner zu sein, sind aber sehr verwischt. Da kann ich noch gar nichts zu sagen.«

Der Hauptkommissar bedankte sich mit einem Nicken. »Zwei Täter also«, murmelte er.

»Wenn nicht mehr«, warf Kramer ein. »Überleg mal, dieser Jaschinsky war ein ganz schöner Brocken. Und dann zwei Typen mit Schuhgröße dreiundvierzig und kleiner? Klingt mir untermaßig. Und damit zu riskant.«

»Aber zwei untermaßige Typen mit vorgehaltener Schusswaffe?«

Kramer wiegte den Kopf. »Und warum dann die Kampfspuren in der Küche? Das hätte dann doch wohl eine Schusswunde ergeben müssen. Oder einen Einschuss in der Decke oder der Wand.«

Stahnke war nicht überzeugt. »Wenn es wirklich drei oder mehr waren, wo sind dann die Spuren des Dritten?«

»Vielleicht war dieser Dritte ja etwas cleverer als die beiden anderen und hat besser aufgepasst.«

Stahnke winkte ab: »Das führt doch zu nichts. Zwei oder drei Täter – die Frage ist doch: Was ist das hier? Ein Racheakt? Eine Hinrichtung?«

»Irgendwer wollte irgendetwas wissen«, sagte Kramer. »Oder etwas haben. Daher die Folter. Sie haben aber nicht bekommen, was sie wollten. Was immer es war, eine Information oder eine Sache – Jaschinksy muss es unheimlich wichtig gewesen sein.«

»Oder er hatte es einfach nicht.« Der Hauptkommissar zuckte mit den Schultern. »Das Ding oder die Info. Und das haben ihm die anderen nicht glauben wollen.«

Die beiden Ermittler schwiegen. Stahnke versuchte sich den Ablauf des Geschehens vorzustellen, versuchte dem Stand der Dinge eine Vorgeschichte und den möglichen Tätern Statur und Gesicht zu geben. Es wollte ihm nicht gelingen. Vor allem die Dauer der Tortur, die das Opfer erlitten hatte, machte ihm zu schaffen. Wenn einer unter Qualen nichts sagte, wenn er nichts herausgab, dann hörte man doch irgendwann einmal damit auf, ihn zu foltern, oder?

»Bestialisch«, zischte Kramer vor sich hin, gerade noch hörbar. Seine Gedanken schienen ähnliche Wege gegangen zu sein. »Wer macht so was? Crackheads? Meth-Monster?«

Wie aufs Stichwort tauchte Kollege Schmatze-Schmitz auf. Seine pure Anwesenheit ließ selbst das riesige WG-Wohnzimmer schrumpfen. »Der Drogenhund ist durch. Keine Spur von Dope in der ganzen Wohnung«, meldete der Oberkommissar, der seine erschreckend aufgepumpte Muskulatur gewöhnlich in der Emder Außenstelle der Inspektion zur Schau trug, wo er sich seinen Spitznamen mit dem ständigen Verzehr von klebrigem Lakritzkonfekt erworben hatte. »Nur im Treppenhaus, vor der Tür zur hinteren Wohnung, hat unsere Lucy kurz angeschlagen. Angeblich sollen da die Künstler übernachten, die unten im Laden auftreten. Was meint ihr – Durchsuchung beantragen?«

»Lass mal, Schmitz«, erwiderte Stahnke. »Eins nach dem anderen. Wir haben hier erst einmal genug zu tun.«

Der Koloss nickte, dann grinste er verschmitzt. »Dafür haben wir etwas anderes gefunden«, verkündete er und brachte eine große Dose zum Vorschein, die sich unter seinem Arm befunden hatte und damit so gut wie versteckt gewesen war. »Hier, guckt mal!«

»Kaffeepulver?« Das Format der Dose kam dem Hauptkommissar bekannt vor, nicht aber der Aufdruck.

Schmatze-Schmitz lachte schallend. »Von wegen! Das ist Protein-Konzentrat. Das macht nicht nur wach, sondern auch stark. In dem Schlafzimmer gleich nebenan ist der halbe Wandschrank voll davon.«

»Das Schlafzimmer des Opfers?«, mutmaßte Stahnke.

