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3.

Wie ist es nur möglich, überlegte Stahnke, während er den Plattenweg abschritt, der rund um das Haus der Familie Frerichs führte. Da wohnt einer auf dem Land, nicht einmal im Dorf, sondern auch noch ganz am Rand, mitten in der Einöde, und was ist? Mehr Lärm als in der Großstadt. Während der wenigen Minuten seines Aufenthalts waren schon drei Sandlaster mit Hänger die Betonstraße entlanggerumpelt, die dicht an Frerichs’ Haus vorbei zu den Kiesgruben führte, zwei Züge waren auf der Strecke jenseits der benachbarten Felder unüberhörbar vorbeigerauscht, der eine Richtung Emden, der andere nach Leer, und jetzt dröhnte auch noch ein Propellerflugzeug über ihn hinweg, offenbar im Anflug auf den Flugplatz Nüttermoor. Vom beständigen, gleichförmigen Donnern des Verkehrs auf der Bundesstraße, hin und wieder zersägt vom Kreischen eines Zweitaktmotorrads, ganz zu schweigen. Was hier wohl erst im Herbst los war, zur Mäh- und Erntezeit? Schwärme von Fliegen ließen vermuten, dass auf den Feldern, an die das Grundstück grenzte, mit Gülle nicht gespart wurde. Oh nein, dachte Stahnke, dann schon lieber die Leeraner Altstadt mit all ihren lauten Festen, knatternden Teenie-Rollern und grölenden Betrunkenen.

Wie wohl das Ehepaar Frerichs, beide Ende vierzig und kinderlos, hier draußen seine Abende verbracht hatte? Gemeinsam saufend vor dem Fernseher? Eher nicht, schließlich wurden beide in mehreren Vereinen als Mitglieder geführt, nicht nur bei den Jägern und Schützen. Das hieß dann wohl öffentliches Trinken in trauter Gemeinschaft.

»Wo hat sie denn gelegen?«, fragte Stahnke, als er die Umrundung des Hauses abgeschlossen hatte und wieder an der großen überdachten Terrasse angekommen war.

»Dort«, sagte Kramer und zeigte auf eine schmale Tür, die offenbar in die Küche führte. »Sie muss von hier gekommen sein, denn an ihren Arbeitsschuhen war Gartenerde, im ganzen Haus aber nicht. Sie war wohl bei der Gartenarbeit und wollte schnell einen Schluck Tee trinken.«

»Worüber ihr Mann so erzürnt war, dass er sie unverzüglich erschoss«, ergänzte Stahnke. »Kramer, Kramer, wohin soll das noch führen mit Ihren vorschnellen Schlüssen.« Aus den Augenwinkeln heraus versuchte er auszumachen, ob seine Ironie Wirkung zeigte.

Der Oberkommissar reagierte nicht.

Wenn er jetzt doch lachen würde, dachte Stahnke. Oder sich verteidigen oder mich wüst beschimpfen, denn wenn hier einer zu vorschnellen Schlüssen neigt, dann ist das ganz gewiss nicht er. Aber nein, er sagt gar nichts, und jetzt stehe ich wieder da mit meiner blöden Bemerkung und meinem schlechten Gewissen. Warum macht er das bloß immer mit mir? Und warum kann ich denn nicht endlich mal die Schnauze halten, wenn mir so etwas in den Sinn kommt? Einen besseren Kollegen als Kramer könnte ich mir nicht wünschen, ein loyaleren auch nicht. Mehr als einmal hätte er mich schon in die Pfanne hauen können. Dann säße er vielleicht schon auf meinem Pos­ten. Also warum zum Teufel muss ich ihn andauernd pieken?

Maike Rosenbohm fiel ihm ein. Die hätte ihm Contra gegeben. So eine lässt sich nichts gefallen. Astreine Polizistin. Tolle Frau. Die würde ihren Weg machen.

Und wohin würde der sie führen? Zügig zum Hauptkommissar? Und auf seinen Posten?

Na, und wenn schon. Bis dahin war er sowieso schon pensioniert.

»Wo hat sie denn gegärtnert, die Frau Frerichs?«, fragte er. Suchend blickte er sich um; der Garten war groß, selbst für ländliche Verhältnisse, und durch mehrere hohe Hecken unterteilt. Vermutlich des Windes wegen, der hier ziemlich heftig übers platte Land wehte. Recht unübersichtliche Gartenanlage, fast schon ein grünes Labyrinth.

»Es gibt mehrere Stellen, an denen kürzlich gegraben wurde. Dort hinten unter den Rosenbüschen, rund um das Stallgebäude und dann noch vorne zwischen Rasen und Entwässerungsgraben.« Ja, das war Kramer: Korrekt, gründlich, unerschüttert. Tröstlich. Und zum Verzweifeln.

