Читать книгу: «Monströse Moral», страница 3

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„Die Betreuerin ist Rebeccas Vormund?“

„Nein, die Vormundschaft liegt bei der Tante, die in Frankfurt wohnt und sich oft im Ausland aufhält. Wahrscheinlich wurde deshalb die Betreuerin eingeschaltet, um die Dinge vor Ort zu regeln.“

„Ich verstehe“, murmelte Laura, dann kniff sie die Augen zusammen. „Sie haben viel herausgefunden. Solche Anstalten sind meist nicht so auskunftsfreudig.“

Er zuckte mit den Schultern und sah aus dem Fenster. „Da haben Sie recht. Und ich verrate jetzt nicht, wie ich an die Informationen gekommen bin. Aber Sie sind ja Detektivin und wissen, was ich studiert habe.“

„Alles klar. Dann haben Sie sicher versucht, die Person zu identifizieren, die hinter dem Red-Room-Link steckt?“

„Logisch.“ Er verzog den Mund zu einem kläglichen Grinsen. „Aber das Darknet hat seinen Namen nicht umsonst. Ich konnte bisher nicht mehr herausfinden. Natürlich werde ich es weiter probieren.“

„Das wird nicht einfach.“

„Helfen Sie mir? Ich habe Angst, dass Rebecca die Nächste ist, die in diesem Red Room gequält wird.“

Laura runzelte die Stirn. „Zuerst brauche ich weitere Informationen von Ihnen, denn ich verstehe die Geschichte noch nicht ganz. Sie bekommen einen Zettel mit einem Link und dem Hinweis, Rebecca sei die Nächste. Ist das wirklich alles? Oder stand da noch mehr?“

„Das war alles.“

„Keine Anweisung, was Sie tun können, um Rebecca zu retten? Keine Lösegeldforderung oder etwas in der Art?“

Er schien einen Moment zu zögern, dann schüttelte er entschlossen den Kopf: „Nein, nichts dergleichen.“

„Das ist merkwürdig.“ Laura musterte ihn. „Welche Motivation steckt dahinter, Ihnen das anzutun? Und natürlich Rebecca. Vielleicht möchte sich jemand rächen. An Ihnen beiden. Sie wurden sicher nicht zufällig ausgewählt. Sie sollten überlegen, wem Sie irgendwann mal etwas angetan haben.“

„Der Gedanke kam mir auch schon. Aber bisher habe ich nicht die geringste Idee, wer oder was das sein könnte.“

„Keine Feinde? Keine Neider? Eifersüchtige Ehemänner?“

Ein amüsierter Ausdruck huschte über sein Gesicht, dann zuckte er die Schultern. „Ich habe ein erfolgreiches Unternehmen. Der Wettbewerb ist hart und gelegentlich bleibt ein Konkurrent auf der Strecke. Das ist nicht lustig und natürlich hängen persönliche Schicksale oder sogar Existenzen daran. Und vielleicht wollte sich auch mal jemand an mir rächen. Aber doch nicht auf diese Art. Das wäre absurd. Völlig durchgeknallt. Ich wüsste keinen, dem ich das zutrauen würde. Und glauben Sie mir, ich bin kein Traumtänzer, ich habe mein geschäftliches Umfeld und auch meine eigenen Mitarbeiter genau im Auge. Bitte, übernehmen Sie den Fall? Helfen Sie mir?“

Laura sah ihn eine Weile prüfend an, dann lächelte sie: „Ok. Ja. In Ordnung.“

„Ein Glück!“ Die Erleichterung war ihm anzusehen. „Ach ja, Sie brauchen sicher den Namen von Rebeccas Tante. Sie hat einen Spanier oder Südamerikaner geheiratet und heißt Martina Schneider de Molina. Hier, ich habe Ihnen die Kontaktdaten aufgeschrieben.“

Laura nahm den Zettel entgegen. „Ok. Dann werde ich als Erstes herausfinden, dass Rebecca wohlauf ist und nicht von einem Sadisten in einem Red Room gefangen gehalten wird, richtig?“

„Genau. Meine Möglichkeiten sind auf das Virtuelle begrenzt, aber in die Datenbanken und Dateien kann die Anstalt viel eintragen, wenn der Tag lang ist. Wie soll ich wissen, ob es wahr ist? Für die reale Welt brauche ich einen Profi. Bitte stellen Sie fest, dass es Rebecca wirklich gut geht. Ich werde derweil versuchen, eine Spur zu dem Red Room zu finden.“