Schmitz nickte. »Wir haben natürlich alle Zimmer durchsucht; niemand anwesend, und wie es aussieht, sind alle anderen WG-Mitglieder wohl ausgezogen, teilweise überstürzt, unter Zurücklassung von allerhand Krempel. Was wir in dem mittleren Zimmer, das als einziges einen bewohnten Eindruck macht, an persönlichen Dingen gefunden haben, legt den Schluss zwingend nahe, dass Jaschinsky dort hauste. Na, und dass er dieses Zeug konsumiert hat, lässt sein Äußeres ebenfalls zwingend vermuten.« Der Koloss fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Ich meine natürlich seine entwickelte Muskulatur. Nicht das, äh, die … na den Rest eben.«

»Ist das das gleiche Zeug, das du auch nimmst?«, fragte Kramer.

Stahnke warf ihm einen tadelnden Seitenblick zu. Was hatte denn das jetzt mit ihrem Fall zu tun?

Schmatze-Schmitz schüttelte den Kopf. »Das ist Ost-Ware. Hier, guck mal, Aufdruck in kyrillischen Buchstaben! Das Zeug würde ich nur mit der Zange anfassen. Da sind bestimmt nicht nur Proteine aus Weidemolke von glücklichen Kühen drin! Frau Anna lässt grüßen.« Er grinste breit: »Anna Bolika, ihr versteht?«

»Also doch eine Art von Drogen?«, fragte Stahnke, ohne auf den Scherz einzugehen.

»Nicht wirklich.« Schmitz winkte ab; auch seine Pranke war riesig. »Die Einnahme ist nicht illegal. Jedenfalls nicht, solange man nachher nicht zu sportlichen Wettkämpfen antritt. Wäre ein gefundenes Fressen für jeden Dopingfahnder.«

»Wie auch immer«, gab Stahnke zurück, »bring das Zeug auf jeden Fall ins Labor.«

»Ihr steht hier wohl gut, was?« Einer der weiß gekleideten Techniker zwängte sich mit vorwurfsvoller Miene an ihnen vorbei. Stahnke hob entschuldigend die Hände, nickte Schmitz zu und gab Kramer einen Wink. Zusammen mit seinem Kollegen zog er sich in einen weiteren Korridor zurück, der ganz hinten vom übergroßen Wohnzimmer abzweigte.

Der Hauptkommissar brauchte einen Augenblick, um sich zu orientieren. Suchend blickte er sich um. Konnte es sein, dass sich dieser Korridor wie ein Ring durch die ganze Wohnung zog? Wenn man die Wegstücke mitrechnete, die durch Küche und Wohnzimmer führten, dann war das tatsächlich so. Welcher hirnrissige Architekt plante denn so was?

»Dieses Haus ist etliche Male umgebaut worden«, erläuterte Kramer, der Stahnkes Ratlosigkeit richtig gedeutet hatte. »Jeder neue Besitzer wollte hier seine Vorstellungen umsetzen, und die passten grundsätzlich nicht zu denen seiner Vorgänger. So ist denn auch diese Gruft hier entstanden.« Er deutete auf die Tür des Schlafzimmers, das einmal Frederik Jaschinskys gewesen war.

Mit den Fingerspitzen drückte der Hauptkommissar die Tür vorsichtig auf. Eigentlich überflüssig, dieser Raum war bereits spurentechnisch behandelt worden. »Und woher weißt du das jetzt schon wieder?«, fragte er Kramer, während er in den Raum spähte. Zwei Wände waren schwarz gestrichen, na toll. Hatte hier ein Vampir gewohnt?

»Mein Vater hat seine Lehre bei Saathoff & Kleinhuis absolviert«, erwiderte der Oberkommissar. »So hieß der Eisenwarenladen, der früher mal in diesem Haus war. Ist schon Jahrzehnte her.«

Stahnke hörte nicht richtig hin. Was waren das da für Verzierungen an den beiden schwarzen Wänden? Goldene Farbe. Abstrakte Malerei oder reine Deko? Im Zimmer herrschte Zwielicht; das einzige Fenster ging auf den Ringkorridor hinaus. Aha, deswegen also Gruft. Er tastete nach dem Lichtschalter, verfehlte ihn; seine Finger zuckten zurück, als sie die Steckdose unter dem Schalter berührten. Als das Licht endlich brannte, erkannte er, dass die Steckdose geschwärzt und angeschmolzen war – durchgeschmort. Ob sich die gesamte Elektrik in diesem Haus in solch einem Zustand befand?