Den Stall mit seinen Klinkermauern und dem Satteldach hatte Stahnke erst für ein Nachbarhaus gehalten. Innen waren noch Schweinekoben und Rinderboxen erkennbar, Nutztiere aber wurden hier offensichtlich schon lange nicht mehr gehalten. Alles war sauber gestrichen, und an den Wänden waren Gartengeräte, Holzstapel, Plastikplanen und verschiedene Werkzeuge ordentlich aufgereiht. Frerichs arbeitete seit Jahren im Emder Volkswagenwerk, so wie viele andere Männer auch, die früher in der Landwirtschaft tätig gewesen waren.

Einige der Gartengeräte wiesen noch Spuren anhaftender Erde auf. Der Boden hier schien schwer zu sein, offenbar lehmhaltige Kleierde, obwohl Leer doch auf einem sandigen Geestrücken lag. Entweder verlief hier irgendwo die Grenze zum Marschland, oder aber der Kleiboden war nachträglich aufgebracht worden. Die meisten Erdspuren waren trocken und krümelig, nur die auf einem Spaten und einer Schaufel waren noch klebrig und hinterließen Schmierspuren an den Fingern des Hauptkommissars. Kleiboden trocknete eben selbst bei sommerlicher Hitze nur oberflächlich aus.

»Waren dies die Geräte, mit denen Frau Frerichs gestern gearbeitet hat?«, fragte Stahnke.

»Anzunehmen«, antwortete Kramer. »Draußen liegen jedenfalls keine mehr rum.«

»Also hat die Frau ihre Sachen ordentlich weggestellt. Demnach wollte sie die Gartenarbeit wohl für diesen Tag beenden.«

»Ja, sieht so aus.«

»Aber ihre Schuhe hat sie nicht ausgezogen«, sagte Stahnke. »Und auch nicht saubergemacht, richtig? So wie sie war, mit dicken Erdklumpen an den Sohlen, ist sie ins Haus gelaufen. Können Sie sich das von einer ostfriesischen Hausfrau vorstellen?«

Stumm schüttelte Kramer den Kopf.

Seite an Seite gingen die beiden Männer zurück zur überdachten Terrasse. Neben der Fußmatte, ordentlich ausgerichtet, stand dort ein Paar Slipper, Damenhausschuhe, eindeutig. Erdklümpchen auf der anderen Seite der Matte wiesen den Platz aus, wo die Arbeitsschuhe gewöhnlich abgestreift wurden. Das war gestern unterblieben. Warum?

»Vielleicht hat das Telefon geklingelt«, sagte Kramer.

»Möglich«, sagte Stahnke. »Das ließe sich sogar nachprüfen, die Tatzeit haben wir ja so ungefähr.« Aber wirklich überzeugt kam er sich selber nicht vor.

Behutsam den Trittsteinen folgend, schlenderte er zwischen den Rabatten entlang. Rosenbüsche, alle gleich hoch, alle blühend, allesamt rot. Dazwischen nackte graue Erde. Eintönig. Aber ordentlich, wie manche es mochten. Er nicht. Er liebte Gärten, wo die Stauden so wild und bunt und dicht neben- und durcheinander standen, dass sie sich gegenseitig in die Höhe und zu immer mehr Pracht trieben. Solch einen Garten würde Stahnke natürlich niemals im Griff behalten, das wuss­te er genau. Binnen weniger Monate würde daraus eine grüne Hölle entstehen. Deshalb war sein eigenes Gartenfleckchen eher kahl, genau genommen eine Mooswiese mit einem Baumstumpf in der Mitte. Ideal, um bei Sonne drauf zu sitzen und zu lesen. Trotzdem liebte er prallvolle Wuchergärten. Für ihn war das kein Widerspruch. Lieben hieß ja nicht unbedingt gleich besitzen wollen.

Dort war der Entwässerungsgraben, und hier, ebenfalls von mannshohen Buchsbaumhecken umsäumt, die dritte Stelle, an der Frau Frerichs geackert hatte, ein Rasenstück mit fast kahlen Blumenbeeten an zwei Seiten. Die Spuren ihrer Arbeit waren noch zu erkennen, auch wenn der Boden sorgfältig geglättet worden und die Erde inzwischen getrocknet war, so dass sie sich vom Boden rechts und links davon farblich nicht mehr unterschied.

