Читать книгу: «Böse Obhut», страница 3

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Gilda trat aus dem Kölner Hauptbahnhof auf den zugigen Vorplatz und zog fröstelnd ihren Schal enger um den Hals. Über ihr ragte der mächtige Dom in den bedeckten Himmel, auf dem Taxiplatz herrschte ein Chaos aus Menschen, Autos und Lärm. Sie tippte die Ziel-Adresse in ihr Handy ein, ließ sich die Route anzeigen und erklomm die Stufen zur Domplatte. Die Handtasche eng an den Körper gepresst musste sie sich fast gewaltsam durch den Strom von japanischen Touristen und einkaufsfreudigen Passanten schieben.

Auf dem Alter Markt wurde das Gedränge sogar noch größer und obwohl es erst Nachmittag war, grölten Betrunkene vor den Kneipen. Gilda zog den Kopf ein, drückte sich rücksichtslos durch die Menge und war erleichtert, als sie die Gasse gefunden hatte, die zur Kirche und zur DROBERA führte.

Erst auf den zweiten Blick entdeckte sie das baufällige Häuschen, das mehr einer Bretterbude glich, in dem die Beratungsstelle untergebracht war. Zu ihrer Überraschung waren Teile des Kirchenvorplatzes mit rot-weißem Plastikband abgesperrt. Auf den Kirchenstufen sah sie mit Kreide gezogene Umrisse eines schmalen, menschlichen Körpers. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.

War hier ein Mord passiert?

Sie schüttelte sich und ging entschlossen zum Eingang. Noch bevor sie klopfen konnte, öffnete sich die Tür. Vor ihr stand eine Frau, etwa im gleichen Alter, mit langen, schwarzen Haaren und einem viel zu großen Wollpulli.

„Bist du einer von den Pressefutzies?"

Gilda schüttelte den Kopf. „Nein. Was ist denn vor der Kirche passiert?"

Die Schwarzhaarige ignorierte die Frage. „Was willst du? Schieb lieber ganz schnell wieder ab."

Gilda räusperte sich. „Ich möchte zu Michael Ehrling. Darf ich hereinkommen?"

Das Mädchen warf einen Blick hinter sich in den Raum und gab widerstrebend den Weg frei. Gilda trat ein und sah sich einem hageren, großen Mann mit hängenden Schultern gegenüber, der sie gleichmütig ansah.

„Sind Sie Herr Ehrling?"

„Ja. Worum geht es?" Seine Stimme klang müde, aber angenehm. Gilda ging einen Schritt auf ihn zu, blieb aber ruckartig stehen, als sie den stechenden Geruch von Alkohol wahrnahm. Er hatte getrunken.

„Komme ich ungelegen?"

Michael Ehrling zuckte die Achseln, dann wies er fahrig auf einen Stuhl. Gilda interpretierte das als Einladung, legte die Umhängetasche auf den Tisch und setzte sich.

„Mein Name ist Gilda Lambi von der Detektei Peters in Bonn. Ihr Freund Bernd Schlüter hat uns beauftragt, mit Ihnen zu sprechen. Er sagte, dass Sie ein Schultreffen organisieren möchten, dafür hat er uns um Unterstützung gebeten."

„Soso. Bernd schickt dich und hat gesagt, ich wolle ein Schultreffen organisieren. Na ja, er hatte schon immer seine eigene Sicht auf die Dinge. Wir können uns übrigens duzen." Michael setzte sich schwerfällig, zog eine alte Kaffeekanne zu sich und sah sie fragend an.

„Ja, gerne. Bei der Kälte ist das genau das Richtige." Gilda lächelte breit, um ihr Unbehagen zu verbergen. Der Raum war eiskalt, von den Wänden blätterte die Farbe ab, die Möbel waren abgestoßen und schäbig. Michael hatte einen Drink zu viel gehabt und das Mädchen sah aus wie eine Fixerin, die ihr gleich die Tasche entreißen würde, um den nächsten Schuss zu kaufen. „Was ist passiert? Ist jemand ermordet worden?" Vorsichtig trank sie von dem lauwarmen, bitteren Gebräu.

Michael schenkte sich ebenfalls eine Tasse ein und nickte. „Eine unserer Schutzbefohlenen ist an einer Überdosis gestorben. Sie wurde heute Morgen gefunden. Wir sind total erschüttert. Deshalb haben wir jetzt eigentlich geschlossen."

„Tut mir leid", murmelte Gilda.

Das schwarzhaarige Mädchen schnaubte verächtlich. „Tu nicht so scheißfreundlich. Mir machst du nichts vor! Dir ist das total wurscht! Ihr Luxus-Barbies verachtet uns."