Dann pfiff er durch die Zähne. »Arabische Schriftzeichen, guck an!« Bei Licht war das eindeutig. Stahnke spürte Gänsehaut auf seinen Unterarmen. Was denn, plötzlich so fremdenfeindlich, schalt er sich selbst. Dann zuckte er die Schultern. War das ein Wunder in Zeiten, da Allahu akbar gerne von Mördern gebrüllt wurde?

Nun war aber Frederik Jaschinksy eindeutig kein Immigrant gewesen. Jedenfalls kein Araber oder Türke. »Ein Konvertit«, sagte Stahnke. »Zum Islam übergetreten. Oder glaubst du, der hat sich seine Wände nur aus Spaß so bemalt?«

»Arabische Schrift beherrsche ich nicht«, antwortete Kramer. »Haben wir einen Kollegen, der sich mit sowas auskennt?«

»Bestimmt. Wie heißt denn noch der Kleine von der Fahndung? Der, der immer diese schmutzigen Witze erzählt?«

»Du meinst Nidal? Der ist Kurde. Aus der Türkei. Da schreiben die eigentlich kein Arabisch. Aber ich frage mal, vielleicht haben wir ja Glück.«

Stahnke seufzte. Warum musste alles immer so kompliziert sein?

Er scannte den Rest des Zimmers mit den Augen. Breites Bett, zerknüllte Laken, Wandschrank offen, Klamotten durcheinander. Hatten die lieben Kollegen hier gepflügt, oder war das schon vorher solch ein Chaos gewesen? Weiter: zwei Sessel, die nicht zueinander passten, auf einem davon eine Sporttasche. Umgedrehte Obstkiste als Tischchen, eine zweite neben dem Bett. Auf beiden standen und lagen leere Flaschen, Bier und Alcopops. Außerdem lagen da Portemonnaie, Schlüssel, ein Handy-Ladegerät, das offensichtlich durchgeschmort war, und … oho! Ein Butterflymesser. Daneben eine Jeans auf dem Boden. Richtig, der Tote hatte ja eine Trainingshose getragen.

Ob ihm das Butterflymesser etwas genützt hätte?

Neben dem Schlüsselbund lag noch ein einzelner Schlüssel. Stahnke bückte sich. Was war das für ein Schlüsselanhänger?

Kramer kam ihm zuvor: »Ein Transponder.« Das Ding war so groß wie ein Einkaufswagen-Chip und hing mit einem kurzen Kettchen an dem Ring. Der Schlüssel daran schien zu einem Vorhängeschloss zu gehören.

»Was steht denn da drauf auf dem Anhänger?«

»Das ist von einem Fitnessstudio.« Kramer hielt ihm das Ding unter die Nase. »Gar nicht weit von hier. Ich trainiere da auch hin und wieder.«

»Turbo-Fit«, las Stahnke. »Das ist doch dieses Billig-Ding, wo sich die ganzen Pickel-Hanseln und die Türsteher aufpumpen! Und da gehst du hin?«

Kramer war nicht leicht in Verlegenheit zu bringen, aber jetzt schien er dicht daran zu sein. »Ist eben preiswerter als die anderen Studios. Und die Geräte sind ganz ordentlich.«

»Stimmt, die können ja nichts dafür.« Stahnke fand, dass es weder Ort noch Zeit war, seinen Kollegen weiter aufzuziehen. Was er bedauerte. »Und, was heißt das jetzt für uns?«

»Hingehen, Jaschinskys Umgang erfragen, Freunde, Kumpel und mit wem er sich eventuell gezofft hat«, rasselte Kramer herunter. »Mach ich gleich morgen.«

»Außerdem müssen wir klären, wer hier eigentlich alles wohnt. Beziehungsweise gewohnt hat, denn die anderen Zimmer machen ja alle einen ziemlich verlassenen Eindruck. Teilweise fluchtartig, wie es scheint. Warum die anderen Bewohner wohl …« Stahnke unterbrach sich. Dumme Frage! Wenn das da im Wohnzimmer der Gipfel einer absehbaren Entwicklung war, dann verstand es sich von selbst, warum die anderen Mieter sich verdrückt hatten. Trotzdem musste das natürlich abgeklärt werden.

»Machst du das?«, fragte Kramer.

Stahnke nickte. »Da fange ich wohl am besten mit dem Vermieter an. Der steht ja sowieso auf unserer Liste, wenn auch in ganz anderem Zusammenhang.«

Sie schwiegen, die Blicke ineinander verhakt. Zusammenhang? Gab es da einen? Zwischen dem Schuss in den Hintern eines verzogenen Kaufmannsbengels und der grausamen Ermordung eines Islam-Konvertiten?

»Oliver Eickhoff soll hier verkehrt haben«, sagte Stahnke.

»Der Anschlag auf den jungen Mann hat da unten auf der Straße stattgefunden, keine hundert Meter von hier«, ergänzte Kramer. »Damit erschöpfen sich zwar die Übereinstimmungen, aber ich finde, das ist schon etwas.«

»Behalten wir im Auge.« Stahnke nickte. »Umso wichtiger, dass ich gleich mit diesem Christiansen rede.«

»Sitzt unten, in seinem eigenen Lokal«, vermeldete Kramer, gut informiert wie immer. »Hoffentlich ist er nicht schon blau.«

»Das sehe ich dann ja«, erwiderte Stahnke. »Und wen schicken wir in die Moschee?«

»Moschee?« Kramer runzelte die Stirn. »Ist das dein Ernst?«

»Verlass dich drauf«, sagte Stahnke.

9.

Unten im Restaurant war es, gemessen an der Fülle, auffallend still. Unterdrücktes Gemurmel hing über einander zugeneigten Köpfen. Wie bei einer Trauergesellschaft, fand Stahnke, als er das Lokal durch den hinteren Seiteneingang betrat. So fühlt sich das an, unmittelbar nach der Bestattung. Später wird es dann doch meist lauter und bisweilen sogar lustig.

Ob das hier auch zu erwarten war? Vielleicht, schließlich waren die meisten Gäste sicher nicht aus Betroffenheit hier, sondern aus schnöder Neugier. Verständlich, war dies doch vermutlich die grausigste Mordtat in Leer seit dem Machetenmörder. Der hatte sein Opfer übrigens gar nicht weit von hier geköpft und den Kopf dann in einem Rucksack durch die Gegend gefahren, bis er, total zugedröhnt, einen Unfall baute und dabei starb. Von wegen friedliches Ostfriesland! Zuweilen lagen die Verhältnisse hier ganz anders.

Abgetrennter Kopf – dabei fielen ihm die goldenen Schriftzeichen oben an den Wänden ein. Diese Gedankenkette funktioniert in beiden Richtungen: Islam, Islamismus, Terrorismus, grausamer Mord, bevorzugt durch Köpfen. Angesichts der Weltlage fielen solche Assoziationen leicht, fand der Hauptkommissar. Verlockend leicht. Gefährlich leicht.

Mit ausgestreckter Hand stoppte Stahnke eine vorbeihastende Bedienung, deren Tablett mit Bier- und Weingläsern befrachtet war. »Wo finde ich Herrn Christiansen?«

»Im Roten Salon«, antwortete die junge Frau knapp, pustete sich eine Haarsträhne aus der Stirn und hastete weiter. Als sie bemerkte, dass sich der Hauptkommissar nicht vom Fleck rührte, drehte sie sich noch einmal zu ihm um und machte eine deutende Kopfbewegung. Aha, weiter vorne, Richtung Buchladen und dann links.

Der Rote Salon entpuppte sich als mittelgroßer Clubraum, der seinen Namen wohl den halbhohen, bordeauxrot gestrichenen Holzpaneelen an den Wänden verdankte. Die altersschwachen Schiebetüren waren geschlossen. Zwei uniformierte Beamte erhoben sich von ihren Stühlen. Wurde dieser Raum etwa bewacht?

Die beiden Graubärte waren dem Hauptkommissar wohlbekannt. »Schau an, Rieken und van Dieken.« Stahnke legte grüßend zwei Finger an die Stirn. »Was macht ihr denn hier? Und wer ist das?« Aus den Augenwinkeln hatte er noch eine dritte Gestalt in Unform entdeckt, die in einer Nische stand.

Rieken lachte kollernd. »Nun hör dir das an, der fällt da auch drauf rein!«, rief er und stieß seinem Kollegen den Ellenbogen in die Seite. »Dabei trägt die steife Dame da noch das alte Förster-Grün, das ist doch wohl seit Jahren out.«

»Und das senfgelbe Hemd. Da ist es eigentlich schade drum«, ergänzte van Dieken.

Stahnke schaute genauer hin. Was er bei flüchtigem Hinsehen für eine Kollegin gehalten hatte, war in Wirklichkeit eine als Polizistin kostümierte Schaufensterpuppe. Krimi-Christiansen und seine Leute hatten offenbar eine merkwürdige Auffassung von Humor.

