Читать книгу: «Das schöne Fräulein Li», страница 3

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Erst als er diesen Satz wiederholt bekommt, steht Kappe auf und gibt Fräulein Li artig und unsicher wie ein kleines Kind die Hand und verharrt mit auf sie gerichteten Augen.

Herr Li rettet die Situation, indem er seine Nichte bittet, sich zu ihnen zu setzen. Dann klingelt er erneut, damit die Teetassenarm-Chinesin auch der Nichte grünes heißes Wasser eingießen kann.

Aber Kappe achtet nicht darauf. Seine Augen und Gedanken haben ein neues Ziel gefunden. Die kleine Dienerin, an die denkt er längst nicht mehr, die Sorgen mit Klara, der Mord, all das scheint auf einmal weit weg zu sein. Kappe staunt nur noch. Über diese wunderschöne Erscheinung in weiblicher Gestalt und über sich, dass er sich als erfahrener Kommissar und Ehemann noch dermaßen aus den gut geschnürten Schuhen hauen lässt.

Freilich, vollkommen unverständlich ist es auch für einen Außenstehenden nicht. Fräulein Li ist hübsch, hübscher als alle Chinesinnen, die Kappe jemals gesehen hat. Aber mehr noch, und das macht es erst richtig problematisch, sie ist attraktiver als alle Frauen, denen Kappe jemals begegnet ist. Diese Grübchen beim Lächeln links und rechts der kleinen Stupsnase, diese kleinen Fältchen neben den mandelförmigen Augen, diese schon aus der Ferne pfirsichzart wirkende Haut, dieser jugendliche, schlanke Körper, den man unter dem ausgesucht eleganten, hellgrauen, schlichten Kleid gut erahnen kann.

Kappe stottert seine Fragen mehr, als dass er sie preußisch beamtenhaft vorträgt. Natürlich bestätigt Fräulein Li das Alibi ihres Onkels, aber Kappe hört es nicht. Er hört nur den Klang ihrer Stimme, der so jung und zart ist.

Ihr in chinesischer Sprache geschulter Singsang nimmt den deutschen Worten jegliche Härte und betont die Vokale anders, manchmal falsch, aber auf jeden Fall reizend. Sicher kommt sie auch aus Südchina, wie die meisten in Berlin lebenden Chinesen, spricht Kantonesisch und hat für jeden Vokal neun verschiedene Tonhöhen, während Hochchinesisch ja nur vier verschiedene Tonlagen kennt.

Tam hat ihm das erklärt.

Dass er ausgerechnet jetzt daran denken muss! Was hat sie gesagt? Kappe ist verwirrt.

Lienhwa Li schließt den Mund mit einem stillen, reinen Lächeln. Einen Moment lang schaut sie Kappe an, dann senken sich ihre Augen auf die über dem Schoß gefalteten Hände.

«Wenn Sie keine Fragen mehr haben, lassen wir Lienhwa wieder ans Studieren gehen, nicht wahr?»

Obwohl Kappe die Frage von Herrn Li hört, öffnet er den Mund nicht für eine Antwort. Er fürchtet, dass sich sonst seine Gedanken, denen er nachhängt, unbewusst einen Weg zur Zunge bahnen und als Worte für jeden hörbar werden könnten. Und nichts wäre peinlicher als das. Kappe nickt deshalb nur.

Fräulein Li verabschiedet sich.

DREI

VIELLEICHT IST IHR VATER JA PERVERS. Und ihr Großvater auch. Denn wenn die Töne, die sie so schön finden, Ausdruck tiefster, dunkelster Verzweiflung sind – und vieles spricht dafür –, wenn diese Klänge Einsamkeit, Trauer und Todesangst widerspiegeln, wäre es doch pervers, sich daran zu erfreuen. Aber sie tun es. Seit Kweihwa Li ein Kind war, tun sie es. So wie viele Männer. Eigentlich wie alle älteren Männer, die sie kennt. Erst jetzt merkt sie, dass sie sich noch nie überlegt hat, wie sich die Grillen dabei fühlen. Nun singen sie wieder. Laut und schrill. Kweihwa Li tritt aus der Schlange, in die sie sich vor der kleinen Post in Qingtian eingereiht hat, und beugt ihren schlanken Körper ein wenig zu dem alten Mann hinunter, der auf der Straße hockt und vor sich zwei Dutzend Tontöpfe mit lebendem Inhalt aufgestellt hat.

In sechs darüber gestapelten kleinen Korbkäfigen, durch deren enges Geflecht man die Insekten mehr erahnen als sehen kann, zirpen Tiere vor sich hin. Sie symbolisieren das Frühjahr.