„Cora ..." Kraftlos versuchte Michael, die Attacke des Mädchens zu stoppen.

„Ist doch wahr! Die beachten uns gar nicht. Schauen weg und interessieren sich nicht die Bohne dafür, wie dreckig es uns geht. Als wären sie etwas Besseres. Aber das seid ihr nicht. Hast du mich verstanden? Wir haben nicht immer auf der Straße gelebt. Wir sind nur in die Scheiße geraten. Das kann jedem passieren. Dir auch!"

Gilda hob beschwichtigend die Hände, es fiel ihr nichts ein, was sie hätte entgegnen können, ohne das Mädchen weiter zu reizen.

Michael schlug auf den Tisch. „Schluss jetzt, Cora. Hier geht es um ein anderes Thema. Entweder, du beruhigst dich und setzt dich zu uns, oder du verschwindest."

Gilda erwartete, dass das Mädchen wütend zur Tür hinausrauschen würde, aber überraschenderweise nickte sie und zog sich einen Stuhl heran.

„Tut mir leid, dass ich zu einem ungünstigen Zeitpunkt komme, das konnte ich nicht wissen", begann Gilda erneut.

„Wir konnten das alle nicht ahnen. Zoras Tod ist der totale Schock. Sie war auf einem guten Weg, seit Wochen clean. Keine Ahnung, wie es zu einem Rückfall kommen konnte. Sie war viel zu erfahren für eine Überdosis." Michael schüttelte den Kopf, angelte nach der Wodka-Flasche, die mitten auf dem Tisch stand, und goss einen großzügigen Schluck in den Becher.

Gilda scharrte unbehaglich mit den Füßen. Betrunkene machten ihr Angst. Sie hatte es am eigenen Leib erlebt, wie aufdringlich und gefährlich sie werden konnten. Als sie auf Ibiza in einem Strandklub gejobbt hatte, war sie nur knapp einer Vergewaltigung entgangen. Ein Betrunkener hatte sie nachts auf dem Heimweg in ein Gebüsch gezerrt. Nur dank eines beherzt eingreifenden Touristen war es nicht zum Äußersten gekommen. Sie versuchte, sich auf das Gespräch zu konzentrieren: „Könnte es Selbstmord gewesen sein?"

„Bullshit!" Cora fuhr hoch. „Sie hatte es doch geschafft: Keine Drogen, auf der Warteliste für 'ne eigene Bude und in ein paar Wochen wollte sie eine Ausbildung als Kosmetikerin anfangen. Sie war so happy! Das schmeißt man doch nicht einfach weg."

Gilda zuckte die Schultern. „Vielleicht hat sie Angst vor der Herausforderung bekommen? Der Schritt zurück in ein strukturiertes Leben, in dem man alle Erwartungen erfüllen muss, kann einschüchternd wirken."

„Sag mal, bist du 'ne Psycho-Tussi? Was redest du da für einen Scheiß?“ Cora stützte die Arme auf den Tisch und guckte Gilda an, als wollte sie sich gleich auf sie stürzen.

„Cora, ich sage es nicht noch einmal: Halt dich zurück oder geh!" Michael warf einen strengen Blick auf das wütende Mädchen, dann wandte er sich an Gilda: „Nein, ich glaube nicht, dass sie Panik bekommen hat. Sie war in einem Spezialprojekt zum Drogenausstieg, da wurde sie psychologisch und medikamentös gegen Angstzustände und Depressionen behandelt. Die merken sofort, wenn irgendetwas mit den Teilnehmern nicht stimmt, und steuern dagegen. Zora hatte keine Angst vor der Zukunft. Sie hat sich darauf gefreut."

„Genau." Cora hatte sich wieder beruhigt. „Prof Martin hätte ihr sofort etwas gegeben, wenn sie einen Depri-Trip gehabt hätte. Hatte sie aber nicht. Im Gegenteil, sie war total gut drauf, weil alles so geil lief. Sie war höchstens ein bisschen mitgenommen von der Therapie. Aber so ein Entzug ist auch kein Kinderspiel."

„Prof Martin?", hakte Gilda ein. Hatte Barbara nicht heute Mittag noch von einem Professor Martin erzählt, der sie für eine Wohltätigkeitsveranstaltung gebucht hatte?

Michael lächelte schwach. „Genau der. Man bringt ihn eigentlich mit solchen Sozialprojekten nicht in Verbindung."