»Na schön«, sagte der Hauptkommissar, »jetzt weiß ich also, wieso die Puppe hier tatenlos rumlungert. Aber warum tut ihr das auch?«

»Na hör mal!« Rieken spielte den Beleidigten. »Wir erfüllen hier eine wichtige dienstliche Aufgabe! Und das mit der gebotenen Akribie.«

»Aha. Was du im Sitzen kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen, was? Könnte mir vorstellen, dass ihr anderswo dringender gebraucht würdet.«

»Tja, kann sein. Aber dienstliche Anweisung ist dienstliche Anweisung, nicht wahr?« Van Dieken schob sein Cola-Glas vorsichtig außer Sichtweite. Ob da wohl wirklich nur braune Zuckerbrause drin gewesen war? Stahnke war sich nicht sicher.

»Anweisung? Von mir aber nicht«, erwiderte er.

»Nee, aber vom Kollegen Kramer!« Rieken warf sich in die schmale Brust. »Er sagte ausdrücklich, dass mit dem Herrn Christiansen heute Abend noch gesprochen werden müsste.« Er deutete mit dem Daumen auf die Schiebetür, hinter deren Scheiben der Umriss eines sitzenden dicken Mannes zu erkennen war, beide Ellenbogen auf einen Tisch gestützt, ein langstieliges Glas vor sich.

Stahnke stemmte die Fäuste in die Seiten: »Und jetzt passt ihr auf, dass der Tatzeuge nicht flüchtet, oder was? Zwei Mann hoch, also echt! Mann, Mann!«

»Ja genau, Mann und Mann«, sagte van Dieken und blinzelte betont unschuldig. »Man kann nicht vorsichtig genug sein. Der Typ da hat die Leiche gefunden, sagt er – das weißt du doch auch, dass diese Finder manchmal in Wahrheit selber die Täter sind!«

»Und zwei Mann sind nicht zu viel«, ergänzte Rieken. »Hast du gesehen, der Herr ist ganz schön groß! Und er hat Gewicht!«

Der Hauptkommissar holte tief Luft. »Wie du vielleicht gesehen hast, trifft beides auch auf mich zu«, knurrte er. »Und wenn ihr mir nicht bald diese Tür hier aufmacht, dann komme ich über euch! Und danach nichts wie weg hier, verstanden? Ich übernehme.«

Rieken und van Dieken fassten übertrieben schwungvoll nach den Türgriffen rechts und links, deuteten je eine Verbeugung an und zogen zeitgleich. Eine schöne Parodie von devoten Subalternen – wäre es geworden, wenn die linke Tür nicht gehakt und Rieken beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Stahnke trat ein. Hinter ihm rumpelten die Türen wieder zu.

Christiansen hob den Kopf. So vorgebeugt und aufgestützt wirkte er unglaublich massig, fand Stahnke. Wie alt mochte er sein, an die sechzig vielleicht? Dafür war seine Mähne noch ziemlich dicht. Aber eindeutig grau; die paar Farbpigmente, die sich in einigen Strähnen noch finden mochten, reichten nicht mehr aus, um noch den Gesamteindruck von Blond entstehen zu lassen. Friedhofsblond, das ja. Der Kinnbart war schon völlig weiß.

Als er dem Buchhändler in die Augen schaute, fühlte er sich wie bei einem Blick in den Spiegel: wasserblau und hellwach, genau wie seine eigenen! Aber damit erschöpfte sich die Ähnlichkeit auch, fand der Hauptkommissar und straffte sich. Er war nicht nur jünger als dieser Typ, er war auch fitter – inzwischen. Und vor allem sah er ordentlicher aus. Wer trug denn bloß in diesem Alter noch so lange Zotteln?

