Читать книгу: «Ach los, scheiß der Hund drauf!», страница 3

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Aus dem Südsudan sei er geflüchtet, als zwischen dem Norden und dem Süden das Landes ein Krieg ausbrach, erzählte mir Dr. Schumann. In Ghana sei er sofort vom Gesundheitsministerium angestellt worden. Zuletzt war er Distriktsarzt in Kete Krachi in der Volta-Region im Osten des Landes.

Schumann bestätigte mir, dass letztlich immer einer an der jeweiligen deutschen Botschaft gewusst haben musste, wo er sich gerade aufhielt. Im Generalkonsulat im japanischen Osaka-Kobe hat er einen Pass beantragt und erhalten, im Sudan und später in Ghana musste er diesen verlängern lassen. Wenigstens einem Botschaftsmitarbeiter war immer klar, dass sich hier ein in Deutschland gesuchter Massenmörder versteckte.

Und ich saß nun neben diesem Mann, der mir ganz offen sagte: „Ja, es stimmt, ich war am Euthanasieprogramm auf dem Sonnenstein im sächsischen Pirna und im württembergischen Grafeneck beteiligt.” Er hatte zuvor vor dem Gericht in Accra, das über seine Auslieferung zu entscheiden hatte, zugegeben, während des Zweiten Weltkriegs die Tötung von 80.000 bis 120.000 geisteskranken Menschen überwacht zu haben. Das stand auch in der Agenturmeldung vom 4. November 1966.

„Was wollen Sie eigentlich über mich schreiben?”, fragte Schumann. „Meine Eindrücke, die ich beim Gespräch mit Ihnen gewinne”, antwortete ich.

„Was Sie da in diesen Konzentrationslagern gemacht haben, waren ja keine feine Sachen.”

„Nein, das waren keine feinen Sachen. Das mit der Euthanasieanklage, das ist richtig. Ich war der verantwortliche Mann in Grafeneck. Röntgen-Sterilisierungen habe ich auch gemacht, in Auschwitz ... Das war schlimm, was wir gemacht haben.”

Was dort durch Schumann und seine Mitarbeiter geschah, war von einer heute unvorstellbaren Brutalität. Es war gut, dass ich damals relativ wenig von dem wusste, was später bei dem Prozess gegen den Arzt herauskam. Dieser charmante Herr Dr. Schumann hatte erst Debile umbringen lassen, sonderte später arbeitsunfähige KZ-Insassen für die „Gasdusche” aus und hat dann Menschen mit Röntgenstrahlen sterilisiert. SS-Chef Heinrich Himmler habe eine billige Methode für Massenkastrationen rassisch minderwertiger Häftlinge gesucht und diese Versuchsreihen angeordnet, erzählte er mir im Flugzeug. Bei Männern seien die Hoden bestrahlt worden, bei Frauen die Eierstöcke. Wegen der hohen Röntgendosis habe das zu schrecklichen Verbrennungen und in der Regel zum Tod dieser Versuchspersonen geführt.

Es war schier unglaublich, was dieser Mann da trocken erzählte. Und wenn ich ihn ansah, saß da ein sanfter, außerordentlich sympathisch wirkender Opa, der Urwalddoktor, der 20 Jahre zuvor in Luftwaffen-Uniform als KZ-Arzt Tausende Menschen qualvoll verrecken ließ. Darunter auch einige Hundert jüdische Mädchen aus Griechenland.

Er muss sich besonders geschickt angestellt haben und hat das wie Josef Mengele, der Lagerarzt von Auschwitz, als Chance für seine wissenschaftliche Karriere gesehen. Da war keinerlei Gefühl der Menschlichkeit mehr, wenn er 14- bis 18-jährige jüdische Mädchen sterilisierte.

„Wissen Sie, ich habe diese Verbrennungen nie gesehen. Es hat Kontrolloperationen gegeben, an diesen habe ich aber nie teilgenommen.”

„Was geschah denn bei diesen Kontrolloperationen?” – „Nun, die Keimdrüsen mussten herausgeschnitten werden, damit man untersuchen konnte, ob die Röntgenbestrahlung erfolgreich gewesen war. Also, ob die Keimdrüsen durch die Bestrahlung wirklich unfruchtbar geworden waren. Das war in Block 10 in Auschwitz und geschah natürlich ohne Narkose. Dort liefen diese Versuchsreihen mit den griechischen Mädchen und mit Zigeunerkindern. Die armen Menschen.”