Gilda trank einen Schluck von ihrem Kaffee und schälte sich aus der Daunenjacke. Langsam wurde es ihr doch warm. Cora beugte sich vor, schnappte sich Michaels Feuerzeug und entzündete eine halb abgebrannte Kerze, die in einem Nest aus skelettierten Tannenzweigen steckte. Ihre anfänglichen Vorbehalte gegen Gilda schien sie abgelegt zu haben, jetzt wollte sie eine gemütliche Atmosphäre schaffen. Allerdings wirkte das Gesteck so trostlos und vernachlässigt wie die ganze Einrichtung.

„Also schließt ihr Selbstmord aus?" Das Thema ging Gilda nichts an, aber sie war neugierig.

„Ja, auf jeden Fall." Michael nickte entschieden mit dem Kopf. „Sie hätte sich nicht auf den Kirchenstufen direkt vor unserer Haustür umgebracht. Das hätte sie uns nicht angetan."

Cora nickte zustimmend, stellte ihre Füße auf den benachbarten Stuhl und schlang die mageren Arme um ihre dünnen Beine.

Draußen war es stockdunkel geworden, das spärliche Licht der Deckenlampe drang kaum bis in die Ecken. Gilda sah beunruhigt auf ihre Uhr. Zu lange wollte sie sich nicht aufhalten.

„Könnt ihr für uns herausfinden, was mit Zora passiert ist?" Cora sah Gilda durch den Schleier ihrer langen Haare erwartungsvoll an.

„Nein, tut mir leid. Wir übernehmen keine Mordfälle. Und auch nichts mit Gewalttaten. Firmenpolicy."

„Firmenpolicy", äffte sie das Mädchen nach.

„Wieso glaubst du, dass es Mord war? Vielleicht ist nur irgendetwas schief gelaufen." Michael schien noch blasser geworden zu sein, sofern das in dem düsteren Raum überhaupt zu erkennen war.

Gilda beugte sich vor: „Na, entschuldigt bitte, eure Zora hatte keinen Grund, sich umzubringen, war zu erfahren, um eine Überdosis zu nehmen, und hätte nicht vor eurer Tür gespritzt. Was bleibt da noch übrig?"

Michael malte mit den Fingern nervös ein paar Buchstaben nach, die jemand in die gemaserte Holzplatte des Tisches geritzt hatte. „Weißt du, es gibt noch etwas anderes. Unsere Akten sind durchwühlt worden, es fehlen Formulare. Könntet ihr darüber mehr herausfinden?"

„Was meinst du damit?" Cora blickte Michael genauso erstaunt an wie Gilda.

„Jemand hat unsere Ordner durchgeblättert. Es ist bereits vier- oder fünfmal vorgekommen. Genau weiß ich es nicht, weil ich es nicht unbedingt immer bemerkt habe. Und manchmal fehlte ein Blatt."

„Was für Unterlagen?", fragte Gilda.

„Anträge für das Projekt von Prof Martin. Ab und zu fehlte ein Stammblatt mit den persönlichen Angaben einer Teilnehmerin."

„Teilnehmerin? Gibt es keine Männer?"

„Doch, aber von denen fehlt nichts."

„Komm, das war garantiert einer der DROBIES. Manche wollen nicht clean werden und durchsuchen alles, um an Kohle zu kommen." Cora winkte verächtlich ab.

„Wer sind die DROBIES?" Gilda schaute von einem zum anderen.

„Unsere Kunden, wenn du so willst. Die Menschen, die von den Drogen loskommen möchten und bei uns Unterstützung suchen. Das hier ist die DROBERA und die Leute, die wir betreuen, nennen wir DROBIES. Hat sich so eingebürgert."

„Ok", nickte Gilda. „Könnte es einer der DROBIES gewesen sein?"

„Klar", rief Cora, doch Michael schüttelte gleichzeitig den Kopf.

„Nein. Was sollen die mit den Unterlagen? Wenn die etwas mitgehen lassen, dann Bares, Ziggies oder Alk. Manchmal einen Schokoriegel. Alles andere interessiert die nicht. Hier gibt es nichts Wertvolles."