Der Clubraum mochte etwa fünfundzwanzig Gästen Platz bieten; bis auf Christiansen war er leer. Stahnke ließ sich auf der anderen Seite des Tisches nieder, an dem der Buchhändler saß. »Guten Abend«, sagte er und nickte seinem Gegenüber zu. »Ich würde gerne mit Ihnen reden. Wäre das in Ordnung?«

»Natürlich. Natürlich.« Christiansen richtete seinen Oberkörper auf und strich sich die Haare aus der Stirn. »Möchten Sie etwas trinken? Ich lasse Ihnen gern etwas bringen. Wein vielleicht, oder ein Bier?«

»Vielen Dank, lieber nicht.« Der Hauptkommissar musterte das halbvolle Glas des Buchhändlers, der gleichzeitig Restaurantbesitzer und Vermieter war. »Wie viel hatten Sie denn schon? Ich meine, auf diesen Schock?«

»Ich? Das hier ist mein erstes Glas.« Der Buchhändler verschränkte seine Arme. »Wissen Sie, manchmal trinke ich ja ganz gerne, um den Geist zu beflügeln. Oder ihn zu beruhigen, das kommt auch vor. Aber jetzt … Alkohol verstärkt die Gefühle, nicht wahr. Und die, die ich momentan habe, die müssen wirklich nicht noch stärker werden. Darauf kann ich gut verzichten.«

Stahnke runzelte die Stirn. Was redet der für ein wirres Zeug, dachte er; klingt, als sei der doch schon blau. Andererseits artikuliert er sauber. Wie auch immer, wir werden sehen.

»Erzählen Sie doch mal«, begann er unverfänglich. »Wie haben Sie den Tatort vorgefunden? Und wie kam es überhaupt dazu, dass Sie die Mietwohnung betreten haben?«

»Freiwillig jedenfalls nicht«, sagte Christiansen. Er berichtete, wie er mit dem Fahrrad eingetroffen und von seinem Nachbarn abgefangen worden war, welche Vorwürfe Terveer erhoben hatte, dass die Haustür nur angelehnt gewesen war. Wie er nach seinem Mieter gesucht und gerufen und ihn schließlich tot vorgefunden hatte, an die Heizung gefesselt, in einem See aus Blut.

Erzählen kann er gut, dachte Stahnke. Das macht wohl der viele Umgang mit Büchern. Während Christiansen sprach, hatte sich der Hauptkommissar den Hergang der Ereignisse in plastischen Bildern vorstellen können, ja müssen, bis der kleine Film in seinem Kopf bruchlos in die Szene mündete, die er mit eigenen Augen gesehen hatte. Hatte sehen müssen.

»Haben Sie eine Idee, was genau da oben vorgefallen ist?« Stahnke wies mit einer Kopfbewegung zur Decke. »Wer Ihren Mieter umgebracht hat? Und warum?«

»Ich wollte, ich könnte«, sagte der Buchhändler. »Was man sich erklären kann, das kann einen nicht mehr so beherrschen, richtig? Aber für das da oben … nein, wirklich nicht.«

»Was wissen Sie denn überhaupt über Ihren Mieter, den Herrn Jaschinsky?«

»Er war Borussia-Dortmund-Fan.« Christiansen lachte auf, kurz und bitter. »Kriegte immer so ein Fan-Magazin, das steckte oft in meiner Post, und ich hab’s ihm auf die Treppe gelegt. Und jedes Mal, wenn Dortmund international gespielt hat, war da oben Remmi-Demmi. Die müssen wohl Sky abonniert haben oder einen anderen Sportkanal. Anschließend war meistens Fete, richtig laut, mit viel Hip-Hop und so. Mein Nachbar, der Herr Terveer, hat sich mehr als einmal deswegen beschwert.«

»So so, Borussia Dortmund.« Stahnke mochte Fußball durchaus, aber jede Form von Fan-Kultur war ihm fremd. Fan kam von Fanatismus, damit war für ihn alles gesagt. »Und was hat der junge Mann so, äh, gearbeitet? Ich meine, von irgendwas musste er doch die Miete bezahlen, oder?«

»Die Miete kam immer pünktlich.« Christiansen zuckte die Achseln. »Jaschinsky war Student an der Seefahrtschule, keine Ahnung, ob er Bafög bezogen hat oder Geld von seinen Eltern bekam. Am Hungertuch genagt hat er jedenfalls nicht. Er hat sich öfter mal Essen ins Haus bestellt, und so ein Motorrad kostet ja auch Geld.«

»Motorrad? Was für ein Motorrad?« Der Hauptkommissar konnte sich nicht erinnern, vor oder hinter dem Haus eins gesehen zu haben.