Moment mal. Stahnke trat einen Schritt zurück und Kramer dabei fast auf den Fuß. »Sehen Sie das? Hier ist nur dieses Stück beackert worden, etwas mehr als einen Meter breit. Rechts und links davon nicht. Ist das nicht eigenartig?«

»Na ja, vielleicht ist sie gestört worden. Das Telefon …« Kramer zuckte die Achseln.

»Möglich. Aber warum fängt die Frerichs hier in der Mitte an? Das passt nicht zu einer ordentlichen Frau wie ihr, ebenso wenig wie mit Gartenschuhen ins Haus zu laufen.«

Sein Blick maß den Verlauf der bearbeiteten Stelle ab. Nach hinten reichte sie bis zur Hecke, die hier die Grundstücksgrenze markierte, möglicherweise sogar unter ihr hindurch. Und vorne bis zum Rasen. Oder nein. Stahnke hockte sich hin und fuhr mit der Hand durch die dichten gestutzten Halme. Da waren Erdkrümel. Kurz entschlossen fasste er zu und zog. Ein kurzer Widerstand, dann hielt er eine Grassode in der Hand, sauber viereckig ausgestochen.

»Hier wurde nicht gegärtnert«, sagte er, während er sich erhob und sich die Erde von den Händen klopfte, »hier wurde gegraben. Aus- oder eingegraben. Und anschließend säuberlich wieder abgedeckt.« Mit dem Handrücken wischte er sich die Stirn; bei dieser Hitze trieb ihm selbst eine geringe Anstrengung den Schweiß aus den Poren.

Kramer hatte sich hingekniet und peilte mit schief gelegtem Kopf über das Gras. »Das reicht etwa drei, vier Meter weit in den Rasen hinein«, sagte er. »Dann ist Schluss, dahinter ist alles unverändert. Jetzt, wo man’s weiß, kann man es deutlich sehen.« Keine Entschuldigung, einfach Fakt.

Dann fragte er: »Soll ich?«

Stahnke nickte und krempelte sich die Hemdsärmel hoch, während der Oberkommissar Richtung Stallgebäude sprintete. Als er kurz darauf zurückkehrte, trug er nicht nur Schaufel und Spaten in der Hand, sondern auch zwei Stück Plastikplane unterm Arm. »Für die Rasensoden und die ausgehobene Erde«, erläuterte er überflüssigerweise. »Frau Frerichs muss das ebenso gemacht haben.«

Stahnke griff nach der Schaufel. Während Kramer vom Blumenbeet her die Soden abhob und sie ordentlich so auf ein Stück Plane legte, dass man ihre Lage später rekons­truieren konnte, machte sich sein Vorgesetzter ans Graben. Schaufelblatttief hob er den Boden aus, über eine Länge von etwa zwei Metern, dann machte er kehrt und nahm sich die nächste Schicht vor. Die Erde war locker und fast frei von Steinen und Bauschutt, trotzdem war Stahnkes Hemd schon nach wenigen Minuten schweißnass. Seinem Bauch würde die Bewegung sicherlich gut tun. Allerdings spürte er dabei eher seinen Rücken.

Die ersten achtzig, neunzig Zentimeter in die Tiefe waren kein Problem. Dann wurde die Erde plötzlich fester. Der Hauptkommissar hielt inne und stützte sich auf den Schaufelstiel.

»Tiefer ist hier nicht gegraben worden«, sagte er. »Fast sicher. Jedenfalls nicht in letzter Zeit.«

»Also wurde hier eher etwas ausgegraben«, vermutete Kramer. »Etwas, das hier deponiert war. Ausgegraben und abtransportiert.«

»Dann hat wohl eher der Frerichs selbst hier gegraben«, sagte Stahnke; sein Atem ging keuchend. »Und seine Frau hat ihn dabei gestört. Überrascht. Ob er sie deshalb …?«

»Und was war es, das hier lag?«, fragte Kramer.

»Na, doch wohl das, woran Sie auch denken«, erwiderte Stahnke. »Illegale Waffen, oder nicht?«

Kramer nickte. »Würde ja zu dem passen, was Manninga uns da erzählt hat«, sagte er. »Für wen er die wohl versteckt hat? Russenmafia oder Neonazis? Bunkerware für irgendwelche Islamisten? Aber vielleicht hat er ja auch selber damit gehandelt.«

Stahnke war wieder zu Atem gekommen. »Erst einmal gu­cken, ob noch etwas von dem Zeug hier ist, ehe wir weiterspekulieren«, entschied er und stieg aus der Grube. Sie erinnerte an einen Graben, gut möglich, dass hier einmal längliche Waffenkisten gelegen hatten. Er wandte sich dem nächs­ten Abschnitt zu, dem, der zur Mitte des Rasenstücks wies, unmittelbar vor der unbeschädigten Grasnarbe.

