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Читать книгу: «Memoiren einer Grossmutter, Band I», страница 5

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Endlich war er da! Der Rebbe schalt ihn wegen seiner Saumseligkeit, worauf er klagend erzählte, wo und wie lange er auf das Essen hatte warten müssen. »Gib geschwind die zinnernen Schüsseln und die Blechlöffel her«, befahl nun der Rebbe und schleunigst wurde der Befehl ausgeführt. Der Rebbe schüttete unser Mittagsessen in eine Schüssel, und ich bekam einen Blechlöffel, der am Ende des Stieles ein kleines Loch hatte, was bedeuten sollte, daß er »milchig« war, d. h. nur für Milchspeisen gebraucht werden durfte. Ich drehte den Löffel mehrere Male in den Händen hin und her und konnte mich nicht entschließen, damit aus der Schüssel zu schöpfen. Ich dachte bei mir: Wie, nicht aus meinem weißen Porzellanteller und mit diesem blechernen Löffel soll ich essen? Wieder kamen mir die Tränen in die Augen, und der Hals war mir wie zugeschnürt. Der Rebbe sah mich verwundert an und konnte sich diesmal den Grund meiner Tränen nicht erklären! Meine Schwester aber war praktischer als ich (und diesen Vorzug mir gegenüber behielt sie durch das ganze Leben). Sie griff tüchtig zu, führte einen Löffel nach dem andern zum Mund und ließ sichs gut schmecken. Als sie einigermaßen satt war, fragte sie mich verwundert, warum ich nicht esse. Ich blieb ihr die Antwort schuldig, denn ich fühlte, daß mir bei den ersten Worten die Tränen noch wilder aus den Augen stürzen mußten. Ich bezwang mich aber und schöpfte einen Löffel voll, dessen Inhalt ich zusammen mit meinen Tränen verschluckte. Nach beendeter Mahlzeit hob mich der Rebbe von der Bank, und ich begann, wiewohl der Verlauf des Mittagessens mich gekränkt hatte, in meinem kindlichen Sinn alle Vorzüge des Essens im Cheder, im Vergleich zu dem Mittagbrot zu Hause, herauszusuchen. Hier durften wir während der Mahlzeit nach Belieben sprechen und trinken, was zu Hause erst nach dem Braten gestattet war. Hier durften wir uns vom Tisch erheben, wann wir wollten, zu Hause erst, nachdem der Vater aufgestanden war. Als ich nach dem Essen wieder trinken wollte, machte man mich auf den großen Holzschöpfer auf dem Wasserfaß aufmerksam, den ich benutzen sollte. Dann nahm mich meine Schwester an der einen Hand, eine Schülerin an der zweiten und in ihrer Mitte erschien ich endlich auf der Gasse und beteiligte mich an den Spielen. Das dauerte bis sieben Uhr abends. Da wurden wir in das Cheder-Lokal zusammenberufen, um das Abendgebet zu verrichten. Der Behelfer stand in der Mitte. Wir um ihn geschart. Unsere Augen auf ihn gerichtet, sagten wir ihm jedes vorgesprochene Wort nach, dann ging es rasch nach Hause.

Ich kehrte von den Erlebnissen des Tages so abgespannt heim, daß ich meiner Njanja nur wenig erzählen konnte. Ich trank meinen Tee und schlief ohne Abendbrot ein. Doch erwachte ich am nächsten Morgen mit einer gewissen Ungeduld und voll des lebhaften Verlangens, daß der Cheder-Behelfer möglichst rasch kommen möge, damit ich nur die Gesichter, die mir gestern noch so peinlich waren, wiedersehen könnte. Aber noch mehr sehnte ich mich danach, die unterbrochenen Spiele fortzusetzen. Welwel, der tapfere Wegweiser, erschien auch pünktlich, und wir kamen diesmal ohne Zwischenfall in den Cheder.

Und nun benahm ich mich auch schon anders.

Ich lernte zum erstenmal mit meinem Rebben, später spielte ich mit den anderen Schülerinnen. Es verging kaum eine Woche, da fühlte ich mich schon sehr behaglich und kannte jeden Schlupfwinkel in der Schule.