Laura nickte, wollte den Termin beenden, doch dann zögerte sie. „Eine Frage habe ich noch: Ist dem Opfer in dem Stream etwas angetan worden? Also nicht nur, dass er gefesselt war, sondern ... Sie wissen schon.“

Silvio Petrescu wurde blass. Räusperte sich. „Ich bin nicht ganz sicher, die Übertragung wurde plötzlich abgebrochen. Vielleicht war das gar nicht so, wie ich dachte, und ich habe mich getäuscht ...“

„Was ist passiert?“

Er schüttelte den Kopf, schien nicht antworten zu wollen.

„Bitte, das ist wichtig. Was haben Sie gesehen?“

„Als ich in den Stream kam, wurde das Gebot eines Zuschauers angezeigt. Er nannte sich Turcanu_Respawn. Mit Unterstrich. Ich weiß noch, dass ich den Namen merkwürdig fand. Er ist rumänisch, aus meiner Heimat, deshalb kann ich mich wohl so gut daran erinnern. Seine Forderung war einfach nur widerlich. Ich konnte nicht glauben, dass das echt sein sollte.“ Er presste für einen Augenblick die Faust gegen die Lippen.

„Was geschah dann?“ Ihre Stimme kratzte.

Silvio Petrescu starrte an die Decke. Es schien ihm schwerzufallen, die Fassung zu wahren, und als er weitersprach, war er so leise, dass sie sich konzentrieren musste, um ihn zu verstehen: „Einen Moment lang tat sich nichts. Vielleicht, weil die Datenverbindung Zeit brauchte, vielleicht, weil auf die Bestätigung der Zahlung gewartet wurde. Aber dann bewegte sich das Monster plötzlich. Er trat zu dem armen Kerl ... und ... riss ihm das Hemd auf. Er war nackt darunter. Man konnte seine Brust sehen. Und dann ...“

Er schluckte hart, presste die Hände zu Fäusten und flüsterte den Rest des Satzes fast unhörbar.

Laura wurde es schlecht.

6 Lillian Sawaris’ Wohnung
Kessenich

Wie besessen durchwühlte sie die Altpapiertonne. Zog Reklameblättchen, Zeitschriften, Essensverpackungen und Werbebriefe hervor. Tauchte immer wieder tief in den blauen Container, um dann die Ausbeute enttäuscht hinter sich auf das kleine Rasenstück zu werfen.

Wo war der Zettel?

„Was treiben Sie denn da? Soll ich die Polizei rufen?“

Lillian Sawaris schreckte aus der Tonne hoch und starrte die alte Frau an, die drohend mit einem Gehstock zu ihr hinüber fuchtelte.

Bloß keine Polizei!

„Es ist alles in Ordnung“, sie versuchte sich an einem Lächeln. „Ich habe einen wichtigen Brief verloren und kann ihn nirgends finden. Aber ich räume gleich alles wieder zurück.“

„Das Papier fliegt schon über die ganze Straße. Eine Sauerei ist das! Bringen Sie das sofort in Ordnung!“

„Verdammt noch mal, kümmern Sie sich um ihren eigenen Scheiß und lassen Sie mich in Ruhe!“ Lillian spürte, wie sie die Kontrolle verlor und sich eine Träne aus dem Augenwinkel löste. Dann brachen alle Dämme und sie heulte wie verrückt. Immerhin schien das die Alte einzuschüchtern, denn die entfernte sich, während sie leise Beschimpfungen vor sich hinmurmelte. Hoffentlich rief sie nicht doch noch die Polizei. Dann wäre alles vorbei.

Lillian sank neben der Mülltonne auf den betonierten Boden und ließ den Kopf hängen. Die Tränen flossen unaufhörlich. Immer wieder geisterte das Bild der Höhlenleiche durch ihre Gedanken. Diesen Augenblick, als das bleiche Gesicht mit den blutigen Augenhöhlen im Strahl der Handylampe auftauchte, würde sie ihr Leben lang nicht vergessen.