Schumann hat das streng wissenschaftlich gesehen. Er fühlte sich als Arzt im Dienst der Wissenschaft. Und für den überzeugten Nationalsozialisten waren Juden und Zigeuner keine Menschen. Es gab durchaus die Anordnungen aus Berlin, aber er hat sie gern und mit Eifer umgesetzt. Seine Erklärung war ganz einfach: Er konnte sich der Sache nicht entziehen und es steckte eine aus seiner Sicht vernünftige Idee dahinter. Sicher, es seien Menschen umgekommen, aber gleichzeitig starben auch Zehntausende an der Front.

Ich gab mir große Mühe, nicht nach dem Motto „Das ist ja schrecklich!“ über ihn herzufallen, und ließ ihn erzählen. Ich habe ihn auch nicht pathetisch nach dem hippokratischen Eid gefragt, aber schon, wie es dazu gekommen ist, dass er als Arzt diesen Drecksjob machen musste.

Dr. Schumann erzählte, dass er 1930 in die NSDAP eingetreten und die nationalsozialistische Idee sein Leben gewesen sei. Und selbstverständlich seien alle Direktiven, die aus Berlin vom Führer oder vom Reichsführer der SS gekommen seien, Befehle gewesen, die er zu befolgen hatte. Eigentlich habe er Pilot werden wollen, erzählte Schumann. Aber er habe sich als Luftwaffen-Oberleutnant die Hand gebrochen und dann sei diese erste Aufforderung aus der Reichskanzlei an ihn als besonders fähigen Mediziner gekommen, in Grafeneck die von Hitler angeordnete Aktion „Gnadentod” umzusetzen. Als „unheilbar krank” geltende Deutsche sollten umgebracht werden. Wie später die Staatsanwaltschaft ermittelte, waren unter Verantwortung Dr. Schumanns in Grafeneck seit 1940/41 829 und später in Sonnenstein 13 720 Geisteskranke ermordet worden.

Auch von seiner Familie erzählte er. Von seiner ersten Frau hatte er sich 1943 scheiden lassen. Die zweite war Krankenschwester in Pirna gewesen und wusste also ganz genau, was für Verbrechen da stattgefunden hatten. Sie war Schumann nach Afrika gefolgt, hatte es dort aber nicht ausgehalten. Sie lebt jetzt unter einem anderen Namen in einer deutschen Großstadt.

Schumann fragte mich, ob ich Grüße an sie übermitteln könnte, denn er werde wohl lebenslänglich zu Zuchthaus verurteilt. Ich musste ihm versprechen, die Adresse nicht journalistisch zu verwenden und er gab mir die Anschrift der Frau in Berlin.

Zwei Stunden hat er im Flugzeug erzählt, dann wurde er müde und schlief ein. Die Maschine kam frühmorgens in Frankfurt am Main an. Ich sagte ihm, dass heute in Deutschland Buß- und Bettag sei, damals ein bundesweiter Feiertag. Er sagte daraufhin etwas pathetisch: „Am Bußtag kehre ich nach Deutschland zurück. Das ist ja sehr symbolkräftig. Ich weiß, ich kriege lebenslänglich.”

Auf dem Flugfeld wartete eine Schar von mindestens 50 Fotografen. Ich stieg neben Dr. Schumann die Gangway herunter. Das sah so aus, als wäre ich einer der Kriminalbeamten. Es war auch kein Journalist da, der mich kannte. Ich flog noch am selben Vormittag von Frankfurt nach Berlin, um mit Schumanns Frau zu sprechen. Die lebte mit den beiden Söhnen in einer Schrebergartenkolonie. Ich richtete die Grüße aus und bekam ein paar Informationen über das gemeinsame Leben in Afrika. Sie war schon 1965 nach Deutschland zurückgekehrt.

Anschließend fuhr ich zurück nach Hamburg und habe die Geschichte geschrieben.

Was mich noch heute beschäftigt: Dieser Mann war einer der ganz großen schrecklichen Mörder der Nazis. Aber wenn ich heute Fotos von damals sehe, dann sieht der Herr aus wie ein Nobelpreisträger für Medizin oder Literatur.