Das ist nun da. Ihr Großvater freut sich seit Jahren, wenn er diesen Klang der sprießenden Natur, der wärmer strahlenden Sonne über den Winter retten kann, wenn seine Grille überlebt. Aber sie muss ihre Tage in einem kleinen, engen, dunklen Gefängnis fristen. Und vielleicht ändert sich deshalb im Laufe der Zeit ihr Klang, vielleicht sind es bald nicht mehr die Töne des Frühjahrs, die sie zum Besten gibt, sondern die der Einsamkeit und der Todesangst.

Kweihwa Li hat sich noch nie Gedanken gemacht über Grillen, seit sie vor neunzehn Jahren auf die Welt gekommen ist. Aber nun steht sie da auf der staubigen Straße hinter den Müttern, die Post von ihren Söhnen erwarten, und den Männern, die sich Geschäftsbriefe erhoffen mit neuen Bestellungen für Schnitzereien.

Und Kweihwa Li? Sie hofft auf einen Brief ihrer Schwester. Sicher wird Lienhwa wieder von ihrem politischen Kampf gegen die Ungerechtigkeit schreiben, denkt sie, von ihren Diskussionen mit kommunistischen Studenten in Berlin und ihrem Streben danach, allen Frauen Zugang zur Bildung zu verschaffen. Sie schreibt das immer so ernst, als wolle sie eine Rede halten.

Kweihwa Li hat nie verstanden, warum sie ihr das schreibt, hat das doch mit ihrem Leben hier nichts zu tun, denkt sie. Die Kommunisten kämpfen in Peking oder Shanghai. Und Freiheit, Gleichberechtigung? Ihr Vater wird schon wissen, was gut für sie ist. Wenn man sich um etwas kümmern könnte, dann vielleicht um die Freiheit der Grillen.

Aber bald hat sie auch diese vergessen. Mit kleinen schnellen Schritten tippelt sie auf ihrem Rückweg aus der Post an den Tierchen vorbei, den Brief in den Händen. Sie will ihn erst zu Hause öffnen und alleine auf der Bank hinterm Haus lesen.

Liebe Kweihwa,

meinen Dank will ich Dir zuerst übermitteln für den schönen Anhänger und den feinen Tee. Das bringt mir ein Stück Heimat in der Ferne. Das ist lieb. Ich denke oft an Dich und hoffe, dass es Dir gut geht, Mama und Papa auch. Ich schreibe ihnen ja gleich noch einen eigenen Brief. Oft denke ich, wie schön es doch wäre, wenn Du mich hier besuchen könntest. Und wir könnten in Revuen gehen und in Clubs. Da wird getanzt. Manche Frauen, Du wirst es nicht glauben, tanzen hier ganz nackt. Ausdruckstanz nennen sie das. Aber es gibt auch Ausdruckstanz, bei dem die Frauen angezogen sind. Sicher, die Nackten, das ist eher was für Männer. Und manche der Frauen verkaufen sich auch. Eine hat mir mal erzählt, wenn man genug Kokain nimmt (das wird hier genommen und nicht so häufig Opium wie bei uns), dann mache es einem gar nichts mehr aus, mit verschiedenen Männern … Dann mache das sogar Spaß. Du siehst, man kommt hier sogar mit solchen Menschen in Kontakt. Aber nein, liebe Kweihwa, hab keine Angst! Deine Schwester macht so etwas nicht.

Aber ich muss zugeben, es ist hier schon offener. Also man küsst sich schneller als bei uns, und dass man einen Freund hat, bevor man heiratet, das ist auch normal. Ach, erst neulich traf ich einen sehr netten schüchternen Mann, einen älteren, bärtigen. Zugegeben, er ist verheiratet, und er ist wohl auch nichts für mich, aber es ist schön, dass es Männer gibt, die so ganz anders sind als unsere. Nicht so dem Patriarchat verhaftet. Ach, welch Wort verwende ich hier, Schwester –ich meine, einfach nicht so lautsprecherisch. Ganz im Gegenteil, er ist so zurückhaltend, so … Na ja, ich glaube jedenfalls, ich habe ihn sogar verlegen gemacht. Stell Dir das mal vor, ich mache einen ausgewachsenen deutschen Mann verlegen! Und dabei ist er sogar Polizist. Ach ja, das hab ich Dir noch gar nicht geschrieben: Ein Händler von Onkels Konkurrent wurde erschlagen. Schlimm! Ein Mord! Wir als Konkurrenz sind verdächtigt worden. Wie absurd! Noch hat die Polizei keinen Täter. Der Bärtige sucht nach ihm. Ein bisschen hab ich ja Angst, dass es ein Ausländerfeind gewesen sein könnte, der den Mann totschlug. Neuerdings liest man hier nämlich in Zeitungen nicht nur Nettes über Menschen aus fremden Ländern. Eine Zeitung, der «Lokal-Anzeiger», nennt Ausländer gelegentlich «Parasiten am deutschen Volkskörper». Er gibt ihnen die Schuld dafür, dass die Preise hier steigen. Dabei sind die wirklich niedrig. Viele studieren hier, weil es billiger ist als in Paris. Nur ein Drittel so teuer wie dort ist es hier.