Gilda schaute sich um und musste ihm unwillkürlich recht geben. Die Möbel und das vermackte Steingut-Geschirr, das auf dem Tisch stand, waren höchstens etwas für den Sperrmüll. Den wertvollsten Gegenstand, eine uralte Kaffeemaschine, die auf der Spüle stand, hätte auch keiner freiwillig mitgenommen. „Warum ist dir das Thema so wichtig, dass du uns damit beauftragen willst? Es sind nur Papiere. So wertvoll können die nicht sein.“

„Ja, es sind nur Papiere. Aber sie gehören zu einem Projekt, über das keine Einzelheiten nach außen dringen sollen. Die Therapie ist neu entwickelt worden und befindet sich in der Erprobungsphase. Es wäre fatal, wenn die Konkurrenz jetzt davon Wind bekäme. Es könnte sein, dass jemand die Teilnehmer ausfragen möchte und deshalb die Unterlagen stiehlt. Wenn Prof Martin das erfährt, verlieren wir womöglich die Kooperation. Für uns wäre das eine Katastrophe. Dann können wir den Laden über kurz oder lang dichtmachen."

Gilda nickte. „Verstanden. Tut mir leid, wenn ich das frage, aber könnt ihr uns bezahlen? Ehrenamtlich arbeiten wir nämlich nicht."

Michael lachte hart auf. „Soll Bernd den Auftrag gleich mitübernehmen. Der hat schließlich genug Schotter." Als er Gildas unbewegte Miene sah, lenkte er ein. „Mach dir keine Sorgen. Es gibt ein Budget, das der Pfarrer unter seiner Fuchtel hat. Er wird Geld lockermachen. Hauptsache, wir geben nichts aus für die Renovierung der DROBERA oder für Neuanschaffungen. Seiner Ansicht nach wissen die DROBIES das nicht zu schätzen und machen alles nur kaputt."

Gilda wühlte in ihrer Handtasche und legte ein Formular und einen Kuli vor ihn auf den Tisch. „Das ist das Vertragsformular. Du kannst es gerne direkt unterschreiben, allerdings starten wir mit der Arbeit erst, wenn du den Vorschuss bezahlt hast. Ok?"

Michael nickte, überflog halbherzig den Text und unterschrieb. „Ich spreche noch heute mit dem Pfarrer, er kann morgen das Geld überweisen."

„Gut. Da ich dir glaube, dass du uns bezahlen wirst, kannst du mir gleich eine Liste der verschwundenen Unterlagen machen. Die nehme ich direkt mit."

Aber Michael schüttelte den Kopf. „Sorry, da muss ich mir erst ein paar Gedanken machen. Auswendig kenne ich die Namen nicht."

„Ok, schick sie mir per E-Mail. Hier ist meine Karte. Nun zu dem Thema, dessentwegen ich hier bin. Bernd Schlüter sagte, dass es deine Idee war, ein Schultreffen zu organisieren?"

„Tja, also ich finde auch, dass wir das machen sollten. Es ist alles so lange her. Es interessiert mich, was aus den anderen geworden ist."

„Hast du noch Kontakt zu jemandem? Kannst du mir Namen nennen?" Gilda hatte jetzt einen Block vor sich liegen und wartete mit gezücktem Bleistift.

Michael wand sich. „Bernd natürlich", begann er langsam aufzuzählen, „und Tommy. Mit den beiden habe ich das Zimmer geteilt. Tommy hat ständig gefurzt, er vertrug das Essen nicht."

Cora kicherte schrill, doch Michael nickte ernst.

„Wir haben fast täglich eine widerliche Pampe bekommen, Graupeneintopf mit Mehl. Da konnte es einem schlecht von werden. Onkel Heini hielt uns immer vor, dass er von dem bisschen Geld, das er für uns bekam, uns eigentlich nur verhungern lassen könnte. Wir sollten froh sein, dass es wenigstens das gab."

„Wer ist Onkel Heini?", fragte Cora dazwischen.

„Dem gehörte die Schule. Heinrich Krabost, wir mussten ihn Onkel Heini nennen. Dann würden wir uns wie zu Hause fühlen, hat er gesagt, schließlich wären wir eine große Familie. Aber zu Hause hat man sich da nicht gefühlt. Eher wie in der Hölle. Obwohl, für die meisten von uns machte das keinen Unterschied. War vielleicht doch wie zu Hause." Michael starrte in die Dunkelheit.

„Gibt es weitere Namen, an die du dich erinnerst?", fragte Gilda sanft. Sie wollte nicht gefühllos erscheinen, aber sie musste langsam aufbrechen.

„Es gab noch zwei auf unserer Bude. Wie hießen die? Ede irgendwas. Und Klößchen. Der war ziemlich dick. Dann waren da noch die drei Kapos. Scharfe Hunde, Friedrich, Axel und Werner. Onkel Heini nannte sie seine Augen und Ohren. Damit meinte er, dass sie alles sahen und hörten, was wir machten. Das haben sie ihm brühwarm erzählt. Manchmal bekamen sie den Auftrag, demjenigen, der etwas falsch gemacht hatte, eine gehörige Abreibung zu verpassen. Immer dann, wenn Onkel Heini zu besoffen war, um es selbst zu machen."