Wieder flog die lockere Erde, floss der Schweiß in Strömen. Stahnke keuchte fast vom ersten Schaufelstich an. Keine Mütze, dachte er, ich habe nichts auf dem Kopf. Wenn hier nichts liegt, mache ich erst einmal Pause, sonst hole ich mir noch einen Sonnenstich.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie Kramer versuchte, mit seinem Spaten vor der Hecke zu graben. »Das bringt nichts«, rief er ihm zu, ohne mit dem Schaufeln innezuhalten. »Spaten sind etwas zum Umgraben, nicht zum Löcher machen.« Das hatten sie ihm beim Gullysetzen im Tiefbau beigebracht, wo er als Jugendlicher gejobbt hatte, und er bildete sich eine Menge auf sein Wissen ein. »Lassen Sie das, Sie Kindskopf!« Mist, dachte er praktisch im selben Augenblick. Wieder mal zu weit gegangen.

Da stieß seine Schaufel auf Widerstand.

»Hier ist etwas«, sagte er und winkte Kramer herbei. Er war sich seiner Sache sicher. Das war kein Stein, bestimmt, der Ruck im Schaufelstiel und der Klang waren anders gewesen. Nicht so hart, nicht so hell. Dumpfer, wie Holz eben. Eine Kiste, voll mit Gewehren und Munition? Mit Schwung und voller Ungeduld stieß er das Schaufelblatt in den lockeren Boden und hebelte eine neue Ladung Erde heraus.

Da kam etwas mit.

Es war graubraun, nicht viel anders als die Erde drum herum, und doch heller. Kein Stein, bestimmt nicht. Steine mochten zwar gelegentlich so glatt sein, aber sie sahen nicht so aus. Und sie schauten einen auch nicht so an. Was konnte das sein?

Etwas vom Gewicht einer Baggerschaufel presste seinen Magen zusammen. Unter perlendem Schweiß fühlte sich seine Haut plötzlich eiskalt an.

»Ein Schädel«, sagte Kramer, seine Stoikermaske wieder vor dem Gesicht. Dann runzelte er die Stirn: »Ein kleiner Schädel.«

Stahnke hatte sofort erkannt, was er da auf seiner Schaufel hatte. Noch aber sträubte sich etwas in ihm, das Erkannte auch zu glauben. Vorsichtig legte er es auf die Plane, bettete es sanft in die weiche Erde, der er es gerade entrissen hatte. »Kindskopf«, murmelte er.

4.

Diesmal war Roland alleine gekommen. Nane konnte sich nicht erinnern, dass er das zuvor schon einmal getan hatte. Roland tat niemals etwas aus eigenem Antrieb. Aber sie fand es schön, dass er da war. Und schöner noch, dass die anderen nicht mitgekommen waren.

»Wie geht es dir?«, fragte er mit aller Ernsthaftigkeit, die solch ein Krankenbesuch verlangte. »Heilt der Stich gut?«

»Ja. Danke«, sagte Nane. Ohne Vorwurf, wie auch aus Rolands Worten keinerlei Bitte um Entschuldigung klang. Beider Verhältnis zu diesen Dingen war nahezu geschäftsmäßig. Zug und Gegenzug, Aktion und Reaktion – eins zog das andere nach sich, das wusste sie, damit war zu rechnen, da gab es nichts zu jammern oder zu verzeihen.

»Gut«, sagte Roland und nickte. Seine Pranke näherte sich ihrer Bauchdecke, schob das Nachthemd hoch, fuhr über ihre Haut und betastete den Verband. Sie ließ es geschehen, ungerührt wie von der kumpelhaften Intimität eines Bruders, staunte darüber, wie zart die Berührung war. Rolands muskelbepackte Arme konnten Eisenstäbe biegen, aber sie würden niemandem etwas zu Leide tun, solange Vater es nicht befahl.

Roland räusperte sich. »Vater«, sagte er langsam, und plötzlich war alles anders. Seine Fingerkuppen brannten wie Eis auf ihrer Haut, ihre Bauchmuskeln spannten sich zuckend, die frische Wunde schickte Wellen des Schmerzes durch ihren ganzen Körper.