Also, wie gesagt, ich fände es schön, wenn Du mich besuchen könntest. Es ist nur so, das las ich neulich, dass man es Ausländern schwerer machen will, nach Deutschland zu kommen. Man bekommt nur noch für vierzehn Tage einen Sichtvermerk und auch nur, wenn es einen zwingenden Grund dafür gibt. Aber ich denke, Onkel könnte da schon etwas machen. Ich werde mal bei der chinesischen Gesandtschaft nachfragen. Die ist ja nicht weit von hier entfernt, am Kudamm. Du brauchst auch keine Angst haben. Im Westen, wo wir wohnen, ist alles sicherer als im Osten, wo die Händler leben und die Arbeiter. Es leben zwar sehr viele Russen in der Gegend, aber das sind feine Leute. Auch die meisten meiner Mitstudenten wohnen hier. Dir wird es hier gefallen. Wir werden einkaufen gehen, ins Theater und, wenn Du magst, auch mal in Piscators proletarisches Theater. Nun, liebe Kweihwa, nachdem ich so wirr und so viel geschrieben habe, muss ich los. Wir wollen uns heute Abend im Verein der Chinesischen Studenten treffen. Wenn wir weiter so wachsen, haben wir bald dreihundert Mitglieder.

Du fehlst mir, Schwester!

Bis dahin alles Liebe,

Deine an Dich denkende und Dich nicht vergessende Lienhwa

VIER

«ALLES GEHT! Man muss sich nur zusammenreißen, und man muss wollen.»

Sein Vater hatte Kappe diesen Spruch mitgegeben. Schon als Kind musste er sich das anhören. Und nun tut er das, was er sich als Junge nie hätte vorstellen können: Er sagt sich diesen Spruch selbst oft vor. Gerade in den vergangenen Wochen. Er hat sich zusammengerissen, er hat versucht, nicht an Fräulein Li zu denken. Er hat sich all das vor Augen gehalten, was er einst so an Klara liebte. Er wollte von ganzem Herzen seine Gefühle für sie als die einzig Richtige wieder mobilisieren. Er wollte die Chinesin vergessen, die er doch nur einmal sah, aber an die er immer wieder denken musste, als er in Klaras Armen lag. Und beinahe wäre es gelungen.

Klara hat, nachdem er signalisierte, sich wieder mehr für sie zu interessieren, nicht mehr darauf beharrt, schnellstmöglich wegzuziehen. Sie, die zunächst immer verschlossener wurde, ist fast wieder der lachende und offene Mensch von früher geworden.

Und im Dienst kümmerten sie sich in letzter Zeit um einen Raubmord aus Weißensee und um eine Eifersuchtstat aus Tempelhof. Fälle, die einfach zu klären waren.

Von Canow selbst hatte ja angeordnet, den Chinesen-Mord erst einmal liegenzulassen und als das bedauerliche Ergebnis einer üblichen Kneipenschlägerei zu betrachten, bis sich etwas Neues ergäbe.

Alles ist also gut, als Kappe mit Klara und den Kindern am Frühstückstisch sitzt. China ist weit weg. Fräulein Li auch. Denkt Kappe zumindest, bis er den Lokal-Anzeiger aufschlägt und die kleine Telegraphische Meldung zu lesen beginnt, die gerade mal acht Zeilen lang ist:

Peking. Bei Morgenanbruch begann bei Chang-siut-ien ein Gefecht. Das Feuer der schweren Artillerie war in Entfernung von zwölf Meilen hörbar. Nach Berichten aus Kanton…

Kappe liest nicht weiter. Die Namen der Städte, der Provinzen, all das sagt ihm nichts. Und was interessieren ihn die Gefechte? Dass die Meldung von China handelt, genügt, um seine Gedanken an den blutigen Toten auf der Brücke, vor allem aber an die Schöne von der Kantstraße in Gang zu bringen. Sie ist nicht einmal zwölf Meilen von ihm entfernt. Ob dort auch hörbar ist, was er denkt und wovon er in so vielen Nächten träumt?