Gilda schluckte. Das hörte sich nach einem Horror-Internat an. Im Internet hatte die Schule einen anderen Eindruck erweckt. Aber die Zeiten waren auch besser geworden.

„Warum willst du das Schultreffen auf die Beine stellen? Angenehme Erinnerungen können es nicht sein."

Michael nickte bedächtig. „Stimmt. Es war nicht schön. Überhaupt nicht. Aber es gab ein paar nette Jungs unter den Kameraden, die ich gerne wiedersehen möchte. Und bei einem hätte ich noch etwas gut zu machen.

Aber der wird wohl nicht kommen."

Tag 2
6

Laura stand noch keine zwei Minuten vor der Haustür, als ein schicker Jaguar hupend an der Bordsteinkante hielt. Strahlend sprang Barbara aus dem Auto und machte eine einladende Geste. Laura musterte lächelnd ihr Outfit: Zur schwarzen Daunenjacke trug sie schwarze Hosen mit knallroten Lackstiefeln, eine rote Zipfelmütze saß keck auf ihren blonden Locken. Im Sauerland würde sie auffallen.

„Guten Morgen! Kann es losgehen?"

„Guten Morgen, Barbara. Ich dachte, du wärst ein Morgenmuffel? Davon ist nichts zu merken. Wie kann man am frühen Morgen schon so gut gelaunt sein?" Laura packte ihre Reisetasche in den Kofferraum und setzte sich auf den Beifahrersitz. „Hat dir Heinolf seinen Luxusschlitten freiwillig gegeben oder bist du damit getürmt?"

„Er ist auf Forschungsreise in den USA. Ich dachte, wir fahren hiermit viel bequemer als mit dem Z3."

Barbaras Mann war Universitätsprofessor und häufig unterwegs. Laura mochte ihn nicht besonders. Es fiel ihr schwer, mit ihm ein Thema zu finden, über das sie sich nicht sofort in die Haare kriegten. Barbara hatte ihr erklärt, dass er sich durch sie verunsichert fühlte, aber sie glaubte das nicht. Er konnte sie wahrscheinlich einfach nicht leiden. Aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. „Das stimmt. Der Jaguar ist komfortabler als deine Blechbüchse." Laura kuschelte sich wohlig in den beheizten Ledersitz und genoss die Wärme. Sie hatte nur kurz gewartet, doch die Kälte war ihr bereits in die Knochen gekrochen.

„Hast du schon gefrühstückt?", fragte Barbara munter.

„Klar, für mich ist neun Uhr nicht besonders früh. Ich bin keine Künstlerin, die den ganzen Morgen verschlafen kann."

„Also wirklich!" Barbara knuffte Laura spielerisch. „Ich schlafe nicht jeden Tag aus, nur nach Konzerten, wenn es spät geworden ist. Möchtest du Kaffee? Das da ist deiner." Sie zeigte auf einen Thermobecher, der in einer Halterung vor Lauras Sitz klemmte.

„Toll." Laura probierte vorsichtig. „Lecker. Perfekt temperiert."

„Ich habe Croissants gekauft, falls du Lust auf ein zweites Frühstück hast."

„Vielen Dank, im Moment nicht. Ich habe üppig gefrühstückt."

„Ok, aber ich nehme eins. Kommst du an die Tüte auf dem Rücksitz dran?"

Laura angelte mit langem Arm nach den Leckereien und hielt sie Barbara vor die Nase. Die nahm ein Marzipan-Croissant und schaltete das Radio ein. Die Klänge eines romantischen Liedes erfüllten den Innenraum, draußen sausten mit Raureif bedeckte Felder an ihnen vorbei. „... My love will never end ...", sang Laura leise mit, was ihr einen prüfenden Blick ihrer Freundin eintrug.

„Denkst du manchmal noch an Hendrik?"

Hendrik war das große Liebes-Desaster in Lauras Leben gewesen. Sie hatten eine heiße Affäre gehabt. Doch als sie von ihm schwanger geworden war, hatte er sich auf seine Familie und seine Verpflichtungen besonnen und sie zu einer Abtreibung gedrängt. Vor allem Letzteres würde sie ihm nie verzeihen, auch wenn es letztlich ihre eigene Schuld war, schließlich hatte sie sich von ihm überreden lassen. Aber damals war sie nicht klar im Kopf gewesen. Um über ihn hinwegzukommen, hatte sie nach einer langen Phase der Verzweiflung ihr Leben komplett umgekrempelt und sich als Detektivin selbstständig gemacht. Ein Schritt, den sie bis heute nicht bereut hatte.