Außer der langen, schmalen Lehrstube gab es noch ein langes, finsteres Durchgangsloch, – jede andere Bezeichnung dafür wäre unrichtig – in welchem sich das Bettgestell des Rabbi und das seiner Rebbezin befanden. Vor den Betten hing auf zwei dicken Stricken, die über einen Balken gespannt waren, die Wiege, in der ihr einziges Töchterchen Altinke lag; jeder, der nach dem dritten Raum wollte, stieß unvermeidlich gegen diese Wiege, die dann noch lange in Bewegung blieb. Dieser Raum, ebenso die Bett- und Wiegenwäsche waren keineswegs sauber zu nennen. Aber man muß mit allem zufrieden sein, heißt es, und die Bewohner dieser verfallenen Hütte waren es im vollsten Sinne des Wortes. Sie verlangten nicht mehr. Ihre einzige Sorge war nur, daß ihre »Altinke« (wiewohl schon 2 Jahre alt, konnte das Kind noch nicht aufrecht stehen) als die einzige von vier Kindern am Leben blieb. Man behütete und pflegte sie und schützte sie wie den Augapfel. Am Halse trug es verschiedene Amulette: Ein M'susele15 und ein Heele (auch eine Art von Amulett, welches aus Blei gegossen, mit einer mystischen Aufschrift versehen war). Das Bändchen, an dem diese Dinge und auch ein Wolfszahn hingen, klebte infolge der beständigen Nässe vom Mundspeichel und des Schmutzes an dem wattierten Leibchen des Kindes. Dieses kleine, unglückliche Geschöpf lag meist in der Wiege, da Feige, so hieß die Rebbezin, allerlei Geschäfte auf eigene Faust führen mußte, wie Honigkuchen mit warmem Kraut backen, Erbsen und Bohnen kochen, Leckerbissen, die ihr die Schülerinnen täglich abkauften. Besonders waren es die Gluckhenne mit ihren Küchlein, die ihr viel zu schaffen machten. Freilich blieb bei dieser Arbeit wenig Zeit, das Kind auf dem Arm herumzutragen. Täglich wählte sie eine andere der Schülerinnen, die ihr in allen häuslichen Angelegenheiten behilflich war; so entdeckte sie auch in mir eine gehorsame, willige Helferin. Bald wiegte ich ihr Kind (was ich übrigens mit großem Vergnügen tat), bald half ich ihr, den Spaten mit Mehl zu bestreuen, wenn sie das Brot in den Ofen schieben mußte; bald sah ich unter die Siebe nach frisch gelegten Eiern (mit denen ich mir, wenn sie noch ganz warm waren, gern über die Augen strich).

Die Gestalt der Rebbezin erinnerte an eine Hopfenstange; sie hatte ungewöhnlich lange Arme, einen langen, dünnen Hals, der einen Pferdekopf trug, kleine, umherirrende Augen, knochige Wangen und blaue, dünne Lippen, die sich seit der Kindheit wohl nicht mehr zu einem Lächeln verzogen hatten. Die lange Habichtsnase verdeckte zur Hälfte den Mund und gab dem Gesicht den Ausdruck eines Raubvogels. Die langen Pferdezähne und vor allem die Zahnlücken bewirkten, daß die Worte aus ihrem Munde nicht sehr schön klangen. Aber das hinderte sie weiter nicht, ihre ganze Umgebung vom frühen Morgen bis zum späten Abend von dem Vorhandensein ihres ungeschwächten Sprechorgans zu überzeugen. Auch ich sollte bald erfahren, daß mit der Rebbezin nicht zu spaßen war, und ein Handgriff von ihr nicht auf ein sehr sanftes Wesen schließen ließ. Mein Kätzchen hatte ich zu Hause lassen müssen, ich verschmerzte es zu Beginn, weil ich an den Hühnern der Rebbezin Ersatz fand. Ich ging oft zum Pripoczok (Ofen, unterer Teil), zur brütenden Henne und sah zu, wie sie mit ausgebreiteten Flügeln behutsam auf den Eiern saß. Ihr Auge drückte während dieser Zeit fast eine menschliche Zärtlichkeit aus. Das Tier saß geduldig ohne Nahrung und wartete, bis man sie herunternahm und sie fütterte. So geschah es einmal, daß ich mich zur Gluckhenne beugte, um sie wegzutragen und zu füttern. Die Rebbezin erblickte mich dabei von ihrem Sitz aus und erschrak über die Möglichkeit, daß ich die Henne aufscheuchen und daß sie am Ende wegfliegen könnte. Die Eier würden kalt und nicht mehr ausgebrütet werden können. Behende sprang Feige zu mir, erfaßte mich etwas unsanft an der Schulter und schrie aus Leibeskräften: »Was tust du? Was willst do hoben? Meschuggene, a weg!« (fort von hier). Ich sah zu der vor Zorn keuchenden Rebbezin auf. Die Henne entriß sich tatsächlich meinen Händen und wandte ihren raschen Flug nach der Richtung, wo Reb Leser thronte; daneben befand sich im Winkel ein dreieckiges Fächerchen, darauf ließ sich die Henne nieder, sah mit lautem Gegacker umher, als gefiele es ihr hier, begab sich hierauf auf Reb Lesers Kopf, duckte sich nieder und ließ ein Andenken an ihren kurzen Aufenthalt zurück; dann flog sie, mit den Flügeln schlagend, auf das Fach, wo die Zinnteller und Schüsseln standen, warf alles um, was natürlich viel Lärm machte und suchte ihr Loch unter dem Pripoczok auf, wo sie sich endlich beruhigte. Dagegen konnte sich Reb Leser nicht so bald beruhigen, der, als die um den Tisch sitzenden Schüler mit lautem Lachen nach seinem Kopf zeigten, nach seiner Kopfbedeckung faßte, und da er voll Wut das hinterlassene Andenken wegwischen mußte, schalt und fluchte er mit lauter Stimme. Seiner Ehehälfte schwur er hoch und teuer, er werde alle ihre Hühner schlachten. Das sollte sogar schon morgen geschehen. Aber unsere unerschrockene Rebbezin dachte anders darüber und verteidigte bei offener Tür ihre Schützlinge. Sie brachte Argumente vor, die mich als die Hauptschuldige an dem Unfall erkennen ließen. Schließlich meinte sie, ihr Mann hätte überhaupt kein Recht, die Hühner zum Tode zu verurteilen. Ihre glänzende Verteidigungsrede war wohl hinreichend energisch gewesen, da Reb Leser den kürzeren zog und zum Schweigen gebracht wurde. So verwandelte er das Todesurteil in eine Begnadigung. Diese Begebenheit gab viel Stoff zu Gesprächen im Cheder und im sogenannten »Schmolen Gässel« (schmalen Gäßchen). Es hatten sich viele Zuschauer eingefunden, die zu den Fenstern hineinsahen und beinahe in den Kampf mit hineingezogen wurden. Diesen Abend hatte ich meiner Njanja viel zu erzählen....