Kappe denkt noch immer darüber nach, als er auf dem Weg zur Arbeit die Verkäuferinnen in der Straßenbahn mustert, als er den auf dem Trottoir gehenden Frauen nachschaut. So viele Frauen gibt es, denkt er, und letztendlich sollte man doch froh sein, eine treue, eine eigene zu haben. So wie er. Er müsste eigentlich glücklich sein. Er will sich Fräulein Li aus dem Kopf schlagen.

Im Bureau meint Galgenberg, der neue Papst Pius XI wolle wohl die Arbeiterschaft strafen und lasse es deshalb am Tag der Arbeit regnen, was das Zeug hält.

Das wäre ja nicht so schlimm, denkt Kappe, wenn der 1. Mai wenigstens noch gesetzlicher Feiertag wäre. Dann hätte er es sich mit Klara und den Kleinen bei dem Wetter zu Hause gemütlich gemacht. So aber muss er, weil es die Kollegen ja auch tun, Interesse an dem Aufruf der drei sozialistischen Parteien heucheln, diesem folgen und quasi dienstlich in den Lustgarten marschieren. Dort darf er sich nass regnen lassen und Schilder lesen, auf denen Nieder mit der Kapitalistenbande in Genua! steht.

In Genua war die Weltwirtschaftskonferenz gescheitert. Rathenau hatte dem mit Sowjetrussland geschlossenen Vertrag von Rapallo zugestimmt. Beide Staaten verzichteten seither gegenseitig auf den Ersatz von Kriegskosten.

Kappe hat das nicht so sehr interessiert. Klar, er empfindet die Reparationszahlungen auch als ungerecht. Und sicherlich hätte er es gern gesehen, wenn Rathenau die Anbindung an die Westmächte gelungen wäre. Er mag Rathenau. Nicht nur, weil er ein unabhängiger Geist ist, sondern auch, weil dessen Vater die AEG gegründet hat und die NAG, die Nationale Automobil-Gesellschaft, deren Fabrikate Kappe gefallen.

«Lange wird das eh nicht gehen. Die werden abbrechen müssen bei dem Wetter», sagt Galgenberg neben ihm.

Und er behält recht. Ein Sprecher gibt bekannt, dass die Kundgebung angesichts der Witterungsverhältnisse verkürzt werden müsse.

Noch bevor sie nach gut fünfzehn Minuten vorbei ist und die 200 000 Menschen zu den Straßenbahnen drängen, stürzt ein Schutzpolizist auf Galgenberg und Kappe zu. «Ein Mord, ein Mord! Sie müssen gleich kommen! Sofort!»

«Wo?», fragt Kappe.

«In der Akazienstraße in Schöneberg!», sagt der Polizist. Leicht fällt es Kappe und Galgenberg wahrlich nicht, der Aufforderung ihres Kollegen zu folgen und sofort dorthin zu eilen angesichts der Massen, die nun weg strömen aus dem unwirtlich nassen Lustgarten. Und eines der wenigen Autos der Kriminalpolizei hat der Schupo nicht mitgebracht.

Auf der Akazienstraße blockiert eine Menschenansammlung die halbe Fahrbahn.

«Das geschieht ihm recht! Der hat sich sicher an unsere Hausfrauen ranmachen wollen», hört Kappe eine Stimme aus der Menge.

«Ach was, die richten sich doch selbst, diese Typen! Alles eine Verbrecherbande!»

Kappe weiß noch immer nicht, dass es sich bei dem Toten um einen Chinesen handelt. Aber er hat, nach diesen Worten der Umstehenden, schon ein ungutes Gefühl, als er sich seinen Weg durch die Schaulustigen bahnt. Ein einfach zu lösendes Eifersuchtsdrama oder einen der üblichen Raubmorde, dagegen hätte er nichts einzuwenden. «Bloß nicht noch ein Chinese!», sagt er schließlich zu Galgenberg.

Dieser nickt. Der Schweiß läuft ihm über Stirn und Wange und versickert in den Falten seines Doppelkinns.

Schon steht Dr. Kniehase mit vorwurfsvoller Miene vor ihnen. «Noch ein Chinese! Erstochen. Auf dem zweiten Treppenabsatz im Seitenflügel. Keine Zeugen, keine Tatwaffe, keine Hinweise. Keiner hat was gesehen oder gehört.»

«Dann haben Sie also schon alles ausermittelt. Prima!», erwidert Kappe.