»So eine Rennmaschine. Das heißt, nicht wirklich zum Rennen fahren, also keine mit Vollverkleidung und so. Mehr so ein Café-Racer, aber mit einem gewaltigen Motor. Mit solch einem Ding ist man im Nu von null auf hundert, aber ab hundertsechzig kann man sich kaum noch darauf halten.«

»Verstehe.« Stahnke nickte. Interessant, wovon dieser Mensch so alles etwas versteht, dachte er. Ob er das wohl auch aus Büchern hat? Jedenfalls konnte er Christiansens Beschreibung eindeutig entnehmen, dass es sich nicht um eine Einzylinder-Enduro handelte. Wäre ja auch zu einfach gewesen: Jaschinsky schießt vom Motorrad aus auf Oliver Eickhoff, der holt sich Verstärkung und rächt sich blutig … Welchen Grund aber hätte Jaschinsky haben können, auf den kleinen Eickhoff zu schießen?

Der Hauptkommissar wusste selbst, dass er zu wilden Spekulationen neigte, und riss sich am Riemen. »Meine Kollegen würden dieses Motorrad gerne näher betrachten«, sagte er dennoch. »Wissen Sie, wo es abgestellt ist?«

Der Buchhändler nickte. »Jaschinsky hatte sich eine Garage zusätzlich gemietet, etwas außerhalb der Altstadt. Zusammen mit ein paar Gleichgesinnten. Wo genau, weiß ich aber nicht. Parkraum ist ja knapp hier.«

»Und was ist mit den anderen Mietern? Außer dem Toten haben wir keinen von denen oben vorgefunden, und die anderen Zimmer machten auch keinen bewohnten Eindruck.«

»Ich muss gestehen, dass ich in den letzten Wochen auch keinen Überblick hatte, wer da oben nun eigentlich wohnt oder nicht«, erwiderte Christiansen. »Ursprünglich bestand die WG ja mal aus vier Mitgliedern – drei junge Männer, eine Frau. Später kam noch eine zweite Frau dazu. Das fand ich etwas viel, ich meine, so viele Zimmer sind es ja nun auch nicht, und das riesige Wohnzimmer wollten natürlich alle gemeinsam nutzen. Aber es war ja ein Pärchen dabei, das sich ein Schlafzimmer teilte, und alle meinten, das sei schon okay. Also habe ich zugestimmt.«

»Seit wann wohnt die WG denn dort oben?«

»Ich müsste den Mietvertrag mal raussuchen … aber ich schätze, unterzeichnet haben wir den vor etwas mehr als einem Jahr. Fünfzehn Monate, über den Daumen.«

»Ja, den Vertrag hätte ich in der Tat gerne«, sagte Stahnke. »Allein schon wegen der Namen. Oder haben Sie die alle im Kopf?«

»Leider nein.« Christiansen schien verlegen zu sein. »Überhaupt habe ich mich wohl etwas zu wenig um die Zustände da oben gekümmert. Aber, wissen Sie, man hat ja doch allerhand um die Ohren, mit Laden und Lokal und den ewigen Reparaturen an diesem alten Haus. Und dann wollen wir demnächst eine Filiale aufmachen …«

»Verstehe. Andere Dinge waren wichtiger, solange die Miete pünktlich bezahlt wurde, richtig?«

»Richtig.« Christiansen griff nach seinem Weinglas und nahm einen kräftigen Schluck; seine Wangen hatten sich gerötet. »Möchten Sie wirklich nichts?«

»Na ja, vielleicht … haben Sie alkoholfreies Bier? Weizen?«

»Aber selbstverständlich.« Christiansen streckte den Arm aus und betätigte einen an der Wand befestigten Klingelknopf. »Unsere neueste Errungenschaft! Dieser Raum liegt ja etwas abseits, da wurden Gäste manchmal übersehen. Jetzt können sie sich ganz einfach bemerkbar machen.«

Die Serviererin, der Stahnke vorhin schon in den Arm gefallen war, erschien und nahm die Bestellung entgegen. Offenbar hatte sie inzwischen erfahren, wer er war, denn sie musterte ihn mit großen Augen. Zu fragen aber traute sie sich nicht.

»Die eine der beiden jungen Frauen ist schon vor einer Weile ausgezogen«, nahm der Buchhändler den Faden wieder auf. »Hatte sich wohl mit ihrem Freund verkracht. Die anderen vier WG-Mitglieder haben ihren Mietanteil mit übernommen, und dabei ist es dann geblieben, bis heute. Ich bin mir zwar sicher, dass zwischenzeitlich noch die eine oder andere Person dort oben genächtigt hat, ich meine, auch für einen längeren Zeitraum. Aber das wurde nie offiziell gemacht.«

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Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
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372 стр. 5 иллюстраций
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9783839264645
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