... Sie hatte geschrien und das Telefon fallen lassen. Mit der Rückseite nach unten, sodass sie mit einem Schlag im Dunkeln hockte. Zusammen mit dem Toten. Der vielleicht gar nicht tot war. Er hatte sich doch bewegt. Eine Weile hatte sie wie erstarrt gekauert. Wie lange, wusste sie nicht mehr, aber in der Erinnerung schien es eine Ewigkeit gewesen zu sein. Sie hatte sich nicht rühren können, Arme und Beine waren wie gelähmt gewesen. Nur ihre Sinne hatten funktioniert und sie mit Geräuschen, Gerüchen und hauchfeinen Berührungen bombardiert. Irgendwann hatte sie sich aus der Lethargie reißen können und es geschafft, einen Arm zu bewegen, nach dem Handy zu tasten und den Rückzug anzutreten. Sorgsam darauf bedacht, den Lichtstrahl nicht wieder auf die Leiche zu richten. Vor der Höhle war sie losgerannt, mehrfach auf dem unwegsamen Gelände gestolpert und zweimal hingefallen. Sie hatte so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den Toten bringen wollen. Am liebsten die ganze Welt. Erst nach ein paar Minuten hatte sie keuchend angehalten und sich auf einen Stein gesetzt, um sich zu beruhigen. Und die Polizei gerufen ...

Ein Windstoß blies ihr ins Gesicht und sie schreckte auf. Zeitungen und Papiere wirbelten über die Straße und erinnerten sie daran, dass sie weitersuchen musste. Doch die Gedanken ließen sich nicht verscheuchen.

... Während sie im Wald auf die Polizei gewartet hatte, hatte sie in Tinas Tasche gesehen. Und da war dieser Zettel drin gewesen. Sie hatte sofort gewusst, worum es sich handelte. Die gleiche, präzise Schrift, geschrieben mit schwarzem Fineliner.

Bist du nun überzeugt, dass ich es ernst meine? Triff deine Wahl. Du hast Zeit bis Mittwoch. Wählst du nicht, ereilt beide das Schicksal. Und keine Polizei, sonst trifft es auch beide.

Die Tasche hatte sie unter der Jacke versteckt und die Schatzkarte und den Zettel tief in der Hosentasche vergraben. Den Beamten hatte sie erzählt, dass sie öfter durch den Wald wanderte und nach Höhlen suchte. Wer sie kannte, wusste, dass das Quatsch war. Aber die Polizisten waren zu sehr mit dem Leichenfund beschäftigt gewesen, um Verdacht zu schöpfen. Kein Wort hatte sie denen von Tina erzählt, obwohl die Gedanken in ihrem Kopf Karussell gefahren waren und sie sich vor Angst kaum hatte konzentrieren können ...

Und heute Morgen war die Erinnerung gekommen.

Vor fünf Tagen hatte schon mal so ein Papier unter der Matte gelegen. Sie hatte dem jedoch keine Beachtung geschenkt, es für einen kindischen Scherz gehalten. Oder für einen Werbezettel. Die ordentliche, schnörkelige Schrift wirkte fast wie gedruckt. Sie hatte nur einen flüchtigen Blick darauf geworfen. Sich einen Moment über die makabere Botschaft gewundert. Irgendetwas mit Schicksal spielen und Wahl treffen. Deine Mutter oder deine Freundin. Dann hatte Tina zum Frühstück gerufen und sie hatte den Wisch weggeworfen.

Aber wohin?

Sie hatte schon die ganze Wohnung umgepflügt und in ein einziges Chaos verwandelt. Jetzt sah es auf dem Vorplatz des Mietshauses nicht besser aus. Mit dem Ärmel wischte sie sich über die nassen Wangen und rappelte sich mühsam hoch. Während sie die Papiere einsammelte, überlegte sie, ob Tina nicht doch irgendwo stecken könnte, wo es ihr gut ging. Sie musste unbedingt sicher sein, bevor sie dem Unbekannten ihre Entscheidung übermittelte. Schicksal spielen musste. Jemanden dem Tode auslieferte. Welch absurder Gedanke.

Monströs. Nicht real.

... wenn sie den Toten nicht gefunden hätte. Angekettet an der Felswand. Das Gesicht furchtbar zerstört. Mit Wunden am ganzen Leib.