„Ich denke selten an ihn. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht mehr, was ich an ihm gefunden habe. Es müssen die Umstände gewesen sein."

„Die Umstände?"

„Ja. Er war so erfolgreich, so selbstsicher, so strahlend, alle bewunderten ihn. Das gab ihm so eine Art Aura. Ich war geschmeichelt, dass sich so ein toller und gut aussehender Mann für mich interessierte. Und ich habe mich allein gefühlt. Aber jetzt sehe ich ihn, wie er ist: ein mieser, kleiner Angeber, ein egozentrischer Langweiler und ein Arschloch."

Barbara lachte beifällig: „Genau, gut so!"

„Ich erinnere mich nicht gerne daran, wie dumm ich mich verhalten habe. Am liebsten würde ich die Geschichte aus meinem Gedächtnis löschen. Und aus dem aller anderen Leute. Letztens habe ich eine gemeinsame Bekannte getroffen, die hat mich so merkwürdig angesehen und hämisch gelächelt. Aber vielleicht bilde ich mir das ein, weil mir die Erinnerung unangenehm ist." Laura schaute auf ihren Thermobecher.

„Mach dir nichts draus! Jeder macht Fehler. Vor allem aus Liebe. Man sollte die Fehler nur nicht wiederholen. Warte ab, irgendwann kommt der Richtige."

„Ja, klar!" Laura versuchte, munter zu klingen, doch es wollte ihr nicht recht gelingen.

„Apropos: Hast du was von Marek gehört?"

„Wieso apropos? Möchtest du irgendetwas andeuten?“

Barbara lachte. „Nein, keine Sorge. Ok, ich habe mal gedacht, dass aus euch etwas werden könnte. Ihr seid beide attraktiv, vor allem seit deine Haare wieder etwas länger geworden sind, und ihr habt nicht schlecht zusammengepasst. Aber ich habe verstanden, dass ihr nur Freunde sein wollt."

„Wenn überhaupt", sagte Laura düster. „Ich habe nichts mehr von ihm gehört, seit er fort ist. Als Freund hätte er sich ruhig mal melden können. Und als Mitarbeiter der Agentur erst recht."

Barbara nickte. „Finde ich auch. Schade, dass er verschwunden ist. Er hatte so etwas Abenteuerliches und Verwegenes. Eine Mischung aus James Bond und Iron Man ohne Rüstung."

Laura musste lachen. „Du bist eine hoffnungslose Romantikerin. Aber ich weiß, was du meinst. Er fehlt mir in der Detektei. Mit ihm hatte ich das Gefühl, dass wir alles hinkriegen können. Zum Glück haben wir seit unserem großen Fall mit den Mädchenmorden nur noch Trivial-Aufträge, sonst wären wir ganz schön in Schwierigkeiten. Aber für ihn ist es besser, dass er nicht mehr da ist. Er würde sich zu Tode langweilen, wenn er hinter untreuen Ehemännern herjagen müsste."

„Oder stell ihn dir vor, wie er die Ehemaligen-Liste für das Schultreffen zusammenstellt."

Die beiden Freundinnen lachten.

Lauras Telefon klingelte. Barbara stellte das Radio ab und Laura drückte auf das Lautsprechersymbol.

„Guten Morgen, ihr zwei! Seid ihr schon unterwegs?" Gildas heisere, fröhliche Stimme erfüllte das Wageninnere.

„Guten Morgen, Gilda. Ja, wir sind bereits eine Weile unterwegs. Alles ok in der Agentur?"

„Alles bestens. Ich wollte dir von meinem Besuch bei Michael Ehrling erzählen. Passt es euch?"

„Ja, schieß los!"

„Ich habe ihn in der Drogenberatungsstelle getroffen. Es war eine Frau dabei, Cora, die sich dort betreuen lässt. Oder was auch immer die da machen. Ein giftiges Mädchen, sie hat aber irgendwann ihre Stacheln eingezogen. Dafür ist Michael ein netter Typ: freundlich, ruhig und ohne Sendungsbewusstsein oder Helfersyndrom, wie man das ansonsten häufig in solchen Einrichtungen antrifft. Doch von den Drogen weg ist er nicht. Er hatte schon Alkohol getrunken, als ich gestern Nachmittag dort ankam." Sie machte eine kurze Pause, aber weder Laura noch Barbara sagten etwas. „Vor der DROBERA wurde gestern eine Leiche gefunden. Ein Mädchen, das zu den Klienten der Beratungsstelle gehörte, oder wie man die bezeichnet. Sie starb an einer Überdosis und hatte die Spritze noch im Arm. Michael und Cora sind davon überzeugt, dass es weder Selbstmord noch ein Unfall gewesen sein kann."

