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Braune Bohnen

Bonn, April 2019. Ein gellender Schrei hallte durch das Lager der Kaffeerösterei. Marie Diepensiefen zitterte am ganzen Leib und deutete auf eine zusammengesunkene Gestalt zwischen den Jutesäcken mit den brasilianischen Kaffeebohnen. »Da, da, da …«, stotterte sie.

»Trio, oder?« sagte der Praktikant zu niemandem Bestimmten. Er interessierte sich für die Musik der Achtziger und nannte zu Hause schon eine beachtliche Vinyl-Sammlung sein eigen. Neugierig trat er näher.

Die Buchhalterin drehte sich um und barg ihren Kopf an der Brust des Praktikanten, der verlegen seine Arme um die ältere Frau legte und begütigend sagte: »Na, na, na.« Vorsichtig linste er über die ondulierten Haare von Frau Diepensiefen und versuchte, etwas im Halbdunkel zu erkennen. Plötzlich schaltete jemand die helle Deckenbeleuchtung ein, und er fuhr zusammen, woraufhin die Buchhalterin sich von ihm löste und aus der Halle rannte.

»Eins eins null«, rief sie laut. »Eins eins null. Ich erledige das.«

In der Tür kollidierte sie mit drei Packerinnen, die vom Lärm angelockt worden waren und nun, jeweils mit einer Hand über dem Mund, wie angewurzelt stehenblieben, als sie die Szene in sich aufgenommen hatten.

»Wer ist es denn?« fragte schließlich eine der drei Frauen und deutete auf die Leiche.

»Direktor Weyler«, sagte der Praktikant. Er war erfahrener Ego-Shooter. So schnell konnte ihn kein Toter aus dem Konzept bringen. »Kopfschuß. Vielleicht auch zwei. Nach meinem Dafürhalten jedenfalls.«

Eine der Packerinnen schluchzte auf und wischte sich mehrere Tränen aus den Augen.

Wahrscheinlich hat sie sich Hoffnungen gemacht, dachte der Praktikant. Junge mittellose Frau himmelt reichen Fabrikanten an und wird am Ende des Films von ihm erhört. Man liest das ja immer wieder. Daß er bei seinen Überlegungen verschiedene Genres durcheinanderwarf, störte ihn dabei nicht weiter.

»Was’n los?« fragte der untersetzte Mann, der gerade in die Halle gekommen war und sich an den Frauen vorbeidrängelte. Die Menge war inzwischen größer geworden; eigentlich war jede Art Abwechslung im eintönigen Packeralltag willkommen.

»Ey, Speedy«, sagte jemand zu ihm, »paß auf, wo du hintrittst!«

Ruben Gonzales richtete sich zu seiner vollen Größe von einem Meter fünfundsechzig auf und sagte: »Paß selber auf! Du stehst ja auch mitten im Weg. Und leg dich mit mir nicht an!« Befriedigt registrierte er, wie man ihm Platz machte. Vor der Leiche blieb er stehen. »Der ist tot«, sagte er fachmännisch. »Als ich noch in Kolumbien gearbeitet habe—«

»Kennen wir«, unterbrach ihn der Praktikant. »Du hast kistenweise weißes Pulver verpackt.«

Gonzales sah ihn empört an. »Du weißt gar nichts.«

Draußen war Sirenengeheul zu hören, und zwei Minuten später liefen zwei Streifenbeamte in die Halle. »Was’n los?« fragte der dickere der beiden.

»Ich mach das schon, Dieter«, sagte der jüngere Polizist.

»Okay, Roman, aber nur, weil du es bist.« Der Dicke machte bereitwillig Platz.

»Roman Roselski«, sagte der Jüngere. »Und das ist mein Kollege Dieter Derenthal.«

Der Praktikant verkniff sich ein Grinsen. »Zwei Rs, zwei Ds – R2D2«, flüsterte er Gonzales ins Ohr, der seinerseits grinste und dabei eine Reihe fleckiger, vom Tabak geschädigter Zähne zeigte.

Roselski betrachtete den Toten und beugte sich dann über ihn. »Sieht nach einem Schuß aus nächster Nähe aus.«

»Das Blut ist schon eingetrocknet«, sagte der Praktikant. »Ich würde mal sagen, der Schuß ist vor etwa«, er sah auf die große Wanduhr über dem Eingangstor, die acht Uhr zwanzig anzeigte, »zwölf Stunden abgegeben worden. Kann man am Rot der Wundränder sehen.« Er nickte energisch, wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.

Derenthal sah ihn überrascht an. »Sind Sie vom Fach?«

»Nicht direkt«, antwortete der junge Mann. »Grand Theft Auto.«

Der dicke Polizist sah ihn verständnislos an. »Und das heißt?«

Roselski grinste. »Der junge Mann hat Erfahrung mit gewalttätigen Computerspielen.«

»Gewalttätig, naja«, sagte der Praktikant.

»Und jetzt?« Derenthal sah seinen Kollegen fragend an.

»Clear the lobby!« imitierte Roselski den Speaker des englischen Parlaments, auch mit der entsprechenden Lautstärke.

Derenthal, der kein ausländisches Fernsehen verfolgte, warf Roselski einen verständnislosen Blick zu.

»Los, los, Mann.« Manchmal wurde es dem jüngeren Beamten zu viel mit seinem Kollegen. »Räum mal die Halle.«

»Geht doch«, murmelte Derenthal. »Immer und überall alles auf Englisch … ts, ts. Der Deutsche redet deutsch.« Letzteres versickerte aber in seinem nicht vorhandenen Bart und war ohnehin nicht politisch gemeint. Dazu hatte der dicke Streifenbeamte eine viel zu exakte Meinung zu Zeitgenossen, die nicht nachdachten und nur mit Führer durch die Gegend laufen wollten. Er scheuchte die kleine Menge aus der Halle und befestigte dann ein polizeiliches Absperrband am offengebliebenen Tor. »Und jetzt?«

»Jetzt rufen wir Krüger an«, sagte Roselski. »Der wohnt doch hier um die Ecke. Er kann weitermachen. Und du bist exkulpiert.«

Derenthal schüttelte den Kopf. Irgendwann reichte es mit Fremdwörtern.

Krüger gähnte und streckte sich. Schon acht. Noch hatte er aber Zeit für ein kleines Frühstück mit Carmen und käme anschließend mit der Straßenbahn trotzdem pünktlich um neun ins Polizeipräsidium in Ramersdorf. Die morgendliche Besprechung, die allerdings gerade begonnen hatte, würde wie seit Tagen – oder waren es nicht schon Wochen? – unergiebig sein, so daß Walther »mit th« Langenargen, sein Chef, bestimmt darüber hinwegsehen würde, wenn er ihm sagte, daß er für einen alten Fall ins Bonner Stadtarchiv hatte fahren müssen. Notlügen seien erlaubt, das hatte zumindest Martin Luther gesagt, wenn das auch schon etwas länger her war.

Es duftete verheißungsvoll nach Kaffee, als Krüger sich an den neuen Eßtisch in der geräumigen Wohnküche setzte. Jetzt, wo sie zwei Stockwerke bewohnten, hatten sie endlich für ihren Lieblingsraum mehr Platz. Alle guten Feiern fanden ohnehin in der Nähe des Herdes statt. Eigentlich brauchte man nur eine gemütliche Küche und ein großes Bett zum Glücklichsein.

Carmen hatte Brötchen aufgebacken und reichte Krüger eines, das beim Durchschneiden noch dampfte. Sie fing seinen Blick auf und sagte: »Das heißt auf Indianisch: Wir graben das Kriegsbeil aus.« Sie verfolgte die kleine Wolke, die sich bis zum Erreichen der Zimmerdecke längst aufgelöst hatte, und fügte hinzu: »Nein, warte, ich korrigiere: Wir haben den falschen Hasen von gestern unter die Erde gebracht.«

Krüger lachte. Eine Ehe war doch ganz nett, zumal er durchaus an der langen Leine gehalten wurde und immer wieder alleine unterwegs sein konnte oder im Wohnzimmer seinen Lieblingswhisky trinken durfte. Wobei er nicht Brief und Siegel für das liederliche Zusammenleben ohne Trauschein mit Carmen benötigte. Andererseits … Vielleicht sollte doch einmal er über einen Antrag nachdenken, ehe sie die Zeichen der Zeit erkannte und ihn entweder vor die Tür setzte – bei den modernen Frauen von heute wußte man ja nie – oder ihm ihrerseits mit einem eigenen Antrag zuvorkam. Und das paßte ja nun gar nicht, fand Krüger. Anträge waren etwas für wahre Männer, die sich trauten, sich trauen zu lassen.

Als er gerade zu seiner zweiten Tasse Kaffee greifen wollte, klingelte es an der Haustür Sturm. »Jaja«, sagte der Kommissar. »Immer sutje; ich komme ja.«

Ein zweites Sturmklingeln folgte.

Krüger ging zur Tür und öffnete. Etwas verständnislos studierte er das rote Gesicht von Dieter Derenthal, der nach Luft japste. »Wollen Sie nicht hereinkommen? Sie sehen ja völlig erledigt aus; dabei hat der Tag erst angefangen.«

»Sie … müssen … sofort … kommen«, stieß der dicke Polizist hervor.

»Ich muß gar nichts«, sagte Krüger etwas schärfer als beabsichtigt.

»Doch.« Derenthal holte tief Luft. »Drüben, in der Kaffeerösterei.« Er schwieg und schien den Faden verloren zu haben.

»So«, sagte der Kommissar, »jetzt kommen Sie doch erst einmal herein, setzen sich und trinken ein Glas Wasser. Dann sehen wir weiter. In Ihrem jetzigen Zustand kann man ja gar nichts verstehen.« Er bugsierte Derenthal in die Küche, nötigte ihn auf einen Stuhl und ließ eiskaltes Wasser in ein Glas laufen. »Austrinken!«

Mit sinnvollen Befehlen war Derenthal schon immer gut klargekommen; dann mußte er nämlich nicht selbst denken. Er kam Krügers Aufforderung nach und leerte das Gefäß in einem Zug. Dann wischte er sich den Mund ab und sagte: »Tut mir leid, aber Aufregung – und gleichzeitig Sport – ist nichts mehr für mich.«

Krüger unterdrückte ein Grinsen. »Ihr Kollege hätte doch auch kommen können, oder?«

»Der hat schon die Spurensicherung verständigt und mit Ihrem Chef telefoniert.«

»Was ist denn eigentlich los?«

»Der Besitzer der Kaffeefirma ›Wwe. Arntz’ Feine Kaffeebohnen‹ ist erschossen worden.«

Carmen hörte aufmerksam zu und fragte dann: »Und wo soll ich jetzt meinen Kaffee kaufen?«

Zwei Meisterschüsse

Bonn, April 2019. Krüger trank seinen Kaffee im Stehen aus. Beeilen mußte er sich nicht wirklich, da der Tote tot war und Derenthal nichts von Verdächtigen, die möglicherweise noch in der Nähe herumlungerten, gesagt hatte. Zusammen mit dem dicken Polizisten ging der Kommissar das kurze Stück am Poppelsdorfer Weiher entlang, überquerte die Kreuzung von Königstraße und Venusbergweg, passierte das »Bistrot Sud«, in dem er vor neun Jahren, als der Laden noch »Rietbrocks Weinhaus« hieß, den ersten Abend mit Carmen verbracht hatte, und betrat schließlich das Gelände der Kaffeerösterei. Er konnte nur einen kurzen Blick auf die schöne Gründerzeitfassade werfen, die mit ihren Spitzbogenfenstern eher an eine neugotische Kirche denn an eine Firma erinnerte, weil er sofort von Roselski in Beschlag genommen wurde.

»Es sieht übel aus«, sagte der Streifenpolizist.

»Geht es etwas genauer?«

»Na ja, der Tote. Und so.« Roselski verstummte. Er fühlte sich immer unsicher, wenn die Hierarchie in der Nähe war.

Krüger beschloß, sich selbst ein Bild zu verschaffen. »Führen Sie mich bitte zum Leichenfundort.«

Daß die Leute immer die Terminologie der Lehrbücher verwendeten, dachte Roselski. Andererseits – Tatort klang nach Sonntagabendfernsehen. Wahrscheinlich hatte der Kommissar mit seiner nüchternen Sprache recht. Gehorsam marschierte er vorweg und dirigierte Krüger durch ein im Originalzustand belassenes Kontor aus dem neunzehnten Jahrhundert – samt erhöhtem Podest für den Oberbuchhalter – und durch die Rösterei mit ihren großen Maschinen, die glänzten, als ob sie erst gestern montiert worden waren, bis zu einer kleineren Lagerhalle mit ihren Jutesäkken und einer hölzernen Lastenkarre.

Der Kommissar kam sich vor, als ob er in einem Industriemuseum gelandet wäre. Aber »Wwe. Arntz’ Feine Kaffeebohnen«, eine Institution in der Südstadt seit 1837, die mehr oder minder unbeschadet zwei Weltkriege überstanden hatte, war höchst lebendig und bei den Bonnern, aber auch weit darüber hinaus, in ganz Deutschland, beliebt, der Kaffee hervorragend und die Preise fair. Auch er schätzte den Kaffee, den Carmen immer mal wieder im Werksverkauf erstand.

Also kein Museum.

Krüger schnupperte. Feinkostläden hatten es ihm schon immer angetan, und Kaffeeläden ganz besonders. Sie dufteten nämlich vielversprechend, anders als Teeläden, in denen man den Geruch des Tees erst wahrnahm, wenn man seine Nase tief in eine Dose mit den getrockneten, geschroteten Blättern steckte. Schon im Kontor roch es hier nach Kaffeeröstung: ein leichter Hauch von gebrannten Mandeln, ein oder zwei versehentlich zu schwarz getoastete Kaffeebohnen, heißer Zucker und die tatsächlich noch per Dampf betriebenen Maschinen. Und heißes Öl. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen.

Vor der abgesperrten Halle warteten einige Angestellte gespannt darauf, wie es weiterging. Roselski zeigte auf den Praktikanten. »Der junge Mann ist der Meinung, daß der Tote schon seit gestern Abend, äh, tot ist.« Er wartete auf eine Reaktion seines Vorgesetzten.

Krüger aber nickte nur und näherte sich der Leiche.

Andreas Weyler war, wohl durch den Schuß bedingt, auf den Rücken gestürzt. Das Einschußloch befand sich in der linken Schläfe; die rechte Kopfhälfte war praktisch nicht mehr vorhanden, wie Krüger sah, als er sich vorsichtig über den Toten beugte. Wahrscheinlich hatte der Täter seine Patronen an der Spitze aufgebohrt, damit die Verletzung größer war. Wie hatte es im Handbuch für Waffenkunde geheißen? »Beim Einschlag in das Ziel pilzt die Geschoßspitze auf und zerlegt sich teilweise; dadurch wird die Energie sehr schnell abgegeben, und die Gefahr des Durchschlags durch das Zielmedium besteht nicht mehr.« Effiziente Arbeit, dachte er. Sieht nach einem Profi aus. Möglicherweise.

Am Tor entstand Unruhe, und Krüger drehte sich um.

»Wenn Sie mich bitte durchlassen wollen, damit ich meine Arbeit tun kann, oder?« Seine sonore Stimme verschaffte Professor Altendorf augenblicklich freie Bahn. Er bückte sich leicht, um unter dem Absperrband hindurchzutreten, und kam auf den Kommissar zu. »Herr Kriminalhauptkommissar, wie nett, Sie bei der Arbeit anzutreffen. Oder?«

Krüger war sich nie sicher, wieweit die Sätze des Bonner Rechtsmediziners reine Ironie waren. »Ganz meinerseits«, sagte er daher vorsichtig. »Sie kommen sogar persönlich!« Das war jetzt wieder stilistisch völlig mißglückt. Unpersönlich konnte man ja nicht kommen, außer vielleicht über Skype.

Altendorf überhörte Krügers Lapsus. »Es ist immer gut, regelmäßig selbst an der Verbrecherfront aufzutauchen, sonst verliert man den Bezug zur Realität.« Er trat an den Toten heran. »Hat schon jemand Bilder gemacht?« Er sah sich fragend um.

»Ich«, sagte der Praktikant, der, von der Hofseite kommend, unversehens hinter Krüger aufgetaucht war. Er hielt dem Kommissar sein Handy hin.

»Das geht ja nun gar nicht.« Krüger war wütend. »Und schon alles in die unsozialen Netzwerke hochgeladen, oder?«

Der Praktikant schüttelte den Kopf. »Dort treibe ich mich nicht herum. Facebook ist nur noch etwas für über Sechzigjährige«, er warf Krüger einen prüfenden Blick zu, »Instagram etwas für Kindergartenmütter, die die schönsten Kuchenbilder teilen wollen, Snapchat verstehe ich nicht, und Twitter … Wenn selbst die amerikanische Präsid-Ente dort ihren Müll absondert, ist das für mich ein Grund mehr, das Programm nicht zu benutzen.« Er zeigte auf sein Mobiltelefon. »Das hätte ich gerne zurück, wenn Sie’s nicht mehr brauchen.«

Krüger hatte die Galerie-App des Smartphones aufgerufen und scrollte durch etwa zwanzig Fotos von der Leiche, der Halle und der Schaulustigen. Die Bilder waren von einer bemerkenswerten Qualität.

Der Praktikant sah, wie der Kommissar anerkennend nickte, und sagte bescheiden: »Huawei.«

»Gesundheit«, sagte Derenthal, der das Handy neidisch betrachtete.

Roselski grinste.

Zwei Männer von der Spurensicherung in weißen Ganzkörper-Overalls kamen in die Halle gelaufen. »Macht Platz. Weg da. Nicht so dicht an die Leiche. Ihr kontaminiert die gesamte Szenerie!«

Zweistimmig klangen die Sätze sogar musikalisch, dachte Krüger. Gehorsam trat er zur Seite, um Altendorf und die Leute von der KTU ihre Arbeit machen zu lassen.

Der Rechtsmediziner kniete sich hin und deutete auf das Einschußloch. Dann sagte er etwas zu den beiden Männern, die ihn überrascht ansahen. Einer der beiden holte aus dem mitgebrachten Koffer ein Vergrößerungsglas und reichte es Altendorf. Dieser wiederum hielt es über die linke Schläfe des Toten, angelte einen Kugelschreiber aus seiner Brusttasche und stellte augenscheinlich die Verlängerung des Schußkanals nach – aus dem Kopf der Leiche in die Luft davor. Fragend sah er auf.

»Könnte sein«, sagte schließlich einer der beiden weißgekleideten Techniker.

Altendorf erhob sich wieder und drehte sich dem Kommissar zu. »Sie haben zugesehen?«

Krüger nickte. »Aber nichts verstanden.«

»Lehrling und Meister«, sagte der Rechtsmediziner jovial. »Ich verstehe.« Er zwinkerte Krüger zu. »Wenn mich nicht alles täuscht, sind zwei Schüsse gefallen. Der zweite war so genau gezielt, daß er fast den gleichen Weg wie der erste genommen hat. Genaueres kann ich erst nach der Obduktion sagen. Sagen wir um drei?«

Der Kommissar überlegte, ob er blaß werden sollte, entschied sich aber dagegen. Ihm würde bestimmt etwas einfallen, um seine Teilnahme an der Leichenöffnung zu umgehen. Die Nummer mit Schneiders rechtzeitigem Telefonanruf, um ihn zu einem dringenden Fall dazuzuholen, also von der Obduktion wegzurufen, funktionierte ja nicht mehr; Altendorf hatte ihn schon beim zweiten Mal durchschaut. Hoffentlich kam er auf einen neuen Ausweg. Es gab keine Hilfe – wie immer im Leben.

»Ein Profi«, sagte Schneider, der so leise hinter Krüger getreten war, daß dieser zusammenfuhr.

»Mann, mich so zu erschrecken«, sagte der Kriminalhauptkommissar und legte die Hand auf seine Brust, dorthin, wo er das Herz vermutete. »Du bist bloß Kriminalkommissar. Du darfst das Leben deines Vorgesetzten nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Mein Herz arbeitet nach Carmens Kaffee heute morgen zu Hause und dem Kaffeeduft hier ohnehin schon auf Hochtouren.«

»Soll ich einen Stuhl holen?« fragte Altendorf. Sein Grinsen war nur noch als dreckig zu bezeichnen.

Der Duft der weiten Welt

Hamburg, März 1963. Claus Möller hatte die Nase gestrichen voll. Das war jetzt die zweite Abmahnung in dieser Woche gewesen, die ihm sein Vorgesetzter verpaßt hatte. Und dabei hatte er sich nichts zu Schulden kommen lassen; er war nur wieder zu spät zur Arbeit gelangt. Und erneut hatte es nicht an ihm gelegen: Die Werkshalle von Menck & Hambrock in Ottensen, in der er arbeitete, war fußläufig in gut zehn Minuten von der S-Bahn-Station Bahrenfeld zu erreichen. Wenn ihm allerdings die Bahn in Othmarschen, weil sie zu früh gekommen war, vor der Nase davonfuhr, war das nicht seine Schuld. Er hatte bei einem Freund übernachtet und den Weg zur Haltestelle unterschätzt. Claus war einundzwanzig Jahre alt und dachte, die Welt stünde ihm offen.

Wütend hatte er auf dem Absatz kehrtgemacht und das Gelände der Maschinenfabrik verlassen. Etwas Besseres als den Tod fände er überall – und wenn er bei der Beseitigung der vielen Trümmergrundstücke half, die noch immer das Stadtbild prägten. Seiner Meinung nach machte der Hamburger Senat immerhin das Beste aus der Situation und verschaffte durch den Bau von Sozialwohnungen Tausenden der ausgebombten Familien ein vernünftiges Dach über dem Kopf. Seine Mutter und er hatten Glück gehabt – sie wohnten in einem der neuen Mehrfamilienhäuser aus den fünfziger Jahren am Bahrenfelder Kirchenweg. Er sammelte seine Gedanken und sah sich um.

Nachdem er nur noch aus Ottensen weggewollt hatte und in die nächste Bahn eingestiegen war, war er inzwischen irgendwie am Hafen gelandet, seinem Lieblingsort in Hamburg, genauer gesagt: an der Speicherstadt. Schon am Baumwall konnte man in der Regel den frischen Wind genießen, und es roch nach Abenteuern. Von der Elbe wehte die vertraute Mischung zu ihm herüber: Motoröl und Brackwasser, der Rauch einiger kleinerer Dampfschiffe, außerdem Teer und Fischbrötchen. Er stutzte. Fischbrötchen? Dann mußte er lachen, weil ein älterer Mann an der Backsteinmauer vor dem kleinen Binnenhafen lehnte und herzhaft in sein Mittagessen biß. Eine hungrige Möve hatte sich mit etwa anderthalb Metern Abstand zu ihm auf der Mauer niedergelassen und verfolgte wehmütig, wie das Brötchen immer kleiner wurde. Als es ganz verschwunden war, breitete sie die Flügel aus und flog Richtung Landungsbrücken davon. Fast schien es Claus, als habe sie zuvor noch mißbilligend den Kopf geschüttelt.

Ein Abenteuer, genau, das war es eigentlich. Einfach auf einem Schiff anheuern und nach Südamerika davonsegeln. Unter falscher Flagge sozusagen, denn seiner Mutter wollte er lieber nichts von seinen Sehnsüchten sagen und ihr schon gar nicht die Möglichkeit geben, ihn davon abzuhalten. Und dann darüber schreiben … Wie Gorch Fock, der die Jahre seines kurzen Lebens mit der Abfassung von Seefahrtsgeschichten verbracht hatte. Oder Lieder dichten … Musik war für Claus etwas, für das er viel zu wenig Zeit hatte. Aber wahrscheinlich hatte er für beides kein Talent. Seine Stimmung verdüsterte sich.

Vielleicht blieb er besser zu Hause. Mutter hatte schon genug durchgemacht in ihrem Leben: zuerst Kriegsbraut, dann – auf einem der wenigen Heimaturlaube ihres Mannes, bevor er wieder nach Rußland zurückbeordert worden war – werdende Mutter und schließlich Kriegswitwe, als ihr Mann bei der Schlacht um Stalingrad ums Leben kam. Frau Möller hatte nie wieder geheiratet.

Ohne es zu merken, stand der junge Mann inzwischen vor den hohen, aus braunen Backsteinen gemauerten Lagerhäusern auf Kehrwieder. Er war ein waschechter Hamburger und liebte die vielen sprechenden Namen der Stadt. Es war doch schön, sich auszumalen, wie in früheren Jahrhunderten – und heute wohl auch noch – die Matrosenliebchen an Kehrwieder den Seefahrern Glück und eine gute Heimkehr gewünscht hatten.

Wie üblich herrschte rege Geschäftigkeit vor der langen Häuserzeile. Stückgut wurde an langen Seilen, die aus den Außenwinden am Dachfirst herausliefen, in die Höhe gezogen und verschwand im Inneren der Lagerräume. Einige der großen Kisten trugen einen Aufdruck in englischer Sprache, einige waren französisch beschriftet und wieder andere schienen spanisch zu sein; jedenfalls hielt Claus sie dafür. Vor einem Handelskontor wurden gerade Jutesäcke mit einem dicken Hanftau umschlungen und dann zusammen an dem Transportseil befestigt. Wahrscheinlich Bohnen oder Tee, die von den Quartiersleuten verstaut werden würden.

Täuschte er sich oder bog gerade am Ende von Kehrwieder ein Pferdefuhrwerk auf die Brücke zum Sandtorkai? Claus war sich nicht sicher, da dieses alte Transportmittel allmählich aus der Stadt verschwand, aber es hatte schon sehr nach Hufen auf dem Kopfsteinpflaster geklungen.

Der junge Mann legte den Kopf in den Nacken und sah an den Backsteinfassaden hoch. Er hatte sich schon immer für Hamburgische Geschichte interessiert und manches Mal gewünscht, den Bau der »neuen« Speicherstadt Ende des neunzehnten Jahrhunderts miterlebt zu haben. Man mußte sich das mal vorstellen: erst einen ganzen Stadtteil abzureißen, um ihn danach – hochmodern – neu zu errichten. Und das Ganze obendrein auf den Inseln in der Norderelbe. Das hatte natürlich den Vorteil, daß die Warenanlieferungen auf der Rückseite der Speicher von den Fleets aus erfolgen konnten; ein pfiffiger Gedanke, wie Claus fand: Wasserstraßen und Steinstraßen zur Beförderung der Güter.

Die meisten Häuser der Speicherstadt umfaßten fünf Stockwerke und oft ein weiteres Geschoß unter dem Dach: die ersten beiden für die Kontorräume, darüber dann die Lageretagen. Und alles auf Pfählen im Untergrund der Fleetinseln. Innerhalb weniger Jahre hatte man die Speicher fertiggestellt, nachdem die alten, zum großen Teil noch mittelalterlichen Fachwerkhäuser beseitigt worden waren. Fertige Stahlskelette aus den Hochöfen des Ruhrgebiets hatten den Bau beschleunigt. Irgendwann war man trotzdem wieder zu Holzpfählen und Holzbalken zurückgekehrt, die einem Feuer länger standhalten konnten als Stahl. Und Wasser zum Löschen im Notfall gab es ja genug.

Irgendwo mitzubauen, das wäre auch ein schöner Beruf. Claus ging langsam weiter. Ein paarmal mußte er Schauerleuten ausweichen, die gerade ein kleineres Schiff im Binnenhafen entluden und Ballen auf einer Schulter zu einem Haus gegenüber schleppten. Die Sachen schienen schwer zu sein, denn regelmäßig nahmen die Männer ihre Schirmmützen ab und wischten sich über die Stirn.

Schließlich blieb er vor einem Gebäude stehen. Über dem doppelportaligen Haupteingang stand in goldenen Messingbuchstaben »Harry Petersen Kaffeeimport«. Am linken Torflügel aus poliertem schwarzen Holz war ein Stellenangebot befestigt: »Junger Mann für Lagerarbeiten und mehr gesucht. Bei Herrn Konrad (1. Stock) melden.« Die Tüchtigen werden schon Glück haben, dachte er, und stieß die Tür auf.

Konsul Petersen schob den Schreibtischstuhl zurück und stand aufgrund seines deutlich zu großen Bauches etwas mühsam auf. Er achtete nicht so sehr auf seine Figur, weil er gutes Essen liebte, was es ja endlich wieder gab. Endlich stimmte jedoch nicht so ganz; bereits seit Anfang der fünfziger Jahre ging es mit der deutschen Wirtschaft steil bergauf – wie auch mit seiner Firma. Er konnte sich mit seiner großen Kaffeerösterei alles leisten, was er wollte. Zuletzt hatte er vor drei Jahren in Blankenese eine prächtige Villa an der Elbchaussee gekauft. Geld war genug da.

Er trat ans Fenster und ließ das letzte Gespräch mit seinem Kompagnon Revue passieren. Andrea Russo war vor fünf Jahren im Rahmen des 1955 zwischen der Bundesrepublik und Italien geschlossenen Anwerbeabkommens zur Beschaffung ausländischer Arbeitskräfte als Hilfsarbeiter nach Hamburg gekommen und hatte sich über verschiedene Firmen hochgearbeitet. Vor vier Jahren war er mit einem großen Geldbetrag als Teilhaber in Petersens Firma eingestiegen. Russos Lebenslauf und seine Referenzen waren gut; und in Zeiten des deutschen Wirtschaftswunders war es leicht, rasch zu Geld zu kommen. Und er konnte arbeiten. Daß er darüber hinaus über ein großes Organisationstalent verfügte, war ein Glücksfall gewesen.

Fast schien es dem Konsul, als könne er sich beruhigt auf sein Altenteil zurückziehen, aber mit Mitte fünfzig fand er sich dafür doch noch zu jung.

Unten wurde gerade die Ladung eines kleinen Schiffes gelöscht, und die Arbeiter trugen Ballen ins Nachbarkontor. Petersen verfolgte den Weg eines jungen Mannes, der geistesabwesend durch das Treiben auf Kehrwieder strich und zweimal mit einem der Schauerleute zusammenstieß. Schließlich blieb er vor der Kaffeerösterei stehen und schien das von Herrn Konrad angebrachte Schild zu studieren. Der junge Mann sah nach oben, und Petersen trat einen Schritt zurück, um nicht als neugieriger Beobachter bemerkt zu werden. Kurz darauf ging er aber erneut ans Fenster.

Der junge Mann war verschwunden.

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