Ich halte es für möglich, dass Schumann auf seiner Flucht bewusst nach Afrika ging, um als Urwalddoktor etwas von dem wiedergutzumachen, was er während des Nationalsozialismus Menschen angetan hatte. Er hätte sich ja auch, wie viele andere Kriegsverbrecher, unter einem anderen Namen nach Südamerika absetzen können. Aber er blieb Dr. Horst Schumann und lebte quasi auf Abruf. Jederzeit hätte einem Auslieferungsantrag stattgegeben werden können.

Ohne Zweifel hat er den Menschen im Südsudan und in Ghana sehr geholfen. Urwalddoktoren wurden von den Afrikanern bewundert, weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass jemand freiwillig aus gesicherten europäischen Verhältnissen zu ihnen kommt, um zu helfen. Dass er auf die Menschen wie ein Homo sympathico wirken konnte, das ist mir im Gefängnis in Ghana klar geworden, als wir ihn abholten und seine Zellengenossen in Tränen ausbrachen. Vielleicht wäre aus Schumann ohne den Nationalsozialismus ein guter Arzt geworden; so aber wurde er zu einem der schlimmsten Verbrecher – allerdings zu einem, der im Gegensatz zu Josef Mengele in Vergessenheit geraten ist.

Bei dem Gespräch in der Nacht im Flugzeug hatte ich aber nicht den Eindruck, dass ihm die Tragweite seiner Euthanasietätigkeit und auch der Zustände in den Konzentrationslagern richtig bewusst gewesen ist.

Die erfolgreiche Geschichte über Schumann hat meine weitere Zeit beim „stern” positiv beeinflusst. Obwohl es auch in diesem Fall eine hitzige Diskussion in der Redaktionskonferenz gegeben hatte. Der „stern” war damals zwar in der Führungsebene mit lauter ehemaligen NSDAP-Mitgliedern besetzt, steuerte aber auf einen linken Liberalismus zu. Ich erinnere mich noch an die Frage des berühmten Erich Kuby, Autor und Filmemacher, ob wir denn einen NS-Massenmörder so menschlich darstellen könnten. Es war diese klassische Frage. „Ja”, sagte ich, „denn es lässt sich nicht bestreiten, dass das ein Mensch war.” Später hat Marcel Reich-Ranicki auf eine derartige Frage ähnlich geantwortet: Natürlich sei Hitler ein Mensch gewesen und kein Elefant.

In der „stern”-Redaktion fand die Mehrheit der Kollegen die Geschichte gut. Es sei richtig zu zeigen, wie normal diese Typen nach außen hin waren, obwohl sie für die Ermordung von mindestens 30.000 Menschen verantwortlich sind.

Übrigens hatte sich Dr. Schumann in den westdeutschen Justizbehörden gründlich geirrt. Zwar saß er vier Jahre in der hessischen Strafvollzugsanstalt Butzbach in Untersuchungshaft, das vor dem Landgericht Frankfurt im September 1970 eröffnete Verfahren gegen ihn wurde aber schon sieben Monate später eingestellt. Der frühere KZ-Arzt galt wegen seines ständig extrem hohen Blutdrucks als verhandlungsunfähig. Im Juli 1972 wurde er endgültig entlassen und lebte bis zu seinem Tod 1983 unbehelligt in Frankfurt.

Das hatte durchaus System. Auch Gerhard Bohne, Leiter der „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten” und als Chef der Aktion „T 4“ zur Liquidation von Geisteskranken Vorgesetzter von Schumann, wurde 1968 für verhandlungsunfähig erklärt.

Atombombensuche im ewigen Eis

Am 21. Januar 1968 kam es in Grönland zu einem atomaren Zwischenfall. „Broken Arrow“ hieß das US-Codewort dafür. Und dieser „gebrochene Pfeil“ löste weltweit in den Redaktionen der großen Nachrichtenmagazine hektische Betriebsamkeit aus. Schnell war bekannt, dass eine achtstrahlige B 52 des strategischen Bomberkommandos der US-Air Force in der Nähe der amerikanischen Air Base Thule mit vier Wasserstoffbomben an Bord abgestürzt sei. Die Nähe zum Stützpunkt deutete darauf hin, dass der Pilot noch eine Notlandung versucht hatte. Diese riesigen Maschinen waren damals nahezu ununterbrochen in der Luft, wurden sogar während des Fliegens aufgetankt.

In der Redaktion des „stern“ wurde die Entscheidung gefällt: Wir müssen da hin. Als Reporter wurden der Fotograf Fred Ihrt und ich ausgewählt. Allerdings teilte mir der Presseattaché der amerikanischen Botschaft in Bonn, zu dem ich gute Beziehungen pflegte, gleich mit, dass die Angelegenheit vom Pentagon restriktiv behandelt werde. Es dürften zwar Journalisten an die Absturzstelle fliegen, aber nur eine begrenzte Anzahl: 20 aus den Vereinigten Staaten und 20 aus Europa. Als große und angesehene Zeitschrift habe der „stern“ zwar gute Chancen, einen Platz zu bekommen, aber keinesfalls zwei. Nein, sagte mir der Presseattaché, er könne da auch nichts zu meinen Gunsten drehen. Es bestünde keine Chance und zuständig sei auch nicht er, sondern der Presseattaché in Kopenhagen.

Damit war für mich die Sache eigentlich gelaufen. Ich bin trotzdem am nächsten Tag mit dem Fotografen nach Kopenhagen geflogen. Von hier aus sollte die Maschine mit den Journalisten nach Grönland, was damals noch dänische Kolonie war, starten. Der dortige Presseattaché bestätigte mir noch mal, was der Mann in Bonn schon gesagt hatte; der Platz für den Fotografen sei sicher, aber für mich bestünde keine Chance. Wir spazierten durch die Stadt und kauften für Fred Ihrt Winterkleidung ein. Schließlich sollte es in die nördlichste Inuit-Siedlung gehen, die nur 200 Kilometer südwestlich des Nordpols liegt.

Für „stern“-Fotografen Fred Irth (re.) war mein Verhalten ein grober Verstoß gegen Freundschaft und Kollegialität. Aber mir war wichtig: Ich hatte die Story.


Ich beschloss, Fred Ihrt noch zum Flughafen zu bringen. Ein wenig neidisch schaute ich mir dort die Truppe an, die nach Grönland fliegen würde: Paris Match war vertreten, Helmut Sorge vom „Spiegel“, Journalisten der großen britischen Blätter Sunday Times, Sunday Telegraf, Guardian, der italienischen Epoca, wohl auch der eine und andere Holländer und Skandinavier sowie Vertreter der großen Agenturen. Vor allem waren es Fotografen, denn die Bilder von der Absturzstelle waren für die Redaktionen das Wichtigste. Mit diesen konnten sie ihren Lesern anschaulich erklären, was in Grönland passiert war. Und dann ereignete sich etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Der amerikanische Presseattaché kam zu mir und sagte: „Randy, we got one more place, if yo want to fly with us ...“ In mir jubelte alles. Ich konnte mitfliegen! Nur, ich stand da im Übergangsmantel. In Kopenhagen herrschten zwar auch minus zehn Grad, aber das war ganz erträglich. Als ich den Mann auf meine dünne Kleidung aufmerksam machte, winkte der nur ab und deutete auf die in Winterpelze gekleideten Kollegen. Das spiele überhaupt keine Rolle. Wir würden alle in Thule sofort neu eingekleidet.

Plötzlich war ich also an Bord der Maschine, hatte keinerlei Gepäck dabei und dankte dem Himmel. Das war etwas ganz Tolles, mitten im Winter nach Grönland fliegen zu können. Nur wegen der Bekleidung hatte ich doch leichte Bauchschmerzen. Und es wurden dann nach der Landung auch dramatische 200 oder 300 Meter, die ich vom Flugzeug bis zur Empfangshalle zurücklegen musste. Wir wurden in Baracken der Air Base gebracht. Diese liegt romantisch von Bergen umgeben. Aber das sah ich erst später, als die Fotos von Fred Ihrt vorlagen. Denn nur in der Langzeitbelichtung des Fotografen war das Gebirge zu sehen. In Thule war es 23 Stunden am Tag völlig dunkel und nur eine Stunde war es etwas grau. Allerdings war es im Lager der Amerikaner hell. Und überall standen Autos mit laufenden Motoren und aufgeblendeten Scheinwerfern.