Gestern, nach dem Fund der Leiche, hatte sie alle Freunde und Bekannten durchtelefoniert. Sogar Tinas Schwester in Berlin, die keinen festen Wohnsitz hatte – nur ein Handy – und zu der seit Ewigkeiten kein Kontakt mehr bestand. Aber niemand wusste etwas. Sie war wie vom Erdboden verschwunden. Gut, es war möglich, dass sie sich bei jemandem versteckte und derjenige gelogen hatte, um sie zu decken. Oder dass sie doch bei ihrer Mutter war. Die hatte sie nämlich noch nicht kontaktiert. Sie würde sowieso nicht ans Telefon gehen oder gleich wieder auflegen. Lillian angelte nach einem Reklameblättchen, das sich in einem Busch verfangen hatte. Vielleicht sollte sie bei der fetten Kröte vorbeigehen. Klingeln und sich als Postbote ausgeben. Dann hoch zur Wohnung und direkt den Fuß in die Tür stellen, wenn sie geöffnet wurde.

Und wenn Tina dort nicht war, würde sie bei ihrer Arbeit vorbeischauen. Möglicherweise war die Freundin heute zum Dienst erschienen, oder die Kollegen wussten wenigstens, wo sie war.

Das Pläneschmieden gab ihr wieder etwas Zuversicht und den Hauch der Hoffnung, dass sich alles als böser Scherz entpuppen würde. Trotzdem konnte sie das Gefühl, dass Tina irgendwo von einem Verrückten gefangengehalten wurde, nicht abschütteln. Dann schalt sie sich einen Dummkopf, dass sie solche Schauermärchen glaubte. Realistisch betrachtet kamen Psychopathen, die Menschen verschleppten, folterten und töteten, nur in Filmen vor. Für den Toten in der Höhle und Tinas Verschwinden gab es bestimmt eine plausible, harmlose Erklärung.

Gleich nach dem Mittagessen würde sie bei Tinas Mutter aufschlagen. Und wenn die Freundin nicht dort war, würde sie auf die andere Rheinseite fahren und Nachforschungen anstellen.

Im Falkennest.

7 Detektei
Rüngsdorf

Nachdem Silvio Petrescu gegangen war, überprüfte Laura direkt die Angaben des neuen Klienten. Die psychiatrische Anstalt war in einem Schloss mitten im Wald untergebracht, die nächste Ortschaft lag sieben Kilometer weit entfernt. Die Anlage wirkte märchenhaft, idyllisch, doch im Zusammenhang mit der Horrorgeschichte über den Red Room jagte ihr der Anblick kalte Schauer über den Rücken. Eine solche Abgeschiedenheit bot viel Freiraum für Menschen, die andere in ihrer Gewalt hatten und nichts Gutes im Schilde führten.

Es klopfte an der Bürotür und Laura schreckte von den Recherchen hoch. Sie war so vertieft gewesen, dass sie gar nicht gehört hatte, dass Marek zurückgekommen war.

„Busy?“

„Nein, komm rein.“

„Ein neuer Fall?“

„Denke schon. Eine ziemlich gruselige Angelegenheit.“

„Worum geht es?“

„Rebecca Lehmann, relativ jung, wird seit ein paar Jahren in einer Anstalt betreut und unser Klient befürchtet, sie könne dort gegen ihren Willen festgehalten werden. Schlimmer noch, es ist möglich, dass sie vor zahlenden Zuschauern im Internet aufs Furchtbarste gequält und vielleicht sogar getötet werden soll.“

Marek zog die Augenbrauen hoch.

„Unserem Klienten wurde ein Link zugespielt und er hat für kurze Zeit einen Stream im Darknet sehen können, in dem einem Mann etwas Abartiges angetan wurde. Zusammen mit der Nachricht, dass Rebecca die Nächste ist. Wir sollen überprüfen, was an der Sache dran ist.“

„Ein Red Room? Nicht wirklich, oder?“

„Du hast schon von Red Rooms gehört? Petrescu meinte, die seien eigentlich ein Mythos. Aber das, was er gesehen hat, sah echt aus. Mir hat er nur einen Screenshot von der Szene gezeigt, deshalb kann ich dazu nichts sagen. Vielleicht ist es ein Fake.“

„Es wurde jedenfalls eine Legende um Red Rooms gesponnen. Du weißt ja, es gibt nichts, was es nicht gibt. Ist der Kerl glaubwürdig?“

„Ja, da bin ich mir sicher.“

„Die Sache gefällt mir nicht. Ich habe ein mieses Gefühl dabei. Du musst vorsichtig vorgehen, ok?“

„Ja, Papa, ich steige nicht in den fensterlosen Van, nur weil der liebe Mann mir Süßigkeiten anbietet.“ Laura verdrehte die Augen und wechselte das Thema. „Wie ist es bei dir gelaufen? Hast du herausgefunden, wohin Gilda gefahren ist?“

„Ja, ich weiß, wo sie ist.“

„Und? Warum so ernst? Mach’s nicht so spannend.“

„Sie ist nach Johannesburg geflogen.“

Laura starrte ihn einen Augenblick an, dann wurde ihr die volle Tragweite der Information bewusst.

„Verdammte Scheiße!“

Der Detektiv nickte.

„Marek, wir müssen sie sofort da rausholen.“

Er nickte wieder. „Sehe ich auch so.“

„Oh Gott, sie ist seit Freitag dort. Und wir haben nichts von ihr gehört. Ich darf gar nicht daran denken, was schon alles passiert sein kann. Mir wird ganz schlecht. Ist sie jetzt völlig wahnsinnig geworden?“

„Sie ist auf jeden Fall sehr mutig.“

„Mutig?“ Laura funkelte ihn an, als wäre er derjenige, der auf dem Weg nach Südafrika ertappt worden war. „Sie ist erst einundzwanzig. Will ihr Abitur an der Abendschule nachholen. Hatte noch nie einen festen Freund. Und dann setzt sie sich einfach ins Flugzeug, um in Afrika zwei skrupellose Killer zu jagen? Zwei sadistische Mörder, die sie werweißwie gequält haben und denen sie gerade erst mit knapper Not entkommen ist? Haben die ihr nicht schon genug angetan? Was denkt sie eigentlich, wer sie ist? Supergirl? Wonderwoman?“

„Beruhige dich.“ Er wollte ihr die Hand auf die Schulter legen, doch sie schlug sie weg. Stattdessen tigerte sie mit aggressiven Schritten durch das Büro.

„Was will sie dort erreichen? Die Killer am nächsten Baum aufknüpfen?“

Marek grinste schief. „Ich glaube nicht. Und das weißt du auch. Sie will Gerechtigkeit. Nicht nur für sich - auch für Kitty.“

Kitty war eine südafrikanische Studentin, die in Johannesburg von den Männern vor laufender Kamera enthauptet worden war. Bei dem letzten großen Fall der Detektei hatte eine Klientin Gilda das Video gezeigt, weil sie ebenfalls von den Killern bedroht wurde.

„Die beiden sind mit ihren Untaten davongekommen und das möchte sie nicht zulassen“, fügte er hinzu.

Laura warf die Arme in die Luft. „Es ist alles meine Schuld. Bereits bei ihrem allerersten Einsatz ist sie ganz allein in das Lager spaziert, direkt ins Verderben gelaufen und wäre fast dabei umgekommen. Ich hätte es damals schon wissen müssen, dass sie nicht für den Job als Detektivin geeignet ist.“

„Oh doch, das ist sie. Sie hatte den richtigen Instinkt und hat sich von der Gefahr nicht abschrecken lassen. Und sie hat nicht kopflos gehandelt, sondern wohlüberlegt. Es gibt nicht viele solche Menschen. So etwas kannst du nicht lernen. Es ist ein Talent, eine Begabung. Oder eher eine Charaktereigenschaft. Sie ist ein zähes Biest.“

Laura schnaubte. „Nachdem der Fall damals abgeschlossen war, hat sie auch im Alleingang den Sadisten gejagt und damit für uns alle die Hölle heraufbeschworen. Das nennst du wohlüberlegt? Und ich Dummkopf habe sie auch noch ständig mit ihrem Hang zur Selbstjustiz aufgezogen. Weil ich dachte, sie hätte aus der Geschichte gelernt. Und weil ich sichergehen wollte, dass so etwas nie wieder vorkommt. Schön blöd. Jetzt haben wir den Salat. Wahrscheinlich ist sie längst tot.“ Sie trat gegen den Rucksack, der neben dem Schreibtisch lehnte, und schreckte Friedi auf, der unter dem Tisch gelegen und ein Schläfchen gehalten hatte. Sein erschrockener Japser brachte sie zur Besinnung. „Tut mir leid, mein Kleiner. Das wollte ich nicht.“ Sie kniete sich zu ihm und streichelte über das rotbraune, weiche Fell. Dann sah sie zu Marek hoch. „Wir müssen sofort nach Johannesburg fliegen und sie retten.“

Marek nickte. „Ja, jemand sollte ihr helfen. Aber unauffällig. Ich mache das allein. Wenn wir dort zu mehreren auftauchen, gefährdet das die Mission. Womöglich noch mit dem Frauenheld Drake, unserem halbstarken Justin und der schillernden Barbara im Schlepptau. Wir würden auffallen wie eine Zirkustruppe.“

Laura musste unwillkürlich lächeln, dann verdüsterte sich ihre Miene wieder. „Wo ist Barbara überhaupt? Wahrscheinlich ist sie mit Gilda nach Afrika gefahren. Ich habe das ganze Wochenende nichts von ihr gehört und heute hat sie sich auch nicht blicken lassen.“

„Sie muss sich nicht bei dir abmelden. Sie ist deine Freundin, nicht deine Mitarbeiterin. Bei unseren Fällen ist sie unglaublich hilfreich mit ihren Kontakten, aber ihr Job ist immer noch Pianistin, nicht Detektivin.“

„Hör auf zu predigen, das weiß ich doch. Aber es ist schon ewig nicht mehr vorgekommen, dass sie sich so lange nicht meldet. Selbst von ihren Konzerttouren schickt sie mir zwischendurch mal eine Nachricht. Irgendetwas stimmt da nicht.“

„Was auch immer Barbara treibt, sie ist jedenfalls nicht mit nach Johannesburg geflogen. Das weiß ich aus sicherer Quelle, nämlich von Gildas Vater. Aber jemand anderes ist mitgefahren ...“

Laura sah ihn misstrauisch an: „Hör auf mit den dramatischen Pausen. Wer?“

„Maria.“

„Oh. Mein. Gott.“

8 SIPE Solutions
Bonn

Gerade die Menschen, denen man am meisten vertraut, können einem den größten Schaden zufügen.

Silvio Petrescu betrat das moderne Bürogebäude aus Beton und Glas und sah sich in seinem Reich um. Das einzig Klassische war der Empfangstresen direkt am Eingang. Ansonsten wirkte die Halle wie das Loft eines YouTube-Clans. Schreibtische mit den allerneuesten Computern und ergonomischen Gamerseats wechselten sich ab mit Billard- und Kicker-Tischen, ausufernden Sofa-Landschaften und einer blau beleuchteten Kaffee-Insel. Die Tür im hinteren Bereich führte zum Fitnessraum und zur Trainingshalle, in der alle möglichen Wettbewerbe von Basketball bis zum Drohnenfliegen stattfanden, auf der gegenüberliegenden Seite befand sich die Kantine, in der die Mitarbeiter rund um die Uhr kostenlos essen konnten und in der, obwohl gesunde Kost aus der Region angeboten wurde, Pizza und Pommes auf der Beliebtheitsskala ganz oben standen. Eine IT-Firma lebt von den kreativen Köpfen und Inspiration braucht Abwechslung und Freiraum. Er hatte sich an den Firmen des Silicon Valley orientiert, die bei den Mitarbeitervorteilen neue Standards in der Arbeitswelt gesetzt hatten, und festgestellt, dass die Kosten überschaubar, die Vorteile hingegen immens waren. Es wirkte sich sogar auf die Loyalität aus, was in einem innovativen IT-Unternehmen von unschätzbarem Wert war.

Trotzdem hatte er ein Auge auf seine Leute.

Ganz im Sinne Lenins: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.

Er kannte ihre Stärken und Schwächen, ihre Vorlieben, ihre Achillesfersen, wusste, was sie in ihrer Freizeit trieben. Wenn er jemandem begegnete, listeten sich die zugehörigen Informationen automatisch vor seinem inneren Auge auf wie bei einem Computer. Auch die trivialen. Und auch bei den Personen, mit denen er intensiveren Umgang hatte. In seinem Business konnte man nie wissen, wer oder was plötzlich zum Verhängnis werden konnte. Und gerade die Menschen, denen man am meisten vertraute, konnten einem den größten Schaden zufügen.

„Hi, Silvio!“

Vor ihm stand seine Chefprogrammiererin. Augenaufschlag, Lächeln, Haarsträhne hinter das Ohr streichend.

* Kim

* Mutter Chinesin

* Siebenundzwanzig

* Faible für Markenfashion

* Zwei jüngere Schwestern, eine davon auf Droge

* Las Physikbücher

* Trieb sich wochenends in den eher verruchteren Klubs von Köln herum

* Teilte sein Bett, wenn es sich ergab.

* In der letzten Zeit allerdings nicht mehr.

„Hi, Kim.“

„Du siehst aus, als hättest du viel um die Ohren. Vielleicht brauchst du ein bisschen Abwechslung? Ich könnte mich heute Abend frei machen. Was meinst du? Lieblingsitaliener? Und später ... Nachtisch ... bei dir?“

„Hast du einen Lösungsansatz für Modul 2 gefunden?“ Er wusste, wie er seine Mitarbeiter wegschrecken konnte. Und aufdringliche Angebote.

Ihr Lächeln verschwand schlagartig. „Ich bin dabei. Du hast gesagt, wir haben Zeit bis übermorgen.“

„Stimmt. Aber dann muss es stehen. Ich möchte nicht erst am letzten Tag erfahren, dass wir es nicht geschafft haben.“

„Natürlich. Ich mache mich direkt wieder an die Arbeit.“ Sie flüchtete regelrecht vor ihm an ihren Schreibtisch.

Gut so.

Er steuerte die Kaffeeinsel an, nahm eine Tasse aus dem Schrank und zog sich einen Espresso.

„Silvio, hast du eine Minute?“

Es musste wichtig sein, wenn man ihn beim Kaffee störte. Jeder seiner Mitarbeiter wusste, dass er das nicht leiden konnte. Er drehte sich um.

„Worum geht es, Dani?“

* Daniel

* Neunundzwanzig

* Keine romantischen oder sexuellen Beziehungen

* Nennenswerte, bisher nicht recherchierbare Lücke im Lebenslauf

* Ausbildung als Tischler

* Naturtalent beim Auffinden von Bugs in IT-Systemen

* Verbrachte die Abende zu Hause mit seiner Mutter

* Faible für Döner und asiatische Pornos

„Die Wirtschaftsprüfer.“ Daniel war kein Freund vieler Worte.

„Ja?“

„Sie wollen Informationen über Loki.“ Der Mitarbeiter sah an ihm vorbei, die Arme vor der Brust verschränkt, die Füße schulterbreit auseinander fest auf dem Boden. Wie Superman. Nur mit weniger Muskeln. Und ohne Cape. ... und ohne Blickkontakt.

„Es gibt kein solches Projekt.“ Er sprach betont leise.

„Ich weiß.“ Daniel fuhr sich beiläufig über die blonden, auf drei Millimeter herunterrasierten Haare. „Sie haben trotzdem danach gefragt.“

Silvio sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an, doch der Mitarbeiter erwiderte seinen Blick nicht. Das wirkte allerdings nicht unsicher. Eher desinteressiert. Sogar fast ein bisschen bedrohlich.

„Keine Ahnung, wo sie es her haben. Jedenfalls möchten sie die Akten. Was soll ich tun?“

„Ganz einfach. Da es das Projekt nicht gibt, können wir ihnen auch keine Unterlagen geben.“

Er legte ihm die Hand auf die überraschend muskulöse Schulter und drückte zu. Nicht fest. Nur so nachdrücklich, dass die Bedeutung der Botschaft klar wurde. Plötzlich sah ihn Daniel direkt an und Silvio musste sich zwingen, nicht zurückzuweichen. Ihm fiel auf, wie blau diese Augen waren. Und wie eisig. Zwei Gletscherseen. In denen das Sonnenlicht auf der Wasseroberfläche funkelte, aber nur für einen kurzen Moment darüber hinwegtäuschte, dass in einer solchen Kälte kein Wesen überleben konnte.

Er rief sich zur Ordnung, schüttelte unmerklich den Kopf, um die Gedanken zu verscheuchen, und zog seine Hand bewusst langsam zurück.

Daniel wandte den Blick wieder ab, drehte sich um und begab sich ohne weiteres Wort zu seinem Platz.

Silvio sah ihm nach, bis er hinter der Wand aus Monitoren, die wie ein Bollwerk auf dem Schreibtisch arrangiert waren, aus dem Blickfeld verschwunden war.

Irgendwo musste es eine undichte Stelle geben.

Und irgendjemand hatte ihm den Link zu diesem Red Room geschickt.

Jemand, der sich gut im Darknet und mit Computern auskannte.

399
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9783750236981
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