«Zeit genug hatte ich ja», entgegnet Dr. Kniehase spöttisch. Es ist immer angenehm, in einer entspannten Atmosphäre zu arbeiten, denkt Kappe, vor allem, wenn man sich dazu im Beruf noch an schönen Dingen erfreuen kann. Inzwischen blickt er in die weit aufgerissenen Augen des Chinesen.

Der ist viel kleiner als das erste Opfer. Dennoch litt er offenbar nicht an Blutarmut.

«Das krieg ich nie und nimmer aus dem Holz! Was sag ich nur Herrn Vetter? Der hat doch erst letztes Jahr die Stiegen neu machen lassen», jammert die Hauswartsfrau, die von zwei Schutzleuten im ersten Stock zurückgehalten wird.

Tatsächlich ist auch Kappe über den Aderlass einigermaßen erstaunt.

«Im Orient tötet man Tiere bei lebendigem Leibe und lässt sie ausbluten. Das gibt gutes Fleisch», sagt Galgenberg.

Wieder muss Kappe an den Serienmörder und Wurstverkäufer Karl Großmann denken. «Aber rausgeschnitten wurde ihm ja nichts, und sein Hab und Gut ist auch noch da.» Er deutet auf einen achteckigen Lederkoffer, der offensichtlich fünf Stufen die Treppe hinuntergekullert und dann aufgeplatzt war. Lackdöschen, Papierblumen, ein paar Fächer und drei kaputte Teetassen liegen verstreut auf der Treppe. «Also wieder ein Handelsvertreter», stellt Kappe fest.

Weder in der Tasche noch in dem mit Blut verklebten Anzug des Toten finden sich irgendwelche Ausweispapiere. Die Helfer der Rechtsmedizin wollen die Leiche schon mitnehmen, doch da bedeutet ihnen Kappe, noch einen Moment zu warten. Er beugt sich über den Toten, wedelt die Fliegen, die sich an der Wunde laben, beiseite und stochert mit einem der Fächer, den er sich genommen hat, im Blut herum, das sich rund um die aufgeschlitzte Kehle gesammelt und die Kleidung aufgeweicht hat. Das erste Opfer, da erinnert er sich genau, hatte doch so einen Jade-Anhänger. Dieses hier aber offenbar nicht. Kappe findet allerdings ein auseinandergerissenes Lederband, das er mit spitzen Fingern aus dem Blut fischt. «Vielleicht war da ja ein Jade-Anhänger dran, und der Täter hat ihn mitgenommen.»

«Das Band wird durch den Stich zerteilt worden sein, und der Anhänger ist runtergefallen. Der hat sonst ooch nischt mitgenommen. Selbst det Jeld ist noch inner Tasche», meint Galgenberg. Aber finden kann er auf dem Boden keinen Jade-Anhänger. «Und wenn schon! Wenn er fehlt, ist doch ejal! Oder wollste ihn für Klara mitnehmen?»

Dass sie aussteigen würde, konnte er nicht ahnen. Hätte er es geahnt, hätte er auf dem Absatz kehrtgemacht und Tam alleine stehengelassen. Nun war es zu spät.

Es ist selbstverständlich, dass Kappe und sein Dolmetscher stehengeblieben sind. Wann hält schon mal ein Maybach Phaeton auf der Krautstraße im gelben Viertel? Da muss man einfach schauen, wer aussteigt.

Erst der Chauffeur, ein großgewachsener Mann mit Schnauzbart und Mütze.

Als der die Tür des Fonds öffnet, sich ein kleiner Kopf herausreckt und kleine Füßchen sich aufs Trittbrett tasten, weiß Kappe sofort, wer es ist. Als sie aufschaut und ihn erblickt, sind sie wieder da – ihre Grübchen und Kappes Herzklopfen. Mit leichtem Akzent in ihrer sanften Stimme begrüßt Fräulein Li Kappe und wechselt dann ein paar Worte auf Chinesisch mit Tam.

«Sie hier?», fragt Kappe nach der höflichen Begrüßung. «Aber warum denn auch nicht?»

«Na ja, so standesgemäß ist es hier ja nicht gerade für eine Dame wie Sie.»

«Ich bin Studentin, ich bin Chinesin, ich liebe meine Landsleute. Und wo sonst sollte ich das einkaufen, was ich zum Kochen brauche?» Die Sätze, die sie Kappe an den Kopf wirft, wirken selbstbewusst, fast arrogant und überheblich.

Kappe ist das egal. Er strahlt sie an, und erst als Tam auf Deutsch fragt, ob sie etwas von dem Mord wisse, scheint sich auch Kappe daran zu erinnern, weshalb sie hier sind.