Wenn Reb Leser schließlich die Bemerkungen seiner Frau unbeantwortet gelassen hatte, so tat er es mit dem Selbstbewußtsein eines Mannes, dessen Würde trotz alledem unbestreitbar war. Er hatte auch allen Grund dazu, denn er war nicht nur in seinem Hause, in der Schulgasse und im schmolen Gässel, sondern auch weiterhin auf der Insel Kempe, jenseits des Teiches, sehr populär! Zu Reb Leser, dem Melamed, kam man, wenn ein Kind erkrankte, fieberte. Er verstand zu heilen und ein »Ajin hora« (böses Auge, Blick) zu besprechen. Er nahm zu diesem Zwecke ein Kleidungsstück des »Befallenen«, etwa ein Strümpfchen oder ein Leibchen, flüsterte einen geheimnisvollen Spruch und spuckte dreimal darauf. Das genügte, um das Kind genesen zu machen, ohne daß er es persönlich gesehen hätte. Dem Überbringer wurden die Gegenstände mit den Worten zurückgegeben: »Es wird schon gesund werden.« Hatte jemand Zahnschmerzen, so stellte ihn Reb Leser bei Mondenschein Punkt zwölf Uhr nachts gegen den Mond und streichelte ihm bald die rechte, bald die linke Backe, wobei er mystische Worte murmelte. Und Reb Leser war dann sicher, daß der Schmerz aufhören würde – eventuell freilich erst nach langer Zeit oder nachdem der Zahn gezogen war. Wer an heftigen Rückenschmerzen litt, mußte sich auf der Diele hinstrecken; Reb Leser, der B'hor (Erstgeborene), stellte sich mit einem Fuß auf den Rücken des Kranken für einen Augenblick und der Kranke war genesen!

Wollte jemand eine Kuh kaufen, so war er fest überzeugt, daß sie viel Milch geben würde, wenn Reb Leser den Kaufpreis zum Scheine nach längerem Feilschen festgesetzt hatte. Ein Wort von Reb Lesers Lippen vermochte vieles zu bewirken.

Das waren die kleinen Quellen seines Einkommens; dagegen brachte ihm das Schadchengeschäft viel mehr Geld ein. Diese Tätigkeit warf ihm beinahe so viel ab wie seine Schule und hatte dabei auch den Vorzug, daß sie gewöhnlich bei einem Gläschen Schnaps vor sich ging. Je nach dem Gelingen einer Partie mehrten sich seine Freunde und – Feinde. Von den letzteren gab es mehr!.. Reb Leser ließ sich darob keine grauen Haare wachsen. Ihm galten alle Partien gleich gut. Er betrieb dieses Geschäft in seinen Mußestunden zwischen Minche und Marew am Sonnabend Abend, da der Jude von damals, nachdem er vierundzwanzig Stunden geruht hatte, in der richtigen Stimmung war, von derartigen Dingen zu sprechen. Es war vielleicht gut, daß Reb Leser so wenig Zeit auf diese Sache verwenden konnte....