Sofort zog er die Hand zurück. »Vater sagt, es ist gut«, fuhr er fort. »Erst einmal gut. Er hat Sanna gesagt, es ist gut.« Er wiederholte es eindringlich. Vaters Gebote, sein Evangelium. »Er hat Sanna gesagt, lass sie jetzt. Lass sie jetzt, hörst du? Aber pass auf, Sanna, pass gut auf. Pass gut auf Nane auf. Was sie sagt. Pass gut auf Nane auf. Was sie tut. Pass gut auf. Das hat er gesagt.« Sie spürte Rolands Hand in ihrer, fühlte seine Muskeln, spürte seine Besorgnis. »Du musst vorsichtig sein, Nane, hörst du? Vorsichtig. Was du sagst und was du tust. Ja? Wirst du das?«

»Ja«, sagte sie. »Ja, Roland. Ich werde aufpassen. Ganz bestimmt. Mach dir keine Sorgen.«

»Das ist gut«, sagte Roland, und er klang erleichtert. »Ja, das ist gut. Gut ist das.« Behutsam drückte er ihre Hand, hielt sie fest. Sie schloss die Augen. Es ist schön, beschützt zu werden, dachte sie. Es ist schön, in Sicherheit zu sein. Wenn jemand über einen wacht, der so stark ist, dass er niemanden fürchten muss. Dann muss man selber auch keine Angst haben. Nicht einmal vor der Dunkelheit.

Aber sie wusste auch, dass Roland Vaters Junge war. Mochte er noch so zart und mitfühlend sein, Vaters Wort war für ihn Gesetz.

Sie öffnete ihre Augen wieder. Roland war schon gegangen. Sie war wieder allein.

5.

Um die Mittagszeit sah das Anwesen der Frerichs bereits wie ein Manövergelände der Bundeswehr aus. Nichts erinnerte mehr an die sauber gestutzten Hecken, die exakt gemähten Rasenflecken und die ordentlichen Blumenbeete; alle Pflanzen waren gekappt, der gesamte Garten mit rotweißem Flatterband abgesperrt und parzelliert, Dutzende von Trichtern waren ausgehoben und dazwischen Erdwälle angehäuft worden. Stahnkes Kollegen, verstärkt durch Beamte vom Landeskriminalamt und einen Zug Bereitschaftspolizei aus Oldenburg, hatten ganze Arbeit geleistet. Und sie waren fündig geworden.

»Nummer drei«, berichtete Kramer. »Dr. Mergner ist schon dran.«

Nummer drei! Stahnke spürte eiskalte Schauer auf seiner erhitzten Haut. Ihm war übel, und es kostete ihn Überwindung, diesem Ort nicht einfach den Rücken zu kehren und zu flüchten.

»Drei«, stieß er hervor. »Wie alt diesmal?«

»Etwas jünger. So um die sechs Jahre«, sagte Kramer. Er hielt den Blick gesenkt. Man musste ihn schon sehr gut kennen, um zu bemerken, dass auch er angeschlagen war. Kra­mer, ein Fels normalerweise. Selbst er wankte.

Der Oberkommissar schluckte zweimal, ehe er hinzufügte: »Ein Junge.«

Stahnke rieb sich die Schläfen. »Also kein Skelett diesmal?« Er zog die Augenbrauen zusammen. Die zeitliche Distanz zum schwer Vorstellbaren schrumpfte. Und der Horror wuchs. Kamen die Einschläge näher?

»Kein Skelett«, bestätigte Kramer. »Liegezeit zwischen vier und sechs Jahren, wie es aussieht. Eine halbwegs aktuelle Sache also, vergleichsweise.«

»Verflucht«, murmelte Stahnke. Ein unbestimmtes Gefühl der Bedrohung ließ seine Eingeweide verklumpen. Was war das hier? Der Privatfriedhof eines Irren, der sein blutiges Handwerk bereits seit Jahrzehnten betrieb, durchgehend, ohne dass irgendjemand auf ihn aufmerksam geworden wäre? Ein Mons­ter, das vor aller Augen mordete, und das womöglich bis zum heutigen Tag? Wenn das stimmte – welch ein Armutszeugnis für diese Gesellschaft, für seine Landsleute, für seinen gesamten Berufsstand, ja, auch für ihn! Was für eine Vorstellung. Stahnke hatte selbst keine Kinder, aber eine Ahnung des Grauens, das die Eltern dieser toten Kinder in seinen Klauen halten musste, jahre-, jahrzehntelang, empfand er dennoch. Seine Kiefermuskeln schmerzten wie von einem verbissenen Weinkrampf. »Verflucht«, wiederholte er.

Kramer nickte.