«Ja, schrecklich!», sagt Fräulein Li, die offiziell noch gar nichts von dem Toten hat wissen können. «Hak Gam hat schon lange für uns gearbeitet. Er war immer so fleißig und ehrlich.»

«Woher wissen Sie denn, wer der Tote ist?», will Kappe wissen.

«Wissen? Ich weiß es nicht. Aber ich habe es gehört. Und man erzählt sich bei uns keine Lügenmärchen wie in der deutschen Politik.»

«Könnten Sie ihn identifizieren? Im Leichenschauhaus, meine ich?»

«Das wird mein Onkel gerne übernehmen. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden?»

Als Fräulein Li weg ist, wendet sich Tam an Kappe. «Wenn der Tote wirklich Herr Gam ist, dann kannte ich den natürlich auch. Den kannte ja fast jeder hier. Der war ein alter Hase im Geschäft. Früher hat er für Herrn Lau, Wongs Vorgänger, gearbeitet, und dann, als Herr Wong kam, ist er zu Herrn Li übergelaufen. Er war wohl eher der alten Schule zugeneigt. Ein Gentleman, ganz korrekt.» Viel Neues wird ihm Wong also nicht erzählen können, denkt Kappe. Trotzdem, er will schnell zu ihm, er will es hinter sich bringen, das Gespräch mit diesem unangenehmen Menschen.

Und kaum ist er bei ihm, kommt er auch sofort auf den Punkt: «Es war ein sehr lukratives Gebiet, das Herr Gam betreute. Viel Geld kann man da verdienen in diesem Schöneberger Kiez. Geld, das nun Li bekommt. Haben Sie nicht versucht, ihn zurückzugewinnen?» Kappe lässt Tam sofort diese Kernfrage stellen. Er will Wong signalisieren, dass er alles weiß.

Wong antwortet gelassen, zieht zwischendurch an seiner Zigarette und nippt an einem Glas, dessen Inhalt wie Apfelsaft aussieht, aber wohl doch Whisky ist.

«Sicherlich, mein Herr», übersetzt Tam. «Das Gebiet ist gut. Es gehörte früher zu unserem Hause. Nun aber eben nicht mehr. Es ist wie beim Mahjong: Auch wenn man eine gute Strategie verfolgt und letztendlich gewinnt, manches Gefecht verliert man. Bei Ihnen sagt man, glaube ich, man kann eine Schlacht verlieren, aber Hauptsache, man gewinnt den Krieg.»

«Aber wollten Sie Gam nicht zurückhaben?», fragt Kappe. «Nein. Reisende soll man nicht aufhalten.»

Diese zur Schau getragene Gelassenheit kann Kappe nur schwer aushalten. Er fährt unbeirrt fort: «Wo waren Sie heute zwischen neun und elf Uhr?»

«Hier. Ich habe gearbeitet. Papiere für den Zoll, für die Behörden. Sie glauben gar nicht, wie schwer es hier für Ausländer ist. Sie wollen sicher Zeugen. Sieben, acht Mitarbeiter sind immer da. Soll ich sie rufen? Sollen sie für mich schwören?» Wong lächelt. Es ist ein Siegerlächeln. Eines, das sagt: «Ihr könnt mir gar nichts. Ihr wisst zwar, ich spiele ein falsches Spiel, aber ihr könnt mir überhaupt nichts.»

Kappe kann das nicht ausstehen. Es ist das Lächeln des Radrennfahrers, der als Einziger kokst, gewinnt und auf dem Siegertreppchen alle Ehrlichen auslacht.

Als Kappe und Tam wieder auf die Straße treten, schleicht ihnen ein kleiner Chinese hinterher. Er spricht Tam auf Chinesisch an.

Dieser scheint sichtlich interessiert. Aber bevor er es Kappe übersetzt, ist der Chinese in dem Passantengewusel auch schon wieder verschwunden.

Er habe gesagt, erzählt Tam Kappe, dass Wong versucht habe, Gam zurückzugewinnen, erst mit Geld, dann mit Drohungen. Er wisse es genau, weil er zusammen mit Gam in der Andreasstraße gewohnt habe.

«Dann wissen wir wenigstens, wo wir als Nächstes hingehen», beschließt Kappe. «Und dort nehmen wir uns das Bürschlein noch mal vor. Das soll er uns mal schön zu Protokoll geben.»