Der denkwürdige Vorfall mit der Henne war hinreichend, mir das Innere des Cheders zu verleiden und mich stärker für die Spiele draußen zu interessieren. Ich erreichte in manchem eine große Fertigkeit – so im Zeichenspiel, wobei man sich einer Art aus Knochen primitiv gefertigter Würfel bediente; im Nüsse-Spiel und im Stecknadelspiel paar und unpaar. Eine meiner Freundinnen war im Stecknadelspiel sehr geschickt und erregte meinen Neid: sie konnte eine Menge von Stecknadeln unterhalb der Zunge im Munde halten und dabei ungehindert sprechen.

Es wurde so viel gespielt, daß wir Kinder gar oft den eigentlichen Zweck unseres Schulbesuches vergaßen.

Ich machte mich bald mit der ganzen Umgebung des Chederlokals vertraut und stand mit der Nachbarschaft auf gutem Fuß. Mein besonderer Liebling war der kleine Schulklopfer, ein mageres, gebeugtes Männchen mit einem grüngelben Ziegengesicht und blöden Ziegenaugen, die den Zug des Gequälten hatten. Sein ganzes Leben schien er an Keuchhusten zu leiden. Wenn wir Kinder ihn in der Gasse erblickten, liefen wir ihm entgegen und schrieen übermütig: »In schaul! In schaul!« und begleiteten ihn eine Strecke. Er erschien nämlich vor dem Morgen- und Abendgebet in der Schulgasse und rief, mit seiner ganzen noch übrig gebliebenen Lungenkraft schreiend: »In schaul! In schaul!«, die Gemeinde zusammen. Dann stemmte er die Hände in die Seiten und konnte lange vor Husten nicht zu Atem kommen. Übrigens hatte er noch eine andere Beschäftigung; an jedem Freitag lief er kurz vor Beginn des Sabbathfestes zu den jüdischen Krämern und ermahnte sie, die Läden rasch zu schließen. Und vor Neujahr weckte er mit Tagesanbruch die Gemeinde zu Sliches (Frühgebet während der ganzen Woche vor dem Neujahrsfest).

Der kleine, niedere Cheder-Raum konnte alle Schülerinnen nicht fassen und draußen vor der Tür verjagte uns oft die sengende Sonnenglut; so mußten wir uns mit unseren Würfel- und Nüssespielen in eines der vielen Vorhäuschen in der gegenüber dem Cheder befindlichen großen Synagoge flüchten, wo es immer kühl und geräumig war. Ich entsinne mich, daß ich nie weiter als ins Vorhaus zu gehen wagte und welchen gewaltigen Eindruck ich hatte, als mich die Gespielinnen einmal zwangen, die Abteilung zu betreten, in der die Männer zu beten pflegten. Der große Raum mit den vielen Bänken und Tischen war imposant. In der Mitte der Synagoge befand sich ein viereckiger erhöhter Platz, der von einem niederen, geschnitzten Geländer umgeben war; auf dieser Erhöhung stand ein schmaler, hoher Tisch, auf dem die Thorarollen beim »Leienen« lagen. Im Hintergrund war eine hohe Pforte, deren zwei Türen zum Oren-hakodesch führten. Diese heilige Lade war mit einem roten Sammetvorhang verhängt, in dessen Mitte das Mogendavidzeichen eingewirkt war. Zu beiden Seiten dieses jüdischen Paniers standen in Lebensgröße zwei Löwen aus Bronzemetall in aufrechter Stellung, wie Wache haltend. An der östlichen Wand, der Misrachwand, waren die Ehrenplätze für die ältesten und angesehensten Juden der Stadt Brest. Dort befand sich auch die »Matan b'sseisser Puschke«, d.h. die Büchse der geheimen Gaben. Wenn jemand ein Lieblingswunsch in Erfüllung gegangen oder ein besonderes Glück widerfahren war, wovon er zu niemand sprechen mochte, spendete er ganz im geheimen etwas in diese Büchse. Außen war nur ein kleiner Spalt in einer Nische der Mauer zu sehen. In diese Öffnung warfen die Spender ihre geheime Gabe, nicht ohne sich vorher ängstlich zu vergewissern, daß auch niemand sie beobachte. Von der himmelblau mit silbernen Sternen bemalten Decke der Synagoge hingen an Ketten zahlreiche Leuchter herab. All diese seltsame Pracht erfüllte das Kindergemüt mit Ehrfurcht und Scheu.

Meine Begleiterinnen erzählten mir, geheimnisvoll flüsternd, daß sich hinter den hohen Türen des Oron hakodesch ein Schrank mit vielen Sefer thaures (heilige Rollen) befinde und daß von da ein unterirdischer Gang nach Jerusalem führe. Freitag Abend versammeln sich die vom Gehinom (Hölle) befreiten R'schoim (Sünder), um allerlei Schabernack zu treiben. Noch andere, ähnliche Märchen erhöhten meine angstvolle Scheu. Ganz besonders wirkte auf mich das Märchen vom »lehmenen Goilem« (Ton-Figur) ein: auf dem Oren kaudesch in der Synagoge da liegt eine große Figur aus Ton, die einst alle Handlungen eines lebenden Menschen verrichten konnte. Die alten Kabbalisten bedienten sich solcher Tonfiguren, die sie mit Amuletten, Hieroglyphen und sonstigen, niemand bekannten Zeichen versahen und flüsterten den Lehmfiguren Zauberformeln ins Ohr, daß sie anfingen sich zu regen und allerhand Dienste leisten konnten wie ein Mensch. Alles, was diese Figur tun sollte, mußte man ihr bis ins einzelne genau und bestimmt angeben, z.B.: »Geh zur Tür, ergreife die Klinke, drücke sie nieder, mach die Tür auf, mach sie zu, geh in das Haus in jener Straße, drücke die Klinke nieder, mach die Tür auf, mach sie zu, begib dich ins erste Zimmer, geh an den Tisch, an dem mein Freund sitzt, sag ihm, er soll heute mit dem Buch zu mir kommen.« Auch der Rückweg mußte der Figur Schritt für Schritt genau beschrieben werden, sonst war der Goilem (die Tonfigur) imstande, das ganze Haus, in dem der Freund wohnte, auf seinen Schultern zu bringen. Er war eben ein Trottel; und noch heute ist im jüdischen Volke die Bezeichnung: »Du bist ein lehmener Goilem« ein Schimpfwort.

Ein einziges Mal wagte ich es noch, allein den großen Raum zu betreten, aber ich lief, von einem unheimlichen Schauer erfaßt, weinend und schreiend fort, und Reb Leser verbot mir, ohne Begleitung wieder hinzugehen.

Ich sehe noch jetzt im Geiste den schönen, majestätischen Bau im altmaurischen Stil mit dem runden Glasturm, durch dessen Scheiben das Tageslicht fiel und das Innere der Synagoge erhellte.

Als die Stadt Brest demoliert und 1836 zu einer Festung umgewandelt wurde, mußte auch die Synagoge niedergerissen werden und der Grundstein, den man fand, wies auf frühere Jahrhunderte zurück, auf die Tage Saul Wahls, der für eine Nacht von den streitenden polnischen Parteien zum König gewählt worden war. Wahl hatte die Synagoge zum Andenken an seine verstorbene Frau Deborah erbaut.

II. Teil

Dem Rosch-Chodesch (Neumond) Sivan (etwa Mai) folgte sechs Tage später das Schewuaus-Fest (Pfingsten), das schöne und angenehme Fest, von dem die Juden sagen, daß man alles und überall essen darf, während man am Osterfest nicht alles und am Laubhüttenfest nicht überall, d. h. nur in der Laube essen soll. Daher dauert Sch'wuaus nur zwei Tage....

Auch für dieses Fest wurden natürlich in unserem Hause mancherlei Vorbereitungen getroffen. Uns Kindern wurde im Cheder die Bedeutung des Festes erklärt als Gedenkfeier an den Tag, an dem Moses auf dem Berge Sinai die heiligen Gesetzestafeln empfangen hatte. Drei Tage vor Pfingsten (Schlauscho jemei hagbole wird diese Periode genannt), endet die Trauer der Sfirezeit und die Freude lebt wieder auf. Man sucht sich für die sechswöchentlichen Entsagungen schadlos zu halten. Die Kinder blieben nur einen halben Tag im Cheder und tummelten sich ungebunden im Freien und im Hause herum. Und in den Häusern wurde wieder gebraten und gebacken, namentlich viel Butterkuchen! An diesen Festtagen ißt man hauptsächlich Milch- und Buttergerichte. Die traditionellen Käse-Blintschki mit saurer Sahne, eine Art Flinsen, dürfen nicht fehlen. Am Erew-Jomtow, am Vorabend des Festes, gab es wieder viel eilige Arbeit im Hause. Alle Zimmer wurden mit Grün geschmückt und festlich beleuchtet: Wir Kinder wurden festlich gekleidet und der Tisch zum Abendessen gedeckt; die Fenster der mit Kerzen erleuchteten Räume standen weit offen, und die warme, frische Frühlingsluft strömte herein, ohne die Flammen der vielen Kerzen auch nur leise zu bewegen. Sie brannten ruhig und feierlich.

Die Männer kamen vom Bethaus zurück und man begab sich zu Tische. Schon nach dem ersten Gang wurde ein Abschnitt aus dem Tiken-Schwuaus-Gesetze von den Männern vorgelesen und nach dem zweiten Gericht wieder ein Abschnitt. Nach dem Essen zogen sich meine Schwäger mit ihrem Melamed in ihr Studierzimmer zurück, um dort bis zum frühen Morgen den Tiken-Schwuaus zu Ende zu lesen. Mein älterer Schwager unterzog sich ohne Murren diesem Gebot. Aber der jüngere hätte wahrscheinlich eine andere Beschäftigung vorgezogen. Aber es half nichts, die Disziplin und die religiöse Tendenz unseres Hauses galten mehr als persönliche Wünsche und Neigungen. Auch dann noch, als der Geist Lilienthals in den Köpfen der jungen Leute schon schwirrte.

Am frühen Morgen ging es in die Synagoge, wo ein Festgottesdienst abgehalten, die Akdamess (Anfänge) gesagt, die M'gile (Ruth) vorgelesen wurde, was oft bis 12 Uhr Mittags währte. Im Hause herrschte frohe Laune: man trank vortrefflich duftenden Kaffee und aß Butterkuchen und Blintschikes und ging hierauf im Freien spazieren.

Bald kam auch der Sommer mit seinen Herrlichkeiten, die wir Kinder nach Herzenslust genossen. Die Zeit von Pfingsten bis zum siebzehnten Tag im Tamus (Monat Juli) war für den Juden der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die genußreichste und schönste des ganzen Sommers. Aber zu lang darf die Reihe von schönen Tagen für ihn nicht sein, sonst könnte er in seinem Übermut Gott vergessen und darum, glaube ich, ist ihm nach einer kurzen Erholungszeit immer wieder ein Fasttag auferlegt. Und so ist schon der Schiwo osser betamus (siebzehnte Tag im Tamus) ein Fasttag, dem die sogenannten drei Wochen folgen, die mit einem Trauertag, dem neunten Tag des Monats Ab (Tischeb'aw) endigen. Und wieder ist es untersagt, Vergnügungen nachzugehen, Hochzeit zu halten, im Flusse zu baden, Schmuck zu tragen und in den letzten neun Tagen darf man auch kein Fleisch genießen; am neunten Tage, am Erew-Tischeb'aw, wird in der Synagoge und im Hause eine Trauergedenkfeier an die Zerstörung Jerusalems abgehalten. Am Freitag vor Schabbes-chason (Sonnabend vor Tischeb'aw) erschien einmal unsere Mutter, während wir am Frühstückstisch saßen, erregt und ernst, in der einen Hand ein mit einer schwarzen Masse gefülltes Holzgefäß, in der andern Hand einen Pinsel haltend. Wir waren gespannt, was die Mutter damit beginnen wollte. Sie stieg auf das Sopha und machte mit dem Pinsel auf die schöne rote Tapete einen viereckigen, schwarzen Fleck. Auf unsere Frage, was dies zu bedeuten habe, erhielten wir zur Antwort, dieser Fleck, den sie seicher l'churben nannte, soll uns erinnern, daß wir Juden im Golus, d. h. unterjocht sind. Ich entsinne mich noch, wie mein Vater und die jungen Männer am Erew-Tischeb'aw, d. h. am Vorabend des neunten Tages im Monat Ab die Schuhe ablegten und auf niederen Schemeln Platz nahmen. Der Bediente stellte eine niedrige Holzbank vor sie hin und setzte darauf das Fasten-Abendbrot, das aus hartgesottenen Eiern bestand, die in Asche gewälzt und dann mit harten Kringeln gegessen wurden. Bewegt, mit dem Ausdruck aufrichtiger Trauer in den Zügen, saßen sie da, als hätten sie die Zerstörung des Tempels zu Jerusalem selbst miterlebt, mit eigenen Augen seinen Glanz, seine Größe untergehen sehen. So gegenwärtig war ihnen die Vergangenheit, so tief empfindet der fromme Jude noch heute den Schmerz um den Verlust der alten Heimat. Dann gingen die Männer in Strümpfen ohne Stiefel in die Synagoge. Meine Mutter blieb mit den älteren Schwestern zu Hause. Es wurden mehrere Fußbänke in ein Zimmer gebracht und Kerzen auf niedrige Tische und Stühle gestellt. Wir alle setzten uns um die Mutter herum auf die Fußbänke und nun begann man mit der Verlesung der »Zerstörung von Jerusalem«. Die Mutter weinte und wir Kinder weinten leise mit. Dann wurde noch die M'gile Echo – die Klagelieder – vorgelesen und unsere Tränen flossen reichlich. Die Buben freilich hatten ihr eigenes Treiben.

Runde, grüne Kletten, wie kleine Kartoffeln, mit Stacheln wie Stecknadeln bewachsen, die an jeden Gegenstand sich anheften, pflegten die »kundesim« (Gassenjungen) am »erew tischeb'aw« den ernst trauernden, alten Männern in die Haare und an die Strümpfe zu werfen, um diese zu ärgern.

Am folgenden Tage herrschte noch tiefe Trauer und die schwere Stimmung lag noch auf allen. Des Morgens durften wir uns nicht einmal waschen; auch wir Kinder fasteten manchmal etliche Stunden und die Eltern lobten unsere Standhaftigkeit. Mit desto größerem Appetit fielen wir über das Essen her, als der halbe Tag vergangen war. Im Hause begann es auch wieder lebhafter zu werden, man räumte die Zimmer auf und in der Küche regte sich's wieder. Wir Kinder nahmen Spiel und Vergnügen auf. Eines dieser Spiele an einem Tischeb'aw blieb mir besonders in Erinnerung: Mein Bruder hatte schon einige Tage vorher mit einem Freunde gleichen Alters, dem jetzigen Doktor H. S. Neumark, verabredet, daß er an diesem Tage einige hundert Knaben aus der Stadt Chedunim zu meinem Bruder nach der Vorstadt Zamuchawicz bringen solle, mit denen die beiden diesen Tag entsprechend und würdig verbringen wollten. Sie beabsichtigten nämlich, zur Erinnerung an jene Schlacht, die vor ungefähr 2000 Jahren bei der Zerstörung des Tempels zu Jerusalem stattgefunden, einen Kampf zu veranstalten. Die Jungen mußten ihre rotgefärbten Holzschwerter, wie sie an diesem Tage jeder jüdische Knabe besaß, mitbringen. Als Waffen dienten auch Pfeil und Bogen, ein Knüttel, selbst eine Bauernpeitsche. Doch galt hier hauptsächlich die persönliche Tapferkeit mit der Faust. Mein Bruder und sein Freund wählten einen freien Platz, neben unserem Hause, auf dem die Schlacht stattfinden sollte. Die »Soldaten« kamen einzeln und in Scharen. Die Kampflustigen waren verschieden an Größe, Alter und Stand; doch wurden in diesem Heer derartige Kleinigkeiten nicht beachtet! Es wurden Generäle, Oberste und Offiziere eingesetzt, und die anderen bildeten sodann die Mannschaft – das Fußvolk; mein Bruder und sein Freund wurden zu Königen ernannt. Die Generäle erhielten Sternchen aus Papier und Eichenlaubblättern; über die Schulter quer fielen Schärpen aus blauem, rotem oder weißem Glanzpapier. Die Dreispitzhüte wurden aus dunkelblauem Zuckerhutpapier hergestellt, die von den Knaben Krepchen (Kreplach) genannt und mit Büschen aus Hahnenfedern geschmückt wurden. Der Oberste trug als Abzeichen Schnüre aus roten Beeren um die Schulter, und den Offizieren steckte man als Kokarde eine große, gelbe Kamille an den Schirm der Mütze. Die ganze Armee wurde in zwei gleiche Abteilungen geteilt und jeder König übernahm sein Heer und stellte die Soldaten in Reih' und Glied auf. Die Kleidung der Könige unterschied sich in auffälliger Weise von der der anderen Krieger; der eine König hatte ein grosses Handtuch, der zweite ein Laken quer über der Brust und beide trugen zahllose Orden, die auf dem Felde und auf den Wiesen gepflückt waren: Sonnenblumen, weiße, gelbe und rote Blüten in allen Größen. Und um die königlichen Häupter waren große Kränze aus Hanfzweigen gewunden. Zwischen beiden Armeen wurde ein Kordon gezogen, und nun sollte das Zeichen zum Angriff gegeben werden. Doch wer sollte mit dem Angriff beginnen? So schrie man denn von der einen Seite herüber: »Scheli, scheli, scheloch!« (Schick' Dein Volk heraus!) Darauf erwiderte man: »Mein Volk ist krank.« Nun näherte sich aus diesem Heere ein Krieger dem König des ersten Heeres, ergriff dessen Hand und sagte, den Zeigefinger erhebend: »Der Malach (Engel) hat dir drei Plätze geschickt – siehst du Feuer? Siehst du Wasser? Siehst du den Himmel?« Der König mußte bei der letzten Frage zum Himmel hinaufsehen, indeß der Bote entfliehen und den Kordon überschreiten mußte, wenn er nicht gefangen genommen werden sollte. War es ihm aber geglückt, den Kordon rechtzeitig zu überschreiten, so hatte sein Volk den Vorzug, den Kampf zuerst beginnen zu dürfen. Nun fing man mit Schwert und Pfeil und Bogen an; da diese Waffen aber bei dem ersten Zusammenprall zerbrachen, waren die Soldaten auf ihre Fäuste angewiesen.

