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Über philanthropische Unternehmer
Bonn, April 2019. Hinnerk hatte bestens geschlafen. Über Airbnb hatte er sich noch von Hamburg aus ein unauffälliges Zimmer im zweiten Stock eines Hauses in der Friedrichstraße besorgt, so daß er mit falschem Namen und falscher Kreditkarte hatte buchen können und nicht nach seinem Ausweis gefragt wurde, wie es jetzt immer häufiger bei Übernachtungen in normalen Herbergen der Fall war. Außerdem besaß das Personal hinter der Empfangstheke eines Hotels meist ein gutes Gedächtnis, was das Aussehen einiger etwas aus dem Rahmen fallender Gäste anging. Und mit seiner Größe und den blonden Haaren war er schon auffällig. Anonym zu bleiben, war auf jeden Fall besser.
Der Hüne warf die Barbourjacke über und schloß die Zimmertür ab. Wie immer befestigte er ein längeres Haar zwischen Türwange und Türblatt, um ungebetene Gäste bei seiner Rückkehr feststellen zu können. Man mußte für alle Gelegenheiten gewappnet sein.
Gestern abend, nachdem er seinen kleinen Auftrag erledigt hatte, war ihm ein französischer Bäcker in der Nähe aufgefallen. Vielleicht gab es dort ein anständiges Frühstück.
Tatsächlich hatte das »C’est-la-vie« schon geöffnet. Mit einem Pain au chocolat, einem Croissant und einem großen Milchkaffee von der Theke machte Hinnerk es sich in einer Ecke bequem, von der aus er die Eingangstür unauffällig im Blick behalten konnte. Alte Angewohnheit; man mußte stets mit allem rechnen.
Auf seinem Handy studierte er den Bonner Stadtplan und legte sich im Geist den Fußweg zu seinem nächsten Auftragsort zurecht; die dazugehörige Adresse war heute morgen per SMS gekommen. Jetzt mußte er nur noch auf den Einsatzbefehl warten. Da er wie immer vorbereitet war – die Pistole war gereinigt, das Magazin vorhanden und das Handy aufgeladen –, konnte auch dieses Mal nichts schiefgehen.
Hinnerk sah seine Tätigkeit als ehrliche Arbeit an, die der Gemeinschaft zugute kam. Wer sich nicht an Regeln hielt, mußte bestraft werden. Das erledigte er, bislang stets zur Zufriedenheit seines Auftraggebers. Gemeinschaft verstand er allerdings als diejenige, der er und Onkel Alberto angehörten. Dennoch traf Marc Aurels Lebensmaxime, auf die er in einer Zeitschrift gestoßen war und die er ausgeschnitten zu Hause über sein Bett gehängt hatte, auch auf ihn zu: »Arbeite! Aber nicht wie ein Unglücklicher oder wie einer, der bewundert oder bemitleidet werden will. Arbeite oder ruhe, wie es das Beste für die Gemeinschaft ist.«
Hinnerk biß ein Stück vom Schokoladenmilchbrötchen ab und trank einen großen Schluck Kaffee. Er ließ sich noch einmal seinen gestrigen Einsatz durch den Kopf gehen. Bestimmt hatte man den Toten schon entdeckt. Die kleine Uhr auf seinem Handy zeigte 08:33 an. Schade, daß es noch keine App zum Abhören des Polizeifunks gab. Es war immer gut zu wissen, was der Gegner gerade machte. Aber ihn würden sie, wie sonst auch, nicht entdecken. Dafür war er einfach zu unauffällig. Selbst große Leute wurden übersehen, wenn sie es darauf anlegten, und unsichtbar zu werden – darin war er Meister. Nur in Hotels mußte man, wie gesagt, aufpassen.
Okay, noch der heutige Einsatz, und dann würde er wieder nach Hamburg zurückfahren. Vielleicht sogar per Flix-Train. Die Beschreibung der Reise in die alte Hansestadt auf der Seite des Unternehmens klang gemütlich: alte Waggons der Bundesbahn, Sechser-Abteile, Fenster, die sich öffnen ließen, nur wenige Haltepunkte unterwegs – Nostalgie war etwas, das Hinnerk schätzte. Spaßeshalber warf er einen Blick auf die Abfahrtszeiten des Zuges aus Köln: 15:01 Uhr, das konnte er sogar schaffen. Wenn die Einsatz-SMS rechtzeitig kam.
Schneider stand draußen vor der Lagerhalle und rauchte.
»Du wirst mir immer unsympathischer«, sagte Krüger. »Nicht nur, daß du dauernd deine Frauen wechselst, jetzt hast du auch noch eine neue Zigarettenmarke.« Er deutete auf den dunkelbraunen Glimmstengel.
»Zigarillo«, sagte Schneider. »Und du bist mal schön ruhig. Wenn ich dich an deine Zigarren erinnern darf …«
»Das kann man beim besten Willen nicht als Rauchen bezeichnen, zweimal im Jahr. Und dann nur eine halbe. Und nur unter Zuhilfenahme von Rotwein. Oder Whisky. Und außerdem darf Carmen nicht dabei sein, weil sie sonst etwas von den Gefahren von Alkohol und Rauch sagt. Und ohne Carmen ist das Leben nur halb so schön. Also rauche ich nicht. Jedenfalls nicht richtig.«
Schneider sah seinen Freund etwas neidisch an. Eigentlich wäre er auch gerne fest liiert, nicht nur teilweise und das nur manchmal. Andererseits schien das Glück immer auf der anderen, nie auf der eigenen Straßenseite zu lauern. Um es zu erhaschen, mußte man die Straße überqueren. Er seufzte und warf den nur zu einem Drittel gerauchten Zigarillo auf den Boden. Mit der Fußspitze erstickte er die Glut.
»Das wird aber auf die Dauer teuer«, sagte der Praktikant und trat neben die beiden Kommissare. »Der schöne Zigarillo. Aber bei Ihrem Gehalt spielt das sicher keine Rolle.«
Krüger studierte das Gesicht des jungen Mannes, der für die Lagerhalle viel zu intelligent aussah. »Wie heißen Sie eigentlich?«
»Fabian. Fabian Schmücker.«
»Und was machen Sie beruflich?« fragte Schneider.
»Bohnen schleppen. Kaffeebohnen. Also braune. Nicht die blauen, die hier durch die Lüfte fliegen.«
Schneider lachte. »Aber hierhin zu passen scheinen Sie ja nicht.«
»Tue ich auch nicht wirklich«, sagte der junge Mann. »Ist nur ein Zubrot. Eigentlich studiere ich Psychologie. Sechstes Semester.«
»Sind Sie dann nicht bald fertig?« fragte Krüger. »Den Abschluß als Bachelor erhält man doch schon nach drei Jahren, oder?«
»Eigentlich ja, aber wir Psychologen studieren deutlich langsamer. Schließlich müssen wir lernen, die Menschen ganz zu durchschauen.« Er warf Schneider einen durchdringenden Blick zu.
Was kam jetzt? Der jüngere der beiden Kommissare fühlte sich sichtlich unwohl.
Krüger, der das Mienenspiel seines Freundes verfolgt hatte, grinste. Geschah ihm ganz recht, daß er auch einmal in die Defensive geriet.
»Sie machen einen etwas frustrierten Eindruck«, sagte Schmükker. Mit dem Fuß schob er den Zigarillo Richtung Schneider. »Das Teil qualmt noch.«
Der Kommissar nahm dieses Mal den Absatz seines Schuhs zu Hilfe und trat etwas harscher als beabsichtigt auf den Rest der Glut.
»Beruflich frustriert?« Der Praktikant schüttelte den Kopf und beantwortete die Frage selber. »Glaube ich nicht. Dafür sind Sie viel zu neugierig.« Er zeigte auf den kleinen Block in Schneiders linker Hand, auf dem dieser sich Notizen gemacht hatte. »Wahrscheinlich eher privat.« Er überlegte. »Soll ich raten?«
Krüger kam seinem Freund zu Hilfe. »Das reicht jetzt aber. Wir sind ja hier, um einen Mordfall aufzuklären, und nicht, um bei Ihnen auf der Couch zu liegen. Also: Was können Sie uns denn zu Ihrem Chef sagen?«
»Zu Herrn Weyler?« Schmücker überlegte. »Ausgesprochen beliebt war er bei den Angestellten. Hat sich um den ganzen Laden gekümmert, war immer auf dem Laufenden, was ich so in der kurzen Zeit, seit ich hier bin, mitbekommen habe, Einkauf, Verkauf, Buchhaltung, Personal – was so anlag. Als er hörte, daß ich Student bin, hat er zwei Euro pro Stunde draufgelegt und gesagt, er habe als Student auch immer zu kämpfen gehabt, er wisse noch sehr gut, wie es ihm damals gegangen sei.«
»Ein altruistischer Unternehmer, interessant«, sagte Schneider. »Ich dachte immer, alle Kapitalisten seien egoistisch.«
»Nicht alle«, sagte Krüger versonnen. Ihm fiel wieder ein, was seine Mutter über einen Hamburger Unternehmer gesagt hatte, der sich vorbildlich um seine Angestellten gekümmert hatte. So’n netten Menschen war das.
»War er verheiratet?« unterbrach Schneider seine Gedanken.
Der Praktikant schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht. Er besaß jedenfalls keinen Ehering, den er auch trug. Und ob er eine Freundin hatte?«
Der junge Mann dachte wirklich mit; Krüger war angenehm überrascht. Bei der Polizei wurden auch Psychologen gebraucht – mal sehen.
»Ich glaube nicht«, antwortete Schmücker sich erneut selbst. »Außerdem habe ich hier nie eine Frau gesehen, der man ansah, daß sie sich für Herrn Weyler interessierte. Jedenfalls keine seines Alters. Natürlich haben sich einige Angestellte Hoffnungen gemacht …«
Der junge Mann beobachtete tatsächlich sehr genau, dachte Krüger; ich lasse ihn mal reden. Er nickte dem Praktikanten aufmunternd zu. »Jemand im Besonderen?«
»Frau Diepensiefen, die Buchhalterin, Anna Karenina, eine der Packerinnen, Frau Müller, die Sekretärin …«
»Das sind schon sechs«, sagte Schneider, während er sich Notizen machte.
Krüger grinste, denn er glaubte zu wissen, was nun kam.
»Nein, nein«, sagte Schmücker. »Drei. Das andere war nur die jeweilige Funktion im Betrieb.«
»Man nennt es Apposition«, sagte der sprachverliebte Kriminalhauptkommissar. »Etwas Hinzugesetztes beschreibt das Substantiv näher.«
»Hast du eigentlich keine Arbeit in der Duden-Redaktion gefunden und mußtest deswegen zur Polizei?« fragte Schneider etwas spitz. Irgendwann waret auch mal juut.
»Anna Karenina«, sagte Krüger versonnen. »Eine starke Frau.«
»Kaum«, sagte der Praktikant. »Eher ein graues Mäuschen. Und an ihrem Deutsch arbeitet sie noch.«
»Es ist immer besser«, fügte der Kommissar hinzu, noch ganz in Gedanken, »beim Original zu bleiben.«
Schmücker grinste. »Also, nochmal zu den Frauen. Ich glaube nicht, daß da jemals etwas Ernsthaftes gewesen ist. Vor allem, warum sollte eine der drei ihren Chef umbringen, der doch immer nett war?«
»Vielleicht«, sagte Schneider langsam, »hat er einer die Ehe versprochen und sich dann für eine andere entschieden.«
»Könnte sein«, sagte Krüger. »Eines der beiden klassischen Mordmotive. Eifersucht.«
»Und das andere?« Der Praktikant sah ihn neugierig an.
Von der Welt weiß er doch noch nicht so viel, dachte Krüger. »Geld«, sagte er. »Eigentlich geht es immer um Geld. Wenn ich die Eifersucht aber nochmal aufgreifen darf: Ehe bedeutet auch Absicherung, in vielen Fällen. Und die Aussicht darauf dann plötzlich zu verlieren … Wir behalten das mal im Auge.«
»Apropos Geld«, sagte Schmücker. »Davon hat Herr Weyler wirklich genug gehabt. Jede Menge.«
Statussymbole
Bonn, April 2019. Hinnerk trat vor das französische Café und schaute die Einkaufsstraße entlang. Ein bißchen, aber nur ein ganz kleines bißchen sah es hier aus wie in Ottensen. Der Hamburger Stadtteil war in den letzten Jahren richtig hip geworden, mit Ausländern – beziehungsweise inzwischen längst Einheimischen –, die über Jahrzehnte die Rezepte ihrer heimatlichen Küche nicht verlernt hatten, mit alternativen kleinen Betrieben, die wieder alte Handwerkskünste beherrschten, und mit kleinen Restaurants, die bei warmem Wetter die Bewirtung auf den Bürgersteig verlagerten. Anders als im portugiesischen Viertel am Hafen war derlei südländische Lebensart in Ottensen noch nicht reglementiert – es gab keine vom Ordnungsamt gezogenen Linien, bis zu denen Tische und Stühle vor die Häuser gestellt werden konnten. Anarchie war sowieso besser, fand der Hüne. Und in der Bonner Friedrichstraße gab es ebenfalls Restaurants, deren Betrieb draußen stattfand, kleine Läden mit alternativem Handel, aber auch den üblichen Espressoshop und eine Eis-Manufaktur. Als ob nicht handgemachtes Eis sowieso am besten schmeckte. Zwei hübsche Studentinnen auf Fahrrädern umkurvten ihn, was Hinnerk zu spät anerkennend pfeifen ließ. Da waren sie nämlich längst außer Ruf- und Reichweite. Er sah auf die Uhr. Viertel vor zehn – Zeit, sein Ziel Ecke Quantiusstraße und Meckenheimer Allee, irgendwo hinter dem Bahnhof, in Ruhe zu erreichen. »Italienische Spezialitäten Contadino« würde sich nach seinem Besuch einen neuen Eigentümer suchen müssen. Wer nicht hören wollte, mußte fühlen. Jedenfalls ein letztes Mal.
»Wieso?« fragte Krüger. »Haben Sie das Geld gesehen?«
»Die Scheine gezählt?« sekundierte Schneider.
»Die Münzen gewogen?« fügte der Praktikant hinzu. »Oh, sorry, das ist mir so herausgerutscht. Ich soll ja antworten.«
Schneider grinste.
»Nein, habe ich nicht«, fuhr Schmücker fort. »Aber sein Vermögen war nicht zu übersehen: Ein Bugatti, mit dem Herr Weyler die paar Meter von seiner Villa an der Argelanderstraße bis zur Firma zurücklegte. Maßgeschneiderte Kleidung—«
»Woraus haben Sie das geschlossen?« unterbrach ihn Krüger.
»Hat mir Anna gesagt«, sagte Schmücker und wurde rot, als Schneider ihn fragend ansah. »Anna Karenina, die Packerin. Die weiß es wiederum von der Dame aus der Buchhaltung und die—«
»Hat die Belege sortiert«, sagte Schneider. »Ich kann es mir denken.«
»Was noch?« fragte Krüger.
»Ein Bündel Bargeld in der Hosentasche«, antwortete der Praktikant. »Hunderter, wenn ich mich nicht irre. Fünfhunderter nimmt ja keiner mehr. Damit bezahlte er manchmal Lieferanten, die noch spät am Nachmittag mit ihrer Ware ankamen, wenn die Buchhaltung schon Feierabend hat.«
Schneider machte sich Notizen.
Krüger nickte und versuchte, alles zu behalten, was ihm in den letzten Jahren eigentlich immer gut gelungen war. Nur in jüngster Vergangenheit ließ ihn manchmal sein Gedächtnis im Stich. Vielleicht mußte er einfach mehr Vitamine essen, wozu ihn Carmen immer nötigte. Broccoli und so. Dabei reichte ihm eigentlich immer Gemüse in flüssiger Form. Whisky nämlich. Der wurde doch aus Getreide hergestellt, oder? Oder war Getreide kein Gemüse? Komisch, wie sich Gedanken ineinander verhaken konnten und man auf das, worauf man hinauswollte, nicht mehr—
»He!« Schneider stupste ihn an. »Du schläfst. Hör doch mal zu.«
Auf seine alten Tage konnte Krüger immer noch rot werden. »Sir«, sagte er daher nur kurz.
»Und teure Urlaube«, referierte Schmücker gerade. »Wenn man das alles zusammenrechnet, guckt, wie oft Kaffee angeliefert und wie oft er, in welcher Form auch immer, wieder verkauft worden ist – dann kann die Firma gar nicht so viel abgeworfen haben, wie Weyler ausgegeben hat.«
Krüger betrachtete den Praktikanten nachdenklich. »Und was meinen Sie, woher …?« Den Rest des Satzes ließ er unausgesprochen, was schon oft beim Gegenüber zu einem verstärkten Mitteilungsbedürfnis geführt hatte.
»Eine Erbschaft, glaube ich. Weyler erwähnte mal etwas von einer reichen Tante in Bremen. Oder war es Hamburg?« Er kratzte sich am Kopf. »Kann auch Lübeck gewesen sein. Irgendwo im Norden jedenfalls.«
»Rostock«, mutmaßte Schneider. »Gibt’s noch mehr Hansestädte?«
»Buxtehude«, sagte der Praktikant.
»Echt jetzt?« fragte Schneider.
»Hab ich mal gelesen.« Schmücker sah ihn triumphierend an. »In der Encyclopædia britannica.«
»Die haben Sie durchgelesen?« Schneider sah ihn bewundernd an.
»Könntet ihr mal aufhören?« Krüger hatte sein Dienstgesicht aufgesetzt, wie Schneider es nannte: zusammengezogene Augenbrauen, zwei senkrechte Striche auf der Stirn und heruntergezogene Mundwinkel. Besser, man stoppte dann sofort etwelchen Unsinn.
Der Praktikant hatte sowohl Krügers Miene als auch Schneiders Reaktion darauf mitbekommen. Leise sagte er: »Tut mir leid. Es stand bei Wikipedia.«
Schneider lachte.
Krüger behielt seinen ernsten Gesichtsausdruck bei und sagte: »Wahrscheinlich wissen wir morgen mehr. Falls Kauls neuer Computer funktioniert.«
Harald Kaul war der IT-Nerd im Polizeipräsidium. Er bekam immer alles heraus, ohne sich auch nur einen Zentimeter von seinem Bildschirm wegbewegen zu müssen. Darknet, Internet, Tor – alles stand seiner Fingerfertigkeit zu Diensten. Seit dem Fall der toten Professoren vor einigen Jahren hieß er bei seinen Kollegen Harry Cool, was ursprünglich nur der falschen Aussprache eines bei den damaligen Ermittlungen beteiligten Detective aus Oxford zu verdanken war.
»Okay«, sagte Schmücker und warf einen Blick auf seine Armbanduhr, die nicht ganz preiswert aussah. »’tschuldigung, aber ich muß weg. Vorlesung. Die Buchhaltung hat meine Kontaktdaten.« Früher hatte man eine Adresse, dachte Krüger. Das klang irgendwie ortsbezogener; heute war man nur noch digital aufzufinden.
»Hast du seine teure Uhr gesehen?« fragte Schneider. »Sah nach einer Patek Philippe aus. Woher er dafür wohl den Schotter hatte?«
Hinnerk studierte die zusammengeschraubte Eisentreppe zur Unterführung unter dem alten Bahnhof und fragte sich, wie um alles in der Welt man dieses gefährliche Provisorium überhaupt in Betrieb hatte nehmen können. In Hamburg gab es vernünftige Fußgängertunnels mit Betonstufen und Rolltreppen, aber hier in der Provinz? Genauso unverständlich war ihm die gerade entstehende neue Bebauung, die den Blick auf den wirklich hübschen Backsteinbahnhof verstellte, aus Blöcken bestand und einfach nur brutal aussah. Na ja, Altona war auch nicht viel besser; dort hatte man auf dem jüdischen Friedhof neben dem Bahnhof ein Kaufhaus errichtet. Stadtväter waren eben überall gleich.
Unten hatte man sich mehr Mühe gegeben; zumindest war die neue Ladenpassage schön hell, wenn auch noch einige Schaufenster mit Brettern vernagelt waren. Hinnerk war froh, als er auf der anderen Seite wieder ans Tageslicht kam; er konnte sich nicht vorstellen, sein Leben als Maulwurf zu verbringen, selbst wenn er damit seinen Lebensunterhalt verdiente. Da war ihm sein Beruf schon lieber. Manchmal hatte er überlegt, was er wohl auf eine Visitenkarte als Berufsangabe drucken lassen würde. Private Investigations klang nach Polizist im Ruhestand, fiel also aus. Außerdem unternahm er ja mehr, als nur zu ermitteln. Seine jeweilige Arbeit brachte er immer zu einem Abschluß. Wir beenden, was Sie angefangen haben kam auch nicht in Frage; das war ein Claim, kein Beruf. Termingeschäfte aller Art traf es wohl am besten. Vor allem steckte dort auch das Wort terminieren drin, allerdings so subtil, daß es nur ein Eingeweihter verstehen würde. Hinnerk grinste, während er einer Frau mit Kinderwagen auswich, die auf den gläsernen Fahrstuhl auf dem Bürgersteig zusteuerte, der nach unten zum U-Bahn-Schacht führte.
Gegenüber betraten gerade zwei Malergesellen das »Salönchen«, eine der zahllosen Kneipen, die man in allen Städten in Bahnhofsnähe antraf, wie Hinnerk fand. Der Alkoholpegel der Männer mußte wohl aufgefüllt werden, damit ihnen das Streichen der wenige Meter entfernten, eingerüsteten Fassade leichter fiel. Der Hüne schüttelte den Kopf. Alkohol gerne, manchmal auch ein Bier, in Hamburg natürlich außerdem der Hamburger Kümmel, aber nie vor oder während der Arbeit. Er benötigte eine ruhige Hand. Immer.
Die Schaufenster des Feinkostladens von Contadino an der Ecke zur Meckenheimer Allee waren gut gefüllt. Das Geschäft besaß drei Fenster mit Auslagen, die das Sortiment appetitlich aufbereitet anboten: Öl und Essig in allen Varianten und Preisklassen, Wurst, Käse, Nudeln – was immer aus der italienischen Küche der Käufer zum Leben benötigte. Hinnerk war der Meinung, daß wahres Essen nur südlich der Alpen zu bekommen war. Allerdings hatte er über die Jahre sein Herz durchaus für den Hamburger Labskaus erwärmen können. Im Norden war doch nicht alles schlecht. Und das Meeresgetier natürlich, das es in den diversen Fischbratküchen zu Hause gab.
Er stieß die Tür auf. Die geladene Pistole mit Schalldämpfer steckte in der rechten Jackentasche; seine Hand hielt sie fest, der Finger lag am Abzug.
Krüger hatte sein mobiles Hauptquartier ins »Lammé-Goedzak« verlegt. Der kleine Fußweg vom Tatort bis zur Ecke an der Argelanderstraße, an der das Restaurant lag, hatte ihm gut getan, wenn er auch etwas außer Atem angekommen war. Fit war etwas anderes, aber sobald man über vierzig war, mußte man sowieso mit allzu abrupten Bewegungen und sportlichen Exzessen aufpassen, wie er fand.
Die freundliche Inhaberin, die gerade selbst die Tische eindeckte, kannte den Kommissar und bot ihm einen Platz an, obwohl das Restaurant erst demnächst öffnen würde. »Setzen Sie sich mal an den großen Tisch, falls Sie noch Zeugen befragen wollen.« Ein mißglücktes Zwinkern folgte. »Sie sind ja schon zu zweit. Dann hat ja jeder nur die halbe Arbeit.«
Schneider verdrehte die Augen und folgte seinem Freund nach drinnen.
»Kaffee, die Herren?«
Krüger nickte. Nachdem er Platz genommen hatte, holte er sein kleines Moleskine-Notizbuch hervor und schlug es auf. Sorgfältig setzte er mit dem Füller in seiner kleinen Schrift den Titel auf eine neue Seite. Mordkommission Anden entzifferte Schneider, der dem Kriminalhauptkommissar gegenüber saß.
»Die sind wieder bei A«, sagte Krüger. »Hat Kaul vorhin gesagt. Er wollte nachher anrufen, um mich über seine Fundstücke im Internet zu informieren.«
»Anden und Kaffee paßt ja.« Schneider betrachtete gedankenverloren den großen, zu einer Blumenvase umfunktionierten Aschenbecher. »Die besten Dinge des Lebens verschwinden nach und nach.«
»Als nächstes ist wahrscheinlich der Alkohol dran.«
»Stimmt; einen Gemüsedrink können Sie bei uns schon bekommen«, sagte die Inhaberin, die den letzten Satz gehört hatte und gerade den Kaffee brachte. Sie deutete auf die Tassen. »Ich habe ihn etwas stärker gemacht. Tut Ihnen bestimmt gut.« Ein langer Blick auf Krüger folgte.
»Was für Gemüse?« fragte Schneider, der den Blick durchaus bemerkt hatte.
»Wollen Sie das wirklich wissen?« fragte sie spöttisch.
»Wollen wir nicht«, sagte Krüger. Er wartete, bis die Frau wieder hinter dem Tresen verschwunden war und Gläser in einen Schrank unter der Spüle einräumte. »Fassen wir mal zusammen, was wir bis jetzt wissen.«
Schneider schlug seinen Block auf und studierte seine fast unleserlichen Zeilen. »Der Tote heißt Andreas Weyler, ist 55 Jahre alt, geboren in Bonn, aufgewachsen in Bonn, Studium der Betriebswirtschaft in Bo—«
»Erzähl doch mal die wichtigen Dinge«, sagte Krüger. »Geld, Familie, du weißt schon, was.«
»Viel Geld, keine Familie.« Schneider grinste freundlich. »Dafür wohnte er mit zwei Studentinnen in einer weißen Gründerzeitvilla um die Ecke.«
»Eine ménage-à-trois?« Krüger war ehrlich erstaunt. Und ein bißchen neidisch. Zwei Studentinnen, lange Beine, kurze Röcke … Dann riß er sich zusammen. Etwas Besseres als Carmen konnte ihm nicht mehr passieren. Er schalt sich einen dummen alten Mann und wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinem Freund zu.
»Glaube ich nicht. Die beiden Frauen bewohnen das Dachgeschoß, was Weyler wohl nur deswegen vermietet hatte, damit das Haus nicht leer stand, wenn er auf einer seiner vielen Reisen war.«
»Oder weil er der Studentenschaft bei der angespannten Wohnungssituation in unserer Stadt etwas Gutes tun wollte. Denk an den erhöhten Lohn des Praktikanten.«
Schneider nickte. »Ein Wohltäter. Weiter. Nach den ersten Befragungen scheint es in der Belegschaft kein Motiv für einen Mord an ihrem Chef zu geben. Warum sollten sie auch den Arbeitgeber umbringen?«
»Langeweile?« Die Bemerkung trug Krüger einen strafenden Blick ein.
»Etwas anders sieht es in der Nachbarschaft aus«, fuhr der jüngere der beiden Kommissare nach einem Blick auf seine Notizen fort. »Es hat wohl Spannungen im Viertel gegeben, als Weylers Expansionspläne bekannt geworden sind.«
Krüger horchte auf. »Hier ist doch alles so dicht bebaut, daß bis auf die Gärten nirgendwo mehr Platz für Neubauten ist.«
»Weyler wollte den Bebauungsplan ändern lassen, um so auf dem kleinen unbebauten Grundstück rechts des seinen an der Königstraße ein weiteres Lager errichten zu lassen. Nötige Änderungen im Stadtrat lassen sich oft durch entsprechende Zuwendungen an unverdächtige städtische Empfänger erreichen, zum Beispiel das Grünflächenamt, damit ein Park wieder hergerichtet werden kann, oder …« Schneider schwieg und überlegte.
»Das sagst du jetzt so. Hast du Beweise?«
»Nein, aber so läuft es doch. Jedenfalls sind eine ganze Menge Leute richtig sauer, daß die Bebauungsplanänderung auf der Tagesordnung der nächsten Sitzung des Stadtrats steht.«
Krüger überlegte. »Wenn der Urheber des Ärgers also nicht mehr da ist …«
»Bleibt alles, wie es ist.«
»Ein schönes Mordmotiv. Wer kümmert sich also um den Stadtrat?«
»Da reicht ein Interview mit einem der eingeweihteren Journalisten vom General-Anzeiger. Am besten fragen wir den amerikanischen Araber aus der Redaktion, Imad Torqua. Der heißt wirklich so. Er stammt aus Pennsylvanien, ist aber nach dem Studium hier hängengeblieben.«
Die Inhaberin kam erneut an den Tisch und stellte sich vor Krüger auf. Da er saß, befanden sich seine Augen in Höhe ihres ansehnlichen Busens. Er beugte sich wieder über seine Notizen und sagte von unten: »Danke, aber momentan brauchen wir nichts.«
»Eine kleine Stärkung? Die Küche hat gerade eine Quiche gebacken; ich kann Ihnen gerne ein Stück bringen. Eine Aufmerksamkeit des Hauses.«
Krüger schüttelte den Kopf, ohne wieder nach oben zu sehen. »Wirklich. Sehr nett. Aber: nein.«
Im Weggehen erhielt Schneider noch einen fragenden Blick der Frau, den er nicht deuten konnte. »Mann, die hat es ja auf dich abgesehen. Dabei bist du doch schon über fünfzig und sie noch nicht.«
»Reife Männer sind eben angesehen und ansehnlich«, sagte Krüger sinnierend und dachte an Carmen, die acht Jahre jünger war. Er war glücklich und brauchte keinerlei Zerstreuung. Abrupt fuhr er fort: »Und außerdem machen wir eine Haus-zu-Haus-Befragung in der Südstadt, oder?«
»Wir nicht. Habe ich aber schon veranlaßt. Derenthal und Roselski sind bereits unterwegs.« Schneider gluckste. »Wenn ich mir die beiden an den Haustüren vorstelle …«
Krüger sah ihn strafend an. »Du hättest mich ruhig vorab informieren können. Dann hätte ich—«
»Dasselbe getan, oder?«