Die Baracken waren modern ausgestattet. Man kam erst in eine Schleuse mit ganz erträglichen Temperaturen. Im Wohnbereich war es dann so warm, dass man hätte nackt herumlaufen können. Wie versprochen wurden wir eingekleidet, bekamen dick gefütterte Stiefel, Hosen, Jacken, auch eine Gesichtsmaske gehörte zur Ausrüstung. Kurz darauf wurde eine Pressekonferenz angesetzt, denn die ganze Welt wollte endlich wissen, was los ist.

Wie erfuhren Folgendes: Bei einem B 52-Langstreckenbomber seien aufgrund elektronischer Probleme mehrere Triebwerke ausgefallen und der Pilot habe sich daher zu einer Notlandung entschlossen. Als er aber die Maschine nicht mehr kontrollieren konnte, habe er der Besatzung den Befehl zum Aussteigen gegeben. Sieben der acht Männer seien ein paar Kilometer von der Basis einigermaßen heil auf dem Boden angekommen, einer sei umgekommen. Das Flugzeug selbst sei auf das fünf bis sieben Meter dicke Eis aufgeschlagen. Es habe eine gewaltige Explosion gegeben, das Eis sei dabei geschmolzen und die Maschine samt vier Wasserstoffbomben tausend Meter tief ins Meer gesackt. Das Ganze habe sich innerhalb einer knappen Minute abgespielt.

Die Amerikaner versicherten uns, dass auch künftig nichts passieren könne, da die Bomben nicht gezündet seien. Anschließend sei das Eis über der Absturzstelle wieder zugefroren. „Es liegen vier Bomben bei Thule“ titelte der „stern“ später.

Man erklärte uns auch, dass die Restbestände an Trümmern von Spezialisten in Schutzkleidung eingesammelt würden. Wegen der extremen Kälte und möglicher Plutoniumstrahlung dürfe ein Einsatz nicht länger als maximal zwanzig Minuten dauern. Deswegen waren ständig Helikopter unterwegs, die die Leute abholten und neue zu ihrem Einsatz brachten. Auch uns Journalisten boten die Amerikaner einen Helikopterflug an. Allerdings sei man so in Anspruch genommen, dass nur eine einzige Maschinen für einen Flug für insgesamt fünf Presseleute zur Verfügung stehe. Und es würde auch bei dem einen Flug bleiben, da es am nächsten Tag zu einem Wetterumschwung und Eissturm kommen und man dann gar nicht mehr fliegen würde.

Wir wurden gebeten, vier Pools zu bilden und zu entscheiden, welche Fotografen fliegen würden. Der fünfte Platz sollte unter den übrigen 36 ausgelost werden. Für Europa wurden Paris Match und Fred Ihrt vom „stern“ ausgewählt, die anderen beiden Plätze bekamen die Amerikaner. Dann erhielten wir übrigen eine Nummer. Plötzlich kam Helmut Sorge auf mich zu: „Ihr ‚stern‘-Leute habt doch schon einen an Bord, können wir nicht vereinbaren, dass du mir deinen Platz abgibst, wenn du gewinnst?“

Ich sagte: „Ja, das könnten wir machen.“

Die Verlosung fand statt und zum ersten und letzten Mal in meinem Leben gewann ich bei einer Lotterie. Ich hatte tatsächlich den übrig gebliebenen fünften Platz. Helmut Sorge stürzte auf mich zu und umarmte mich: „Da habe ich ja Glück gehabt und ich danke dir!“ Meine nächsten Sätze holten ihn allerdings gleich auf die arktische Erde zurück: „Das weiß ich jetzt nicht, ob ich dir das Ding gebe.“ Der „Spiegel“-Mann, aber auch mein Fotograf standen verdattert da. Wieso, das sei doch so verabredet gewesen. Ich hätte doch sozusagen mein Ehrenwort gegeben, Sorge den Platz abzutreten. „Weißt du“, meinte ich, „das ist in meinem Leben die einzige Chance, im Winter in Grönland auf das Eis zu kommen, wo eine Maschine mit vier Wasserstoffbomben durchgesackt ist.“ Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte mich entschieden, ich würde den Platz behalten.

Dieser Entschluss hatte mehrere Folgen. Der „stern“ war als einziges Nachrichtenblatt mit zwei Leuten an Bord. Fotograf Fred Ihrt, der wesentlich älter als ich und für mich eine Art Vaterfigur war, stellte sich für den Rest seines Lebens bei jeder Begegnung mit mir theatralisch mit dem Rücken an die Wand und sagte, geh du erst vorbei. Denn es sei viel zu gefährlich, in der Nähe eines Typen zu sein, der offenbar auch die eigene Großmutter umbringen würde, um an eine Story zu kommen.

Für ihn, der im Krieg gekämpft hatte, war mein Verhalten ein grober Verstoß gegen Freundschaft und Kollegialität. Für ihn musste man ein gegebenes Wort halten. Und Helmut Sorge hat nie wieder ein Wort mit mir gewechselt. Es herrschte fortan tiefe Feindschaft, wofür ich Verständnis habe. Es gab damals eine harte Konkurrenz zwischen „Spiegel“ und „stern“ und er wusste nicht, wie er seinen Leuten erklären sollte, dass ihm ein Besuch der Absturzstelle verwehrt geblieben ist, während der „stern“ mit zwei Leuten vor Ort gewesen war.

Helmut Sorge war wirklich am Boden zerstört. Er hat dann im „Spiegel“ eine verlogene Geschichte veröffentlicht, wie er sich mit dem Hundeschlitten zur Absturzstelle durchgekämpft hat. Die war vielleicht sogar spannender als meine, nur dass sie eben nicht der Wahrheit entsprach. Sorge hatte sich lediglich bei den Eskimos einen Schlitten und Hunde gemietet und sich fotografieren lassen. Auf das getürkte Material fiel auch der „DDR-Augenzeuge“, eine Dokumentarfilmreihe, herein, der in seinem Bericht über den Absturz eines US-Bombers in der Polarsternbucht als Fremdmaterial den Zeitungsausschnitt „Mit Hundeschlitten auf der Spur nach den Wasserstoffbomben“ einbaute.

Aber ich saß wirklich in diesem Helikopter und flog zur Unfallstelle. Und es hat sich gelohnt. In der totalen Dunkelheit Grönlands sahen wir plötzlich eine schier unglaubliche Szenerie. Die Amerikaner hatten Leitungen verlegt und große Kerosinlampen leuchteten die gesamte Fläche aus, auf der das Flugzeug explodiert war. Eine Anzahl von Männern war dabei, mit einer Art von Staubsaugern die herumliegenden Trümmerstückchen aufzusammeln. Die Bruchstücke waren bis zu zwei Meter tief in das Eis eingeschmolzen. Ich sah mir das an und war sehr froh, zu den wenigen Leuten zu gehören, die das zu sehen bekamen. Nach 20 Minuten wurden wir wieder zurückgeflogen. Jetzt hieß es, das Material so schnell wie möglich in die Redaktionen zu bringen.

Unmittelbar nach der Landung unseres Helikopters erfuhren wir, dass eine halbe Stunde später eine Maschine nach Kopenhagen fliegt. Diese könne aber nur Material mitnehmen. Diese Chance nutzten natürlich die Fotografen. Die Bilder waren viel wichtiger als die Geschichten. Die hätte man in Hamburg auch aus Agenturmaterial machen können, wobei es aber für eine Zeitschrift schöner ist, schreiben zu können, die eigenen Leute sind dabei gewesen. Fred Ihrt gab jedenfalls seine Filme mit einigen schnell geschrieben Notizen ab. Mir riet er, alles in Bewegung zu setzen, damit ich meine Geschichte schnell nach Hamburg kabeln könne. Satellitenverbindungen gab es ja damals noch keine, nur eine Telefonverbindung nach Labrador in Kanada. Es meldete sich ganz leise eine Dame, die mich auf meinen Wunsch, mit Hamburg in Germany zu sprechen, erst einmal mit New York verband. Von dort landete das Gespräch in einer Zentrale in Frankfurt am Main und wurde schließlich in die „stern“-Redaktion nach Hamburg umgeleitet. Ich schrie der Sekretärin meine Geschichte durch und war anschließend völlig glücklich. Und dann kam ein Eissturm, der uns für Tage in die Baracken verbannte.

Abenteuerlich war auch die Rückreise nach Europa. Nach dem Ende des Eissturms wurde uns angeboten, mit einer Maschine der US-Air Force in die USA zu fliegen. Einige der Journalisten wollten lieber auf einen Flieger nach Kopenhagen warten, aber ich kletterte mit Fred Ihrt und weiteren Reportern über eine Steigleiter in den achtstrahligen Boeing-Militärtransporter. Da man uns die Arktiskleidung wieder abgenommen hatte, fror ich prompt mit den Händen an der eisigen Leiter an und riss mir Hautfetzen ab. In der Maschine war es genauso kalt wie draußen, da die Ladeklappen offenstanden. Ich erlebte das, was ich bis dahin nur aus Landser-Heften über den Russlandfeldzug und Stalingrad gelesen hatte: 20 Journalisten kauerten sich ganz eng zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen. Schließlich war alles verladen, die Klappen gingen zu und die Maschine startete. Gleichzeitig fuhr die Heizung hoch und innerhalb weniger Minuten wurde es kochend heiß. Bis auf einen Schützenpanzer war der ganze Frachtraum leer. Wir saßen an den Wänden auf Bänken wie in den Filmen die Fallschirmjäger, bevor sie an die Luke geführt werden, um rauszuspringen. Eine Toilette gab es nicht, nur ganz hinten ein paar Rohre zum Reinpinkeln.

Nach einer Zwischenlandung in Neufundland, wo wir an Bord blieben, landeten wir auf einem Luftwaffenstützpunkt in Newark im Bundesstaat New Jersey, etwa 30 Kilometer südlich der Stadt New York. Bis dahin hatte ich über Passangelegenheiten nicht nachgedacht, jetzt aber wurde das zu einem Problem. Fred Ihrt hatte einen Pass mit amerikanischem Visum, ich einen Pass ohne amerikanisches Visum. Mir wurde mitgeteilt, ich dürfte gar nicht hier sein. Geduldig fing ich an, den Behörden zu erklären, dass ich von der US Base Thule käme, Journalist sei, über den Bomberabsturz geschrieben hätte und nur nach Europa zurückwolle.

Tja, hieß es, man müsse mich sofort zum internationalen Flughafen bringen und die bundesdeutsche Botschaft informieren: Ich würde abgeschoben. Das war ein Erlebnis. Bis dahin war mein Bild von den Amerikanern als Befreier 1945 positiv geprägt gewesen, durch diese Aktion hat es sich verändert. Nicht, dass ich schlecht behandelt wurde, aber ich wurde abgeschoben. Seitdem weiß ich, dass die amerikanische Bürokratie jede andere Bürokratie in der Welt übertrifft. Man brachte mich mit einem Miliärfahrzeug zum internationalen Flughafen. Dort empfing mich der deutsche Presseattaché mit der Frage: „Was haben Sie denn gemacht?“ Dann wurde ich in die nächste Lufthansa-Maschine nach Europa gesetzt. Als ich wieder in der „stern“-Redaktion erschien, war unser Beitrag, mehrere Seiten lang und mit vielen Fotos versehen, längst erschienen. Und, was damals äußerst wichtig war, eine Woche früher als die Geschichte im „Spiegel“.

Übrigens habe ich lange geglaubt, dass die vier Wasserstoffbomben noch immer im Meer schlummern, wie uns damals die amerikanischen Militärs versichert haben. Gewundert hatte mich nur, dass die amerikanischen Soldaten und die dänischen Spezialisten, die da mehrfach zur Absturzstelle geflogen worden waren, ziemlich unzeitgemäß verstarben. Es musste also doch sehr gefährlich gewesen sein. Im Internet kann man jetzt nachlesen, dass die Amerikaner 57 Millionen Liter radioaktiv verseuchten Schnee in versiegelten Spezialcontainern abtransportiert haben. Und aus einem in US-Archiven entdeckten Schreiben von General Edward B. Giller an die US-Atomenergiekommission ist die Rede davon, dass das Flugzeugwrack und drei der Bomben beziehungsweise Bruchstücke von ihnen gefunden wurden. Was aus der vierten Wasserstoffbombe – jener mit der Nummer 78252 – wurde, darüber gehen die Meinungen auseinander. Im August 2000 berichtete die dänische Zeitung „Jyllands Posten“, diese Bombe würde noch immer im Meer liegen. Prompt dementierte das ein Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, alle vier Bomben seien durch das Feuer zerstört worden. Uns wurde damals gesagt, sie seien alle mit dem Wrack versunken.

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