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Dass ein Staatsgebilde gut funktioniert, erweist sich daran, dass es über das nötige Rüstzeug verfügt, um seine Gegner nach vorher festgelegten Regeln und Zuständigkeitsabgrenzungen im Zaum zu halten, und dass es vom zweifelhaften Beistand ungerufener Parteigänger, die zur Selbsthilfe greifen, nicht überrannt werden kann. Damit es ohne schwere Störungen arbeiten könne, müssen die größtmöglichen Garantien dafür gegeben sein, dass Maßnahmen, die nur einer Partei oder Gruppe zum Vorteil gereichen, nicht als im öffentlichen Interesse erforderