Читать книгу: «Einsiedlerkrebs», страница 2

Шрифт:

MITTWOCH, 12. FEBRUAR 2020

Gerade noch bin ich gemütlich durchs Leben geschippert, plötzlich befinde ich mich mitten auf hoher See, die leider nicht vergleichbar ist mit dem warmen Meer in Thailand. Die Wellen peitschen mir kalt ins Gesicht, alles wackelt, dreht sich und macht es mir nicht einfach, fest am Boden zu stehen. Während weltweit (nur) etwas mehr als 45.000 Menschen an der neuen Lungenkrankheit COVID-19 erkrankt sind und das neue Virus in den Hauptnachrichten nicht einmal eine Kurzmeldung ist, bin ich seit heute mit einer völlig anderen Diagnose konfrontiert. Vor drei Tagen hat man mir de facto gesagt, dass ich Krebs habe. Krebs. Ein Wort, das ich schon so oft verwendet habe, das mir dabei aber immer ganz weit weg vorgekommen ist. Krebs, das trifft doch nur die anderen. Krebs, das haben alte Leute oder die, die ungesund leben, viel rauchen und trinken, sich nicht von der Couch bewegen. Aber jetzt bin ich es. 36, eigentlich kerngesund, mitten im Leben und bis jetzt unverwundbar, zumindest gefühlt.

Noch ist nicht klar, was genau da in meinem Körper schlummert. Eine bösartige Erkrankung der Lymphknoten nennt es der Arzt beim Gespräch nach den ersten Untersuchungen. Ein Gespräch, von dem man immer annimmt, dass man es selbst nie führen muss. Aber plötzlich sitze ich da in dem kleinen, eher schmucklos eingerichteten Büro des Ober-Krebs-Kapazunders und höre genau das, wovor ich mich mein Leben lang gefürchtet habe. Als Hypochonder hatte ich mir im Laufe der Jahre schon allerhand Krankheiten vorgestellt. Von Meningitis über mehrere Gehirntumore bis hin zu einer Blinddarmentzündung. Aber plötzlich ist es kein Hirngespinst mehr, plötzlich ist es wirklich da, ganz echt und es betrifft mich. In nur wenigen Tagen habe ich im Krankenhaus nun mehr Untersuchungen absolviert als in den 35 Jahren davor zusammen. Mir wurde gefühlt ein Liter Blut abgenommen, ich wurde von Kopf bis Fuß geröntgt und zuletzt hat man mich noch samt radioaktivem Material im Körper für dreißig Minuten in eine Röhre gesteckt. Das ist wohl nicht nur für einen ängstlichen Menschen wie mich ein absoluter Albtraum, einer, der aber nach dem Aufwachen in der Früh leider nicht aufhört.

Die genaue Diagnose steht in zwei Tagen fest. So wie es aussieht, dürfte es eine Form von Lymphdrüsenkrebs sein. »Unter Ärzten heißt es, wenn man sich einen aussuchen kann, dann den«, hat mir der Chefradiologe nach der Untersuchung gesagt. Und auch der Onkologe ist optimistisch, dass man die bösen Zellen in meinem Körper gut behandeln beziehungsweise sogar ganz heilen kann. Trotzdem macht mich die Ungewissheit wahnsinnig. Was kommt auf mich zu? Wie lange werde ich eine Chemotherapie brauchen? Fallen mir die Haare aus? Und die am meisten belastende Frage: Werde ich daran sterben? Zum ersten Mal in meinem Leben klopft der Tod an meine Tür. Zugegeben noch ganz leise, aber er verschafft sich zum ersten Mal Raum in meinem Leben und dieses Gefühl ist, ich kann es nicht anders beschreiben, scheiße.

Die Tage über versuche ich mich so gut es geht abzulenken. Meine Familie und meine Freunde kreisen seit der Diagnose wie eine Armee aus Schutzengeln um mich herum, sprechen mir Mut zu und sind für mich da. Ein wirklich schönes Gefühl. Auch weiter entfernte Freunde und Kollegen, die davon erfahren haben, melden sich plötzlich. Wobei sich manche SMS fast schon wie Nachrufe oder Kondolenzschreiben lesen, was nicht wirklich stimmungsaufhellend wirkt. Auch wenn ich rational weiß, dass die Chancen, diese Krankheit zu überleben, sehr hoch sind, bleibt die Angst in mir drinnen. Ich hoffe sehr, dass die genaue Diagnose und der Behandlungsplan diesen Zustand zumindest etwas ändern. Denn ich will leben, lachen und weiter die Welt sehen. Und mich nicht von einem Krebs, wie immer er auch heißt, davon abhalten lassen. Dass mich daran in nächster Zeit nicht nur der Krebs, sondern auch ein neuartiger Virus hindern wird, ahne ich zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht.

DONNERSTAG, 13. FEBRUAR 2020

Prack. Zack. Bumm. Früher als erwartet ist die endgültige Diagnose da. Per Telefon gibt es die erste Auskunft von einem überaus einfühlsamen Arzt, den ich ab jetzt wohl öfter sehen werde. Auch wenn man noch so sehr damit rechnet, es zu hören ist doch noch einmal etwas anderes: »Der Verdacht hat sich leider bestätigt, Sie haben eine bösartige Lymphdrüsenerkrankung«, sagt die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Ist es ein Hodgkin?«, frage ich fast in seine letzte Silbe hinein. »Ja, ist es«, sagt er. Völlig absurderweise entfährt mir ein Jubelschrei. Denn der Hodgkin – ein Name, den ich davor noch nie gehört habe – gilt als der am besten heilbare unter den Lymphdrüsenkrebsarten mit einer Heilungschance von über neunzig Prozent, das hatte ich bereits im Vorfeld gegoogelt.

Dass ich mich einmal über eine »bessere« unter den Krebsarten freuen würde, hätte ich mir auch nicht gedacht. Sofort greife ich zum Telefon und rufe Familie und Freunde an, die die letzten Tage mit mir gezittert und gewartet haben. Voller Euphorie verkünde ich, dass es die harmloseste Version dieser Arschloch-Krankheit ist. Eine Euphorie, die meine geschockten Gesprächspartner etwas überfordert und verwundert. Denn das Wort Krebs löst wohl bei den meisten von uns nach wie vor den Gedanken aus, dass es mit den Betroffenen bald vorbei ist und man sich langsam verabschieden sollte.

Als Erstes rufe ich meinen Lebensgefährten Alexander an, der ebenso schockiert reagiert, da er wohl bis zuletzt gehofft hat, dass sich alles als einfache Virusinfektion herausstellt. Er lässt in seinem Büro alles liegen und stehen und kommt sofort nach Hause, um mit mir gemeinsam ins Spital zu fahren, um den Befund zu besprechen. In der Garderobe schnappe ich mir intuitiv eine Kappe und setze sie auf, irgendwie habe ich das Gefühl, dass meine Haare jetzt schon weg sind, obwohl das natürlich noch nicht der Fall ist.

Im Spital angekommen warten wir in einem recht schäbigen Gang, in der onkologischen Abteilung. Onkologie! Eine Abteilung, an der man in Krankenhäusern immer vorbeigeht und hofft, dass man dort nie landet. Jetzt bin ich hier und zwar nicht als Besucher, sondern als Patient. Mit einem breiten, freundlichen Lächeln begrüßt uns der Oberarzt, der sich extra schnell die Zeit freigeräumt hat, um mir alles zu erklären und den Fahrplan der nächsten Wochen und Monate zu besprechen. »Die gute Nachricht zuerst, es ist kein Todesurteil und Sterben ist absolut kein Thema«. Ein Satz, der mich sehr beruhigt, aber ganz stark nach einem »aber« klingt. »Bei der CT-Untersuchung haben wir festgestellt, dass in Ihrer linken Körperhälfte mehrere Areale von der Erkrankung betroffen sind, auch der Oberschenkel.« Ein Satz, der wie ein Fallbeil auf mich einschlägt. Im Knochen? Metastasen? Was bedeutet das? Der wirklich sympathische und besonnene Mediziner merkt meine Angst und setzt sofort nach. »Das hat nichts mit Metastasen zu tun, das sind die Lymphbahnen, das ist Teil dieser Hodgkin-Erkrankung«. Mein Puls verlangsamt sich unmerklich, aber es ist zumindest eine Entwarnung und die schlimmsten Bilder, die ich mir binnen Sekunden in meinem Kopf ausgemalt habe, verschwinden zumindest ein wenig.

Trotzdem haben es auch die nächsten Infos in sich, die der Doc für mich parat hat. »Wir müssen nächste Woche mit der Chemotherapie beginnen, die sechs Monate lang dauern wird.« Wow. Sechs Monate, ein halbes Jahr. Sofort tauchen in meiner Vorstellung leidende, glatzköpfige Menschen auf, die an einem Tropf hängen und aufs Sterben warten. Mitten in meine Gedanken hinein erklärt er mir den Zyklus, wie das bei Chemotherapien heißt. Am ersten Tag eine Infusion, dann sechs Tage lang Medikamente, am achten Tag wieder eine Infusion, danach zwei Wochen lang Pause – das Ganze insgesamt acht Mal. »Werden mir die Haare ausfallen?«, frage ich ihn, fast schon in einer Art Ruhe, die in den letzten Minuten in mir eingekehrt ist. »Ja, das werden sie. Auch die Augenbrauen. Aber die wachsen nach Ende der Therapie wieder nach«. Es sind fast zu viele Informationen für mich, mein Kopf kommt mit dem Denken und Verarbeiten nicht nach. »Sie werden sehen, Sie werden da gesund wieder herauskommen und eine ganz normale Lebenserwartung haben. Aber das nächste halbe Jahr wird hart«, erklärt mit der Arzt Anfang fünfzig.

Ich – ganz Journalist – will mir sofort ein Bild von dem machen, was mich da die kommenden Monate erwartet und frage ihn, ob ich mir die Station anschauen darf, die ich in der kommenden Zeit öfter sehen werde. Der Arzt, Alexander, der alles mitgeschrieben hat und mir ein großes Gefühl der Sicherheit in dieser schrecklichen Situation gibt, und ich gehen aus dem alten Pavillon ein paar Schritte weiter in ein ziemlich neues Gebäude. Viel Glas, hell und freundlich schaut es aus. Als wir auf die Station kommen, bestätigen sich meine Bilder, die ich vorher im Kopf hatte. Viele glatzköpfige Menschen, die an Infusionen hängen und alles andere als gesund ausschauen. Einzig ein älterer Herr, der ganz hinten an einem Holztisch sitzt, scherzt lebhaft mit einer Krankenschwester. Mit dem könnte ich es auch lustig haben, denk ich mir. Nach fünf Minuten beenden wir unseren Rundgang und der Arzt verabschiedet sich freundlich von uns. »Bis Montag, wir schaffen das schon«, sagt er.

Ich habe das dringende Bedürfnis, bei meiner Familie zu sein. Alexander und ich fahren vom Krankenhaus direkt nach Hause zu meinen Eltern, um sie über den Fahrplan und die genaue Diagnose zu informieren. Meiner stets optimistischen Mutter fällt es merklich schwer, ihre Zuversicht zu behalten, bei all den Informationen. Auch wenn es so gut wie sicher ist, dass ich nicht an dieser Krankheit sterben werde, ist die Aussicht auf sechs Monate Chemotherapie alles andere als ein Kindergeburtstag. Nach langen Gesprächen kommen wir aber zu dem Schluss: »Wir schaffen das. Gemeinsam«. Es ist ein gutes Gefühl, so starken Rückhalt in einer solchen Situation zu haben, auch wenn mir die Angst vor dem, was jetzt kommt, bereits tief in der Brust sitzt.

FREITAG, 14. FEBRUAR 2020

Es ist Valentinstag. Alle Zeitungen und Fernsehwerbungen sind voll von Blumen, Schokolade und Liebenden, die sich küssen und umarmen. Für mich hat der Valentinstag heuer einen Strauß voller Sorgen, Angst und auch Panik parat. Langsam verankern sich in mir die Gedanken daran, was in den nächsten Monaten auf mich zukommen wird. Wobei es nach dem Aufwachen immer ein paar Stunden dauert. Ist das wirklich alles passiert? Habe ich das nur geträumt? Diese Fragen stellen sich mir nur kurz, denn das riesige Pflaster auf meinem Hals, an jener Stelle, an der man mir einen der bösen Lymphknoten entfernt hat, gibt mir recht schnell eine klare Antwort. Das Gefühl in mir ändert sich fast stündlich und kommt und geht in Wellen. Abwechselnd denke ich: »Ich schaffe das schon. Es hätte mich noch viel schlimmer erwischen können«, und: »Ich habe keine Kraft für das alles und es wäre besser, einfach vor ein Auto zu laufen und sich das Ganze zu ersparen.«

Fast minütlich melden sich Freunde und Familie bei mir. Alle von ihnen haben natürlich das Wort »Hodgkin« gegoogelt. Ich merke, dass ihnen die Informationen, die sie bei Dr. Google gelesen haben, Zuversicht und Beruhigung geben. Ich habe mir das Recherchieren im Internet dazu ab sofort verboten. Ich kenne mich. Statt die vielen positiven Infos und guten Krankheitsverläufe zu lesen, würde ich mir das Schlimmste herauspicken und in meinem Hirn wie ein Postit festkleben. Deshalb lass ich es lieber. Ich habe heute aus dem Bauch heraus allerdings zwei Entscheidungen getroffen.

Erstens: Ich möchte meine Genesung nicht zu Hause absolvieren. Ich habe die letzten Monate dort zu oft zu schlecht geschlafen, mir zu viele Sorgen gemacht und nicht zuletzt auch die Diagnose sitzend an unserem gläsernen Esstisch erfahren. Ich muss da raus, brauche einen Tapetenwechsel. Eine Stunde von Wien entfernt haben meine Eltern seit zwanzig Jahren ein kleines Haus mit großem Garten. Viele schöne, unbeschwerte Stunden habe ich als Kind dort verbracht. Ostern ist nach wie vor ein Fixtermin, an dem sich die ganze Familie in Pitten trifft. Der Gedanke an diesen Ort, den Garten, die gute Luft und die Natur lässt in mir seit langem so etwas wie ein Wohlgefühl aufkommen. Hier möchte ich mich erholen, Kraft tanken und Freunde und Familie empfangen.

Die zweite Entscheidung setze ich gemeinsam mit Alexander gleich in die Tat um: Ich lasse mir die Haare abrasieren. Ich eitler Kerl, der täglich 15 Minuten vor dem Spiegel verbringt, um seine Frisur mit Haarwachs in die richtige Form zu bringen. Ich kann meinen Entschluss selbst nicht glauben. Aber es ist Intuition. Ich weiß, mir werden die Haare ausfallen, doch statt darauf zu warten möchte ich zumindest in diesem Punkt das Heft – beziehungsweise den Rasierer – selbst in der Hand haben. In unserem Badezimmer greift Alexander zum Bartschneider und legt los. Mit dem surrenden Geräusch im Hintergrund sehe ich nach und nach, wie meine pechschwarzen Haarsträhnen auf den Boden fallen. Ich sitze mit dem Rücken zum Spiegel und habe Angst vor dem Ergebnis. Leider sind unsere Bartschneider nicht besonders scharf, deshalb müht sich mein Aushilfsfriseur redlich damit ab, wirklich alle Haare zu erwischen. Beim richtigen Friseur wollte ich das nicht machen lassen, dieses Ritual schien mir dafür zu privat.

Nach etwa zwanzig Minuten ist meine »neue Frisur« fertig. Voller Aufregung in den Knochen schaue ich in den Spiegel und bin überrascht. So schlimm schaut es gar nicht aus. Gar nicht so krank, wie ich es mir ausgemalt habe. Mein Bart, den ich seit meinem 18. Lebensjahr trage, ist zu diesem Zeitpunkt noch da. Weil ich aber weiß, dass auch dieser ausfallen wird, greife diesmal ich zum Rasierer und mache kurzen Prozess. Mit viel Schaum und Wasser rasiere ich mir nach und nach mein Markenzeichen ab. Ich schaue in den Spiegel und blicke prüfend in mein »neues Gesicht«. Jünger schaut es aus, sehr ungewohnt, aber zum Glück nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich mache ein Selfie von mir und schicke es mit #newstyle in unsere WhatsApp-Familiengruppe. Binnen Minuten poppen die Antworten meiner Eltern und Brüder auf und alle sind sich einig: Ich schaue aus wie die junge Version meines Vaters. Da hätte mir wahrlich Schlimmeres passieren können.

MONTAG, 17. FEBRUAR 2020

Der kleine Koffer ist gepackt. Normalerweise verwende ich ihn für kurze Städtetrips oder Wellness-Wochenenden, die wir gerne machen. Diesmal ist es leider alles andere als ein Urlaub mit Sauna, Dampfbad und Massage, für den ich Trainingsanzug, Waschzeug und meinen Laptop einpacke. Heute wird es ernst. Um 8 Uhr haben mich die Ärzte auf die Abteilung für Onkologie des Kaiser-Franz-Josef-Spitals bestellt. 3. Medizinische Abteilung, Station D. Die Nacht war recht kurz, vor lauter Aufregung konnte ich wenig schlafen. Auch das Frühstück schmeckt mir nicht so richtig.

Kurz vor halb acht machen Alexander und ich uns auf den Weg. Hunderte Male bin ich diese Strecke schon gefahren. In die Richtung, in die wir heute abbiegen, allerdings noch nie. Als mit einem Druck auf den automatischen Öffner die Türe zur Station aufgeht, wiederholen sich die Bilder, die ich schon wenige Tage zuvor gesehen hatte. Hauptsächlich ältere, krank aussehende Menschen, die an einen Tropf angehängt durch den zwar modern gebauten, aber eher geschmacklosen Gang wandeln oder zusammengekrümmt in einem Bett liegen. Die äußerst sympathische und energisch wirkende Stationsschwester begleitet Alexander und mich zum »Tagesraum«, ein Abschnitt mitten am Gang mit einigen Tischen und Stühlen und einer kleinen Kaffeebar, an der es auch Obst gibt. Neben uns sitzen einige ältere Herren, ebenfalls mit gepackten Taschen. Die meisten von ihnen dürfen heute nach Hause gehen, erfahre ich durch ihre Gespräche, die sie in ziemlich hoher Lautstärke führen. Der Patient neben uns, ein Mann um die sechzig mit schütterem Haar, sorgt bei uns zumindest kurzzeitig für einen Lacher. Denn plötzlich legt er die kleine Boulevardzeitung, die er eben noch gelesen hatte, zur Seite und beginnt, sich mitten auf der onkologischen Station die Nägel zu schneiden. Seine abgezwickten Nägel wischt er mit dem Handrücken einfach auf den Boden. Alexander setzt schon an, sich darüber lauthals zu echauffieren, doch ich beruhige ihn und wir nehmen es mit Humor.

Nach zweistündigem Warten ist mein Zimmer fertig. Ein Einzelzimmer mit kleinem Tisch, zwei Sesseln, einem Bett und sogar einem kleinen Balkon. Die Sonderklassenversicherung, die ich jahrelang eingezahlt habe, hat sich ausgezahlt. Auch, wenn ich sie lieber für einen etwas »angenehmeren« Spitalsaufenthalt in Anspruch genommen hätte. Als wir meine Sachen auspacken und uns einrichten, wird mir alles plötzlich viel bewusster. Ich bin wirklich im Krankenhaus, ich habe wirklich Krebs und morgen beginnt eine kräftezehrende und anstrengende Therapie. Sowohl der Chefarzt der Onkologie, der mich seit meinem ersten Besuch hier betreut hat, als auch der Stationsarzt klären mich noch einmal über die möglichen Nebenwirkungen auf. Die Haare werden mir ausfallen, meine Haut wird empfindlich auf Sonne reagieren, meine Schleimhaut im Mund anfällig für Infektionen und mein Sperma unfruchtbar. Ein Rundum-Sorgenpaket, das mit der Chemotherapie frei Haus mitgeliefert wird.

Auch meine Heilungschancen sind wieder Thema. Sie liegen bei neunzig Prozent. Kein schlechter Schnitt eigentlich, aber wenn einen diese Möglichkeit, zu den übrigen zehn Prozent zu gehören, plötzlich selbst betrifft, fühlt sich das schon ganz anders an. Auch wenn ich weiß, dass es auch bei viel harmloseren Krankheiten eine ähnlich hohe Wahrscheinlichkeit zu sterben gibt, die Angst davor ist in mir nach wie vor groß.

Doch bevor der Kampf gegen die bösen Zellen beginnen kann, muss ich noch einen kleinen Eingriff über mich ergehen lassen. Ein sogenannter »Port-a-Cath« wird mir eingesetzt. Ein kleines, grau-weißes rundes Teil, das mir in der Brust unter die Haut eingepflanzt wird und durch das die heilenden, giftigen Flüssigkeiten in den nächsten Monaten direkt in meine Venen geschossen werden können, ohne dafür ständig in die Armbeuge stechen zu müssen. Da würden die Venen nämlich über kurz oder lang irgendwann den Geist aufgeben, hat man mir erklärt.

Ein nach Schweiß und Zigaretten riechender Bettenschieber holt mich aus meinem Zimmer und schiebt mich vor die Tür meiner Station. Per Kleinbus werde ich dann auf die Angiologie chauffiert. Ich habe ein kleines Déjà-vu-Erlebnis, denn so ähnlich war es auch vor einer Woche, als man mir den Lymphknoten entfernt hat. Zwei äußert herzliche und lustige OP-Schwestern bereiten mich auf den Eingriff vor, bis der Arzt plötzlich neben mir steht. Er ist Halb-Kroate mit kleiner Tochter, wie er mir während der Operation erzählt, er setzt mir mit viel Routine und Geschick den Port-a-Cath ein und schließt ihn an meine Venen an. Es ist ein seltsames Gefühl. Aber während der Eingriffe oder Behandlungen ist meine Laune am besten und der Schmäh mit dem Krankenhauspersonal rennt gut. Vielleicht einfach eine gute Ablenkung von all den schlechten Nachrichten, die in den letzten Tagen nur so auf mich eingeprasselt sind.

Nach dreißig Minuten ist der Eingriff vorbei und ich liege wieder in meinem Einzelzimmer. Meine beste Freundin Eva ist jetzt auch da, sie hat mir ihren herrlichen Apfelkuchen mitgebracht. Als Nachspeise zur Kartoffel-Fisolen-Mischmasch-Krankenhauskost gibt es zumindest eine kulinarische Freude an diesem Tag. Wir reden noch lang über das Schicksal, die kommenden Monate und die Frage, warum es mich getroffen hat. Eine Antwort darauf finden wir freilich nicht, vielleicht finde ich sie in den kommenden Monaten. Was ich auf jeden Fall bis jetzt in meinem Leben gefunden habe, sind echte und wirklich gute Freunde. Und für die bin ich sehr dankbar. Heute mehr als je zuvor.

DIENSTAG, 18. FEBRUAR 2020

Ab heute wird zurückgeschossen – und zwar ziemlich scharf. Nach zwei kurzen Voruntersuchungen, eine davon in einem anderen Krankenhaus, geht es mit der Therapie los. Das Wort »Chemo« nehmen hier im Krankenhaus die wenigsten Ärzte, Schwestern und Pfleger in den Mund, wohl weil sie wissen, welchen unguten Beigeschmack der Begriff hat. Um 14 Uhr hängt mir die ziemlich beleibte, aber genauso herzliche Schwester die Infusionen zur Vorbereitung an. »Wenn wir mit dem Christbaum fertig sind, dann geht’s los«. An diesem Christbaum, wie sie den Infusionsständer nennt, hängen leider keine Schokoschirme oder Kugeln, sondern drei prall gefüllte Beutel mit durchsichtiger Flüssigkeit. Gegen Übelkeit, gegen allergische Reaktionen, gegen Brechreiz – vor all dem sollen die Flüssigkeiten meinen Körper schützen und vorbereiten auf das, was ab jetzt auf ihn zukommt.