»Im Haus ist jedenfalls nichts«, sagte der Oberkommissar nach einer halben Minute des einverständigen Schweigens. »Oder vielmehr niemand. Wir haben vom Dachboden bis zum Keller alles auf den Kopf gestellt, jede Kammer und jede Abseite durchsucht, auch den Stall. Alles mit den Bauplänen vom Katasteramt verglichen, jede Wand und jeden Winkel genau ausgemessen. Es gibt keine Geheimtüren oder versteckten Räume. Auch keinen Hinweis darauf, dass hier in letzter Zeit irgendjemand gefangen oder versteckt gehalten worden wäre.«

»Also hat dieses Vieh wenigstens jetzt kein Kind mehr in seiner Gewalt«, knurrte Stahnke. »Jedenfalls nicht hier. Aber wie sieht es mit weiteren Immobilien aus? Besitzt er vielleicht irgendwo noch ein anderes Haus oder hat eins gemietet? Oder eine Wohnung, ein Lagerhaus, einen Schuppen, irgendwas?« Der Gedanke, dass in genau diesem Augenblick vielleicht irgendwo ein Kind eingesperrt war, nach der Verhaftung seines Entführers einem qualvollen Tod preisgegeben, machte ihm Angst.

»Mit ziemlicher Sicherheit nicht«, erwiderte Kramer. »Alle entsprechenden Eintragungen sind überprüft worden, Frerichs’ Konten ebenfalls. Weder er noch seine Frau haben anderweitigen Haus- oder Grundbesitz, und nahe Verwandte, auf deren Namen solche Objekte eventuell eingetragen sein könnten, gibt es nicht. Ebenso keine regelmäßigen Mietzahlungen.«

Die grabenden Polizisten arbeiteten verbissen schweigend; immer, wenn es um Verbrechen an Kindern ging, um Kindesmord und mutmaßlichen Kindesmissbrauch, machte sich diese vibrierende Stille breit. Die einzigen Stimmen, die zu hören waren, kamen von der Straße her. Dort, wo eine schmale Steinbrücke das Grundstück mit der Betonstraße verband, hatte sich eine kleine Menschentraube gebildet. Die Gaffer aus der Nachbarschaft. Klar, so einsam konnte ein Haus gar nicht liegen, dass sich diese Typen nicht binnen kürzester Zeit eingefunden hätten.

Wie es am äußeren Absperrungsring aussehen mochte, wollte Stahnke gar nicht wissen. Längst hatten Fernsehen, Rundfunk und Presse Wind davon bekommen, dass sich hier am Ortsrand von Veenhusen ein unscheinbares Anwesen als Horror-Szenario des Jahrhunderts entpuppt hatte – jedenfalls nach ostfriesischen Maßstäben. Wer auch immer die Medien informiert hatte, die Krawallsender und die Boulevardblätter mit den bluttriefenden Schlagzeilen natürlich zuerst, hatte keine Zeit verloren. Vermutlich winkten Informanten-Honorare, aber Stahnke glaubte nicht, dass derartige Anreize überhaupt nötig waren. Bloße Sensationsgier und die Lust, wenigstens in der Zuträgerrolle endlich einmal die ersehnte Beachtung zu finden, reichten völlig aus, und diese Eigenschaften waren hierzulande auch nicht weniger stark entwickelt als im Rest der Republik.

Nur gut, dass Manninga den Tatort weiträumig hatte abriegeln lassen. Irgendwann würde er natürlich nicht umhin kommen, die Medien vorzulassen und wenigstens in groben Zügen zu informieren, noch aber war dieser Zeitpunkt nicht da. Und auf die Idee, einen Hubschrauber für Luftaufnahmen zu chartern, war bisher offenbar noch niemand verfallen. So herrschte rings um das Grabungsareal einstweilen relative Ruhe. Nur diejenigen Nachbarn, deren Häuser innerhalb der Absperrung standen, hatten es bis zur Grundstücksgrenze geschafft. Ein bärtiger Beamter im kurzärmeligen Uniformhemd hinderte diese Leute daran, womöglich auch noch bis zum Tatort selbst vorzudringen, und beteiligte sich dabei eifrig an der plattdeutsch geführten Unterhaltung.

Der Hauptkommissar wies mit dem Daumen auf die Gaffergruppe: »Haben wir die Personalien von denen da?«

»Van Dieken hat sie aufgenommen«, sagte Kramer. »Der kennt die sowieso alle. Wohnt ja selber nicht weit von hier.«

Jetzt erkannte auch Stahnke den knorrigen Streifenbeamten. Er nickte Kramer zu und schlenderte zur Fußgängerbrü­cke hinüber. Bei seiner Annäherung erstarben die Gespräche. Zwei Dutzend Augenpaare schauten ihn erwartungsvoll an.

»Na, van Dieken, alles im Lot? Geben Sie fleißig Interviews?« Stahnkes Verhältnis zu seinem Schupo-Kollegen war ambivalent. Er schätzte die Erfahrung des Dienstälteren durchaus, seinen gesunden Menschenverstand und seinen guten Draht zu den Leuten. Richtig vertrauen aber konnte er ihm nicht. Zu viel Bauernschläue war in seinen Augen, zu viel Stammtischton in seinen Äußerungen. Bei Leuten dieses Schlages wuss­te man nie, auf welcher Seite sie eigentlich standen.