«Nein, er wird nicht da sein. Das hat er schon gesagt», erklärt Tam. «Die Wirtin wird uns das Zimmer zeigen, ihn aber werden wir erst heute Abend sprechen können. Er hat Angst, ins Polizeipräsidium zu kommen, denn das werde von chinesischen Spitzeln beschattet. Er will uns um neun im sogenannten Café Zwecklos in der Friedrichstraße treffen.»

«Aber das ist doch das Café der Filmleute», sagt Kappe ein wenig verwundert.

«Eben! Keiner vermutet dort einen kleinen, illegal hier lebenden Chinesen.»

«Illegal?», fragt Kappe.

«Ach, seien Sie nicht strenger als der Polizeipräsident! Wenn der Chinese uns hilft, dann ist das Illegal doch sehr egal.»

Bei der Inspektion des Zimmers von Hak Gam merkt Kappe sehr schnell, dass er sich die auch hätte sparen können.

Gam hat gehaust wie das erste Opfer – armselig.

Ein paar Briefe beschlagnahmt Kappe, doch schon beim ersten Drüberlesen sagt ihm Tam, dass es sich um Briefe von Bruder und Schwester handele, nichts Aufregendes also.

Ansonsten findet sich nichts Verdächtiges oder Interessantes. Lediglich unter der Matratze liegen zweitausend Reichsmark. Die hatte Gam wohl angespart. Dass es sich bei dem Toten auch tatsächlich um Hak Gam handelt, bestätigt Tam schließlich bei einem Besuch in der Rechtsmedizin.

Nun also sitzt Kappe mit Tam an einem kleinen Marmortischchen im Café Zwecklos, dessen Name darauf anspielt, dass dort, leider oft vergeblich, Schauspieler, Bühnenbildner, Drehbuchautoren und Regisseure auf Aufträge von der in der südlichen Friedrichstraße konzentrierten Filmindustrie hoffen. Für später am Abend hat er sich noch mit seinem Freund Lubosch verabredet, der bis zehn im Adlon arbeitet. Aber jetzt erst einmal das Dienstliche. Am Nachbartisch erkennt Kappe Fritz Lang, den Regisseur. In die Filmpaläste geht er gerne. Und technikbegeistert, wie er ist, hofft Kappe, dass die Erfindergemeinschaft Tri-Ergon, die nun erstmals im Alhambra am Kudamm einen experimentellen Tonfilm zeigt, Erfolg haben wird und sich durchsetzt. «Wäre das nicht toll? Frauen hört man dann singen, Männer schimpfen, Kinder schreien. Wie im richtigen Leben!», sagt Kappe enthusiastisch.

«Aber das haben wir doch jeden Tag zu Hause. Will man das auch noch im Kino hören? Und sicherlich schädigt so was das Gehör», meint Tam.

Weiter können sie nicht diskutieren. Der kleine Chinese, Herr Lei, dessen schäbige Kleidung sich deutlich abhebt von der Garderobe der anderen Gäste an den Tischen, betritt das Café.

Kappe und Tam haben extra einen Tisch am Rand gewählt, wo es nicht ganz so viel Trubel gibt.

Der junge Chinese fragt, ob die beiden ihn einladen würden und er sich etwas zu essen bestellen dürfe.

Kappe nickt.

In der folgenden halben Stunde, in der sich der Chinese regelmäßig nervös umdreht, erzählt er Tam, wenn er nicht gerade hastig Gulaschsuppe löffelt und sein dunkles Bier dazu trinkt, was er über Gam weiß.

Dieser habe ihm gesagt, er sei gut ausgekommen mit Herrn Lau, doch als Wong das Geschäft übernommen habe, sei alles anders geworden. Wong habe kaum noch Waren auf Kommission herausgerückt und die Gewinnmargen gekürzt. Zudem habe er angeboten, den Händlern billiges deutsches Porzellan mitzugeben, weil die Hausfrauen das ohnehin nicht merken würden.

Nun erinnert sich Kappe an die Kisten mit den deutschen Aufschriften in Wongs Lager. Aber er will Tam nicht unterbrechen.

Dieser übersetzt weiter und sagt, dass Herr Gam anfangs die geringeren Margen akzeptiert habe, aber deutsches Porzellan nicht verkaufen wollte. Er habe seinen Stolz gehabt. Schließlich warf er alles hin und ging zu Li. Das lukrative Schöneberger Viertel nahm er als Vertriebsgebiet mit. Er war dort beliebt. Manchen Frauen verkaufte er sogar grünen Tee, und das, obwohler dafür keine Genehmigung hatte. Fortan handelte er nun also mit Waren von Li. Wong bot ihm zunächst wieder höhere Margen, dann aber drohte er ihm, ihn wegen des Teehandels anzuschwärzen. Schließlich schickte Wong eigene Händler in das Gebiet, aber die meisten Kunden dort wollten nur bei Gam kaufen. Deshalb habe Gam ihm, also Herrn Lei, anvertraut, dass er bedroht werde. Nicht Wong persönlich, aber einer seiner Leute, er wisse nicht wer, habe Gam gesagt, er solle sich in Acht nehmen. Das Leben könne kürzer sein, als man denkt. Vor vier Wochen dann sei Gam zusammengeschlagen worden, aber er habe das nicht angezeigt.