„Also Mord?", riefen Barbara und Laura wie aus einem Munde.

„Ja, was sonst? Jedenfalls möchte Michael, dass wir einen Auftrag für ihn übernehmen."

„Wir übernehmen keine Mordfälle", unterbrach Laura automatisch.

„Genau", rief Barbara. „Auf jeden Fall nicht ohne Marek!"

„Weiß ich doch", wehrte Gilda ab. „Das habe ich ihm auch gesagt. Er möchte, dass wir etwas anderes untersuchen. Seit einiger Zeit verschwinden Unterlagen in der DROBERA. Es handelte sich um Informationen über Leute, die an einem Reha-Projekt teilnehmen, das übrigens von Professor Martin geleitet wird. Den kennst du doch, Barbara. Michael hält es für unwahrscheinlich, dass es eines seiner Schäfchen war. Die klauen angeblich nur Geld, Alkohol und Ziggies. Na ja, wenn es weiter nichts ist. Jedenfalls hat er das Auftragsformular unterschrieben und die Anzahlung überwiesen."

„Gut. Guck mal, wie weit du kommst. Wir sind morgen Nachmittag oder spätestens übermorgen wieder da, dann sehe ich mir das an. Hast du etwas zu unserem aktuellen Fall erfahren? Konnte Michael Ehrling sich an Schüler erinnern, die zu dem Treffen eingeladen werden sollen?"

„Ja, ein paar Namen hat er mir gestern genannt, heute will er mir eine Liste schicken. Bisher ist aber nichts angekommen. Wenn ich sie habe, schicke ich sie dir auf dein Handy."

Gilda wünschte ihnen eine gute Fahrt und Barbara legte eine CD ein. Zu den wildromantischen Klängen einer Metal-Rock-Ballade rasten sie über die Autobahn, vorbei an schneebedeckten Feldern und bei strahlendem Sonnenschein.

„Merkwürdige Sache mit dem Todesfall", murmelte Laura nach einer Weile.

„Das habe ich auch gerade gedacht."

„Kein Selbstmord und kein Unfall, also kann es sich nur um Mord handeln. Aber wer bringt eine junge Frau um, die nichts hat und keinem etwas tut?"

Barbara zuckte die Schultern: „Wir wissen doch nichts über die Tote. Es könnte ein Raubmord gewesen sein und man hat ihr den unfassbar wertvollen Diamantring ihrer Mutter gestohlen, den sie versetzen wollte. Oder sie hat jemanden erpresst? Einen verheirateten Liebhaber? Nur weil sie tot ist, muss sie nicht brav gewesen sein. Als Drogenabhängige schon gar nicht."

Laura lachte. „Schon klar. Wir wissen nichts und können nur raten. Selbst das sollten wir lassen, hinterher befinden wir uns mitten in der Mordermittlung. Was mir auffällt, ist, dass der Name von Professor Martin seit gestern schon zum zweiten Mal auftaucht. Erzähl, wie ist er so?"

„Ich kenne ihn nicht gut. Wir laufen uns manchmal bei gesellschaftlichen Anlässen über den Weg. Auf dem Ball von der Uni oder bei einem Vortrag. Und natürlich auf der Wohltätigkeitsveranstaltung, von der ich dir erzählt habe. Er ist furchtbar nett und sehr attraktiv. Ich habe eine Rede von ihm gehört, die hat mich wirklich beeindruckt. Er ist nicht nur klug und reich, sondern auch wohltätig. Tja, was noch? Er ist überhaupt nicht eingebildet, das ist ungewöhnlich. In seinen Kreisen tragen viele Leute die Nase ziemlich hoch, aber er nicht. Und hatte ich schon erwähnt, dass er wahnsinnig attraktiv ist?"

Laura lachte: „Ich glaube, nein. Erzähl es mir doch noch mal: Ist Professor Martin attraktiv?"

„Ja, hatte ich das nicht gesagt? Er ist unglaublich gut aussehend. Groß, schlank, schwarze Haare mit ein paar grauen Strähnen. Faszinierende, dunkle Augen."

„Barbara, wenn Heinolf wüsste, wie du von Professor Martin schwärmst, wäre er garantiert eifersüchtig. Man könnte glauben, du bist in ihn verliebt?"

Barbara lächelte, ihre Wangen röteten sich verdächtig. „Nein, ich glaube nicht", murmelte sie.