»Was soll ich denn groß sagen, Herr Hauptkommissar?« Van Diekens Grinsen zog seinen grauweißen Bart in die Breite. »Ich weiß doch nichts. Und hab ja auch nichts zu sagen. Bin ja nur ein kleines Streifenhörnchen.«

Stahnke grinste zurück, während er sich fragte, wofür van Dieken ihn denn wohl halten mochte. Vermutlich für ein großes Stinktier, um im Bild zu bleiben.

»Wer von denen hier ist denn der nächste Nachbar?«, fragte er.

»Da, der Olthoff«, erwiderte van Dieken und zeigte auf einen beleibten Mann mittleren Alters. »Der wohnt gleich da vorne. Frerichs’ Auffahrt führt über sein Grundstück.«

»Wie lange wohnt der schon hier?«

Van Dieken wedelte mit der flachen Hand: »Schon ewig!« Mit gedämpfter Stimme fuhr er fort: »Da gab’s mal mächtig Ärger vor ein paar Jahren. Das Wegerecht war nämlich nicht ins Grundbuch eingetragen, und als der Frerichs dem Olthoff im Verein mal dumm gekommen ist, hat der ihm einfach die Zufahrt mit Brettern vernagelt. Das ging bis vor Gericht damals.« Van Diekens Augen funkelten. Ja, so etwas mochten die Leute.

»Und wer hat Recht bekommen?«

Van Dieken zuckte die Achseln: »Vergleich. Die Zufahrt durfte bleiben, aber Frerichs musste ein bisschen was dafür zahlen. Darauf haben sich die Rechtsanwälte geeinigt.« Der Uniformierte schien diesen Ausgang unbefriedigend zu finden; etwas mehr Dramatik wäre ihm offenbar lieber gewesen. Na, die hatte er ja jetzt.

»Schicken Sie ihn mir mal her, den Olthoff.« Stahnke wandte sich ab. Der Dicke hatte offenbar mitgehört und folgte ihm ohne weitere Aufforderung über die schmale Brücke, von den Umstehenden wegen dieses Privilegs neidisch beäugt.

Stahnke führte ihn zur schattigen Terrasse und bot ihm einen der Gartenstühle an. Olthoff nahm Platz, tupfte sich mit einem fleckigen Taschentuch die Schweißperlen von der rosigen Stirnglatze und blickte erwartungsvoll.

Der Hauptkommissar blickte zurück und schwieg. Drei Kinder, überlegte er, drei tote Kinder. Hier im Garten verscharrt. Zwei davon seit wer weiß wie vielen Jahren schon, eins erst seit relativ kurzer Zeit. Und das hier ist der Nachbar. Ein Dörfler, ein Ostfriese, einer vom Stamm der gewohnheitsmäßigen Pflasterer und Über-den-Zaun-Gucker. Einer, dem sein Nachbar solch ein Dorn im Auge ist, dass er ihm bei passender Gelegenheit die Durchfahrt zubrettert. Was wusste so einer? Was konnte, was musste er wissen?

Olthoff trug eine beigefarbene Sommerhose, deren Bund zwischen seinen Bauchfalten verschwand, und ein hellgraues, kurzärmliges Hemd mit großen, weiß verkrusteten Schweißflecken unter den Achseln. Seine leicht vorstehenden Augen waren erwartungsvoll geweitet. Er war gespannt, eindeutig – gespannt wie ein Fußballfan vor dem Anpfiff, wie ein Fernsehzuschauer kurz vor Beginn seiner Lieblingsserie. Keine Spur von Schuldbewusstsein oder gar Angst. Im Gegenteil, er schien seine unverhoffte Wichtigkeit zu genießen. Komplizen stellte man sich anders vor.

Stahnke entschied sich für eine unverfängliche Einstiegsfrage. »Wann haben Sie Esdert Frerichs zuletzt gesehen?«

Olthoff nickte beifällig; die Frage schien innerhalb seiner Erwartungen zu liegen. »Ja, also, gestern Mittag, nicht wahr. Als er abgeführt wurde. Von Ihren Kollegen.« Der Dicke lächelte erwartungsvoll, als rechne er mit einer guten Note.

»Hatten Sie die angerufen?«

»Nein.« Olthoff legte seine rosafarbene Stirn in Falten des Bedauerns. »Ich habe den Schuss nämlich nicht gehört. Muss wohl gerade im Haus gewesen sein. Bei mir ist alles gut isoliert, wissen Sie, Fenster und so, wegen der Bundesstraße, man hätte ja sonst überhaupt keine Ruhe. Aber da waren ja diese Radler, nicht wahr, Ausflügler, die haben’s gehört, und einer von denen hatte ja sein Handy mit.«

»Natürlich.« Stahnke winkte ab; sicherlich stand das alles in der Akte. Wurde Zeit, dass er sie mal las. »Und davor? Wann hatten Sie zuletzt Kontakt mit Esdert Frerichs? Oder mit seiner Frau?«

Energisches Kopfschütteln: »Überhaupt nicht.«

»Wieso überhaupt nicht? Sie wohnen doch praktisch … Na ja, vielleicht nicht Tür an Tür, aber doch Grundstück an Grundstück. Da müssen Sie Ihre Nachbarn doch hin und wieder sehen.«

»Gesehen, ach so, na sicher, wenn Sie das meinen! Ich dachte … Also, Kontakt haben wir nämlich seit Jahren nicht mehr.« Er rollte die Augen gen Himmel. »Seit mehr als viereinhalb Jahren, wenn ich mich nicht irre. Seit dieser Sache vor Gericht.«

Er holte Luft, aber Stahnke schnitt ihm das Wort ab: »Sie meinen Ihren Rechtsstreit um das Überwegungsrecht. Ja, ich weiß Bescheid. Haben Sie sich nicht verglichen seinerzeit? Damit dürfte die Angelegenheit doch erledigt gewesen sein.«

»Ja, das ist richtig.« Olthoff schien beeindruckt. Seine Miene nahm einen ehrfurchtsvollen Ausdruck an, der Stahnke peinlich war, denn er wusste ja, was er alles nicht wusste. »Aber erledigt, also na ja, erledigt … Man ist ja doch etwas reserviert nach so was, nicht?«

»Was heißt das konkret?«

»Na, dass wir danach eben nicht mehr miteinander gesprochen haben.«

»Kein Wort? Seit viereinhalb Jahren?«

»Genau.« Olthoff nickte mehrmals und verschränkte die sonnenverbrannten Arme.

»Waren Sie denn vorher miteinander befreundet?«

»Nein, eigentlich auch nicht. Mal eben ›Moin‹ und ›Wie geht’s?‹ übern Zaun, mehr nicht. Hat sich nie ergeben. Sie, also Margarethe Frerichs, hat ja fast nie ein Wort gesagt. Und er – na, Sie haben ihn ja sicher kennen gelernt.«

»Ich möchte es lieber von Ihnen hören«, sagte Stahnke, der sich fühlte wie früher in der Schule. Wieder einmal keine Hausaufgaben gemacht; jetzt nur keine Blöße geben.

Olthoff schien seine Unterarme noch fester um seinen Oberkörper zu knoten. »Er ist so – abweisend, nicht? Wie er einen anguckt. Ich hab immer eine Gänsehaut gekriegt, wenn ich mehr als zwei Sätze mit ihm gesprochen habe. Weiß auch nicht warum, aber Frerichs kann einem Angst machen. Das heißt, inzwischen weiß man ja doch warum, nicht?«

Stahnke ging nicht darauf ein. »Ging das nur Ihnen so, oder haben das andere Menschen auch so empfunden? Hatte das Ehepaar Frerichs insgesamt wenig Kontakte, waren die beiden isoliert?«

Olthoffs Gesicht formte sich zu einem Fragezeichen – Wölbungen über Stirn und Wange, der kleine offene Mund als Punkt. Zu abstrakt gefragt, entschied Stahnke und setzte neu an: »Waren die Frerichs’ viel unter sich oder bekamen sie öfter Besuch?«

»Besuch!« Jetzt nickte Olthoff wieder. »Oh ja, andauernd. Und immer hier über meine Einfahrt. Einfach immer volle Pulle über meinen Grund und Boden. Ich habe ja keine Kinder, nicht wahr, und einen Hund hab ich auch nicht, aber wenn, da wäre ja keiner seines Lebens sicher gewesen! Und der Frerichs selber auch, immer mit Karacho rein und drüber, ohne eine Spur von Rücksicht, lebensgefährlich!«

»Haben Sie das auch vor Gericht ausgesagt?«

»Ganz genau so, Wort für Wort.«

Stahnke hätte drauf wetten können.

»Und der Besuch, das waren ja nicht nur die Leute hier vom Dorf, Vereinskameraden und so«, fuhr Olthoff fort. »Da waren auch viele Fremde dabei. Welche von weiter weg.«

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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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312 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783839264829
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