Eine Viertelstunde mochte der Kampf bereits gedauert haben, aber noch war der Sieg nicht entschieden. Das Heulen und Schreien jedoch wuchs entsetzlich an. Da schwenkte einer der Könige ein weißes Taschentuch auf einem weißen Stock und schrie laut: »Genug! Stillstehen! Nicht mehr schlagen!« Die zügellosen Jungen hörten aber nicht darauf und fuhren fort, die Schädel und Rücken der Schwächeren zu bearbeiten, bis sie durch Hiebe ermahnt werden mußten, das fast zum Ernst gewordene Spiel abzubrechen. Die meisten zogen mit Ehrenzeichen, wie blaugeschlagene Augen, blutende Nasen, verwundete Beine, vom Kriegsschauplatz ab. Die Könige trösteten die braven Helden, und wir Mädchen, die der Schlacht zusahen, brachten von Hause frisches Wasser, Handtücher, Tischtücher und erfüllten das Amt der barmherzigen Schwestern, indem wir den Verwundeten die blutenden Stellen wuschen und trockneten. Nachdem die Ruhe einigermaßen hergestellt war, fingen die Heerführer an, den Triumphzug vorzubereiten. Wir wurden aufs Neue ins Haus geschickt, um die nötigen Requisiten zu holen, wie ein großes Messingbecken, das Messingtablett des Samowars und einige Kupferkasserollen. Die Soldaten hatten mit Papier überzogene Kämme, die als Blasinstrumente verwendet werden sollten und hölzerne kleine Pfeifen. Die ganze Armee wurde wieder auf dem Platz gesammelt und geordnet. Zwar konnte sich mancher Soldat nur mit Mühe auf den Beinen halten, allein an dem feierlichen Akt, der nun folgen sollte, wollte jeder teilnehmen. Nun wählte man unter den Soldaten einige aus, welche die von uns zusammengetragenen Geräte als Musikinstrumente zu behandeln verstanden. Die Könige nahmen eine würdevolle Haltung an, als sie mit überlautem Hurrah! begrüßt wurden und mit ihren bekränzten Häuptern den Dank nickten. Der Zug setzte sich in Bewegung. Das Messingbecken, von einer mächtigen Faust geschlagen, machte betäubenden Lärm. Die beiden kräftig aneinandergeschlagenen Kasserollen dröhnten. Die schrillen Töne der Pfeifen klangen wie ein schwacher Protest gegen diesen Lärm und das Getute auf den mit Papier überzogenen Kämmen ergänzte diese seltsame Musik. Auch die Stimmen der Soldaten taten ihr Möglichstes: Sie sangen einen Zapfenstreichmarsch mit wilder Kraft. Unter diesen Musikklängen bewegte sich der Triumphzug langsam vorwärts. In der Haltung der Könige lag etwas Imposantes, das sie mit Recht zu Herrschern unter diesen Knaben machte. Wir Mädchen begleiteten den Zug mit Händeklatschen und waren von dem ganzen Schauspiel entzückt. Man marschierte an dem Garten entlang, bei unserem Hause vorbei. Dann lösten sich die Truppen auf, und ein jeder Krieger ging mit Stolz von dannen. Auch die Könige verabschiedeten sich mit huldreichen Worten, zufrieden mit dem Gelingen des Unternehmens, das lange das Gespräch in der ganzen Stadt bildete. Trotz der blutigen Köpfe freuten sich unsere Eltern über die Sitte der kriegerischen Spiele sehr.

15.M'susele, ein Amulett, das bei frommen Juden als Schutz wohl gegen böse Geister an jedem Türpfosten angebracht ist.
Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
30 июня 2018
Объем:
220 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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