Kaum ist Tam mit der Übersetzung fertig, da spuckt Herr Lei unter den entsetzten Blicken der ringsherum Sitzenden auch schon auf den Boden, springt auf und sagt, er müsse los, weil er heute Abend noch in der Garküche zu arbeiten habe.

Kappe ist es nicht unrecht, dass er nun auch gehen kann. Er wird gerade noch rechtzeitig zum Adlon kommen. Immer, wenn Kappe Zeit hat und Liepe treffen will, wartet er gegenüber vom Adlon, vor der französischen Botschaft. So haben es die beiden grundsätzlich vereinbart.

Und immer, bevor Liepe sich auf den Heimweg macht, schaut er dort vorbei, um zu sehen, ob Kappe da ist. Und so ist es auch an diesem Abend des 1. Mai.

Gemeinsam gehen sie Unter den Linden entlang. Kappe erzählt Liepe von dem neuesten Chinesen-Mord.

«Dann musst du recherchieren, wo sich die wichtigsten, die schönsten und reichsten Chinesen treffen», sagt Liepe.

«So?»

«In der Kantstraße hat ein neues Lokal aufgemacht. Ich sag dir, unsere Gäste sind begeistert. Deutsche Kellner, orientalische Küche. Und das Beste, da isst man mit Stäbchen, so richtig echt. Das ist der Renner. Alle unsere Gäste wollen dahin. Aber die meisten kommen wieder zurück, weil denen dort das Essen zu fett ist. Zu scharf und zu viel Maggi. Los, da gehen wir hin!»

Kurz darauf stehen sie tatsächlich in der Kantstraße vor besagtem Lokal. Von der Straße aus sehen sie die Tische mit schneeweißen Tischdecken, beladen mit Schälchen und Geschirr, Kellner mit Fliegen eilen umher, Gäste stehen zwischen den Stühlen. Sie sind wohl zu spät.

In diesem Moment, als sie noch überlegen, ob es sich überhaupt lohnt hineinzugehen, wird die Tür von einem livrierten Pagen aufgehalten, aber nicht für sie, sondern für Gäste, die herauskommen.

Die kleinen Füße, die mit kurzen Schritten auf Kappe zu tippeln, hat er schon einmal gesehen – heute Mittag, als Fräulein Li aus dem Maybach stieg. Und nun also kommt sie ihm hier entgegen. Sie ist in Begleitung von sechs jungen Chinesen, sicher Studenten, denkt Kappe.

Fräulein Li, eine von zwei Frauen in der Gruppe, dreht sich zu Kappe um und winkt mit ihrer kleinen Hand.

Kappe hört nicht, was sie sagt. Er steht etwas abseits und ist so überrascht, das schöne Fräulein wiederzusehen, dass er keinen Ton herausbringt. Unbeholfen winkt er zurück.

«Was is ’n los mit dir? Kennste die?», fragt Liepe.

«Ach, die … Fräulein Li, das ist … die ist …»

«Ne klasse Frau! Das seh ich auch. Moment …» Die Gruppe ist schon weitergegangen, als Liepe ihr hinterher spurtet.

Kappe sieht, wie er Fräulein Li anspricht und daraufhin die ganze Gruppe stehenbleibt und sich ihm zuwendet.

Liepe wechselt ein paar Sätze mit der jungen Chinesin.

Sie scheint das Gespräch zu genießen. Sie lacht.

Nun schauen beide zu Kappe, der glaubt, rot zu werden. Womöglich wird er das auch. Nur gut, dass es dunkel ist und die anderen es nicht sehen können, denkt er. Gleichzeitig ist er auch etwas neidisch und sogar ein wenig eifersüchtig auf Liepe, dass der einfach so mir nichts, dir nichts sein Fräulein Li anspricht.

«Die is ja ’ne Nette!», sagt Liepe, als er zurückkehrt.

«Was hast du mit ihr gesprochen?», will Kappe wissen. «Wärst wohl gern dabei gewesen, wa?»

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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9783955520069
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