Laura schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. „Was soll das heißen? Irgendetwas ist doch mit dir. Gestern warst du schon so merkwürdig. Jetzt hören wir zum fünften Mal hintereinander dieses schmalzige Lied, rück raus mit der Sprache. Habt ihr eine Affäre?"

„Nein. Professor Martin ist verheiratet. Und wenn ich verheiratet sage, meine ich verheiratet. In Großbuchstaben."

„Das bist du auch. Willst du sagen, er ist glücklich liiert und nicht an Seitensprüngen interessiert?"

„Das weiß ich nicht. Falls doch, muss er jedenfalls sehr diskret sein. Seine Frau ist ein Drache, sie lässt ihn keine Sekunde aus den Augen und geht sofort dazwischen, wenn er sich mit einer anderen Frau unterhält."

Laura schmunzelte. „Wenn Professor Martin so ein Sahneschnittchen ist, ist es kein Wunder, dass seine Frau gestresst ist. Wahrscheinlich hat er viele Verehrerinnen und sie hat alle Hände voll zu tun, sie von ihm fernzuhalten. Denk nur an die Krankenschwestern. Die Frau kann einem leidtun."

„Das muss sie nicht", sagte Barbara knapp. „Sie ist ziemlich arrogant. Eine Französin, exquisite Figur, übernervös, kapriziös. Was sie gut kann, ist, einen von oben herab zu behandeln und spitze Bemerkungen zu machen."

„Ich merke, sie ist dir richtig sympathisch. Warum bleibt er bei ihr? Vor allem, wo er so viel Auswahl hat?"

Barbara zuckte die Schultern. „Ist mir ein Rätsel. Aber es kommt ja oft vor, dass Männer ein Faible für strapaziöse Frauen haben."

„Aber du bist in ihn verliebt. Das merke ich doch.“

Barbara schüttelte heftig den Kopf. „Nein. Nicht in ihn.“

„Wer ist es dann?“ Laura ließ nicht locker.

„Ich weiß es nicht.“

„Raus mit der Sprache. Wir sind Freunde, mir kannst du es erzählen.“

Barbara setzte den Blinker und überholte überaus konzentriert einen langsam fahrenden Ford, dessen Fahrer mit dem Versenden von Textnachrichten beschäftigt zu sein schien. Unverwandt sah sie auf die Straße und ignorierte Lauras inquisitorischen Blick. Doch als Laura sich räusperte, musste sie lachen.

„Ok. Mir ist etwas Merkwürdiges auf der Veranstaltung in Köln passiert. Es war ein schöner Abend, ich hatte nach meinem Auftritt einen Sekt getrunken, habe getanzt, mich mit Freunden unterhalten und viele Komplimente erhalten. Kurz gesagt, ich war richtig gut drauf. Irgendwann merkte ich, dass da jemand war, der mich beobachtete, der meinen Arm im Gedränge streifte, leicht seine Hand auf meinen Rücken legte. Doch immer, wenn ich mich umsah, konnte ich niemanden ausmachen, der es gewesen sein könnte. Da war keiner, der mich ansah und meinen Blick suchte. Es war nicht unangenehm. Im Gegenteil. Es war prickelnd. Jemand flirtete mit mir auf eine ungewöhnliche Art. Es war aufregend. Ich stand wie unter Strom. Um einen klaren Kopf zu bekommen, bin ich auf die Terrasse gegangen."

Barbara schien mit sich zu kämpfen, ob sie weitererzählen sollte. „Als ich da draußen im Dunkeln stand, öffnete sich die Tür und ich hörte Schritte. Ich hatte keine Lust auf Smalltalk und Höflichkeiten. Ich wollte die Nacht im Schlosspark mit dem wunderbaren Sternenhimmel genießen. Die Terrasse war groß, Platz genug für uns beide. Doch er steuerte auf mich zu und blieb direkt hinter mir stehen. Er berührte mich nicht, aber ich fühlte ... seine Präsenz. ... wie ein elektrisches Feld. Ich wusste plötzlich, dass er es war. Der Mann, den ich schon den ganzen Abend gespürt hatte." Barbara machte eine Pause. Ihre Gesichtsfarbe war in ein dunkles Rot übergegangen. „Ich habe mich nicht umgedreht und nichts gesagt. Und er auch nicht. Wir standen nur da. Etwas strich über meinen Nacken, vielleicht eine meiner Haarsträhnen, vielleicht sein Atem? Kennst du das, wenn du mit jeder Faser deines Körpers nur auf einen Punkt fokussiert bist?“

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