Nach etwa neunzig Minuten ist es so weit. »Jetzt wird es ernst«, sagt die Schwester und hängt mit einem gekonnten Handgriff die erste Chemotherapie-Infusion an meinen frisch implantierten Port-a-Cath. Es fühlt sich seltsam an. Beängstigend und beglückend zugleich. Denn endlich wird das, was seit Monaten in meinem Körper wütet, gezielt bekämpft. Als die ersten Tropfen durch den durchsichtigen Schlauch in meinen Körper tropfen, warte ich fast sekündlich auf die ersten Nebenwirkungen. Wann kommt der Brechreiz? Wann wird mir schwindlig? Aber solange die Flüssigkeit, deren Namen ich mir nicht gemerkt habe, in mich hineinfließt, passiert gar nichts. So wie es der Ober-Kapazunder, der mich täglich auf seinem Rundgang besucht, prophezeit hat.

Was ich zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht weiß: Der viereckige, längliche Beutel ist nur der erste von vielen, die ich von nun an am Beginn eines Zyklus bekomme. Es gibt kleinere mit roter Flüssigkeit, noch kleinere mit durchsichtiger, dazu kommen die großen vom Beginn. Dazwischen, quasi als kleine Zwischenmahlzeit, wird mein Körper immer wieder mit Ringerlösung durchspült, damit die Nieren dieses seltsame Spiel mitspielen. Als ich diese Zeilen tippe, stehen mir noch zwei Ladungen bevor, einmal um 22 Uhr und einmal um zwei Uhr früh – an Schlafenszeiten hält sich so ein Therapieplan leider nicht. Ich fühle mich zwar etwas müde, ab und zu habe ich den Anflug einer leichten Hitzewallung, aber alles in allem geht es mir ganz gut – trotz der Chemie, die da gerade in mich gepumpt wird, oder vielleicht gerade deshalb. Denn mit heute, so mein fester Plan, hat die Genesung begonnen.

PS: Ich habe heute hier drin auch eine neue Verbündete gefunden. Sie heißt Ermine, kommt ursprünglich aus der Türkei und ist hier auf der Station immer wieder als Gehilfin im Einsatz. Sie bringt das Frühstück und Handtücher, schaut, dass die kleine Kaffee- und Teebar im Gangbereich immer gut gefüllt ist und sie sorgt bei mir für gute Laune. Als Einzige ist sie sofort per du mit mir, was ich als äußerst angenehm und entspannend in dieser belastenden Situation empfinde, und mit einem Lächeln von uns beiden ist klar, wir mögen einander. Sie erzählt mir von ihrer besten Freundin, »fast wie eine Schwester, weißt du«, die vor kurzem ebenfalls Krebs hatte und ihn besiegt hat. Solche Geschichten machen in meiner Situation wirklich Mut und Hoffnung. Auch ein paar Ernährungstipps hat sie für mich parat: Viel Rote-Rüben-Saft soll ich trinken, kein Cola, das sagt sie mit einem Blick auf eine Flasche, die auf meinem Tisch steht (sie gehört Alex). Gut gemeinte Ratschläge, die sich nach einem Gespräch mit dem Arzt als ziemlich nutzlos erweisen. »Essen Sie während der Chemo, was sie wollen und worauf sie Lust haben, danach ist ein gesunder Lebensstil wichtig«. Das sollte mir beides nicht so schwerfallen, vor allem zweiteres habe ich bereits vor meiner Krankheit täglich praktiziert. Den Hodgkin hat das leider nicht beeindruckt.

1 340,03 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
181 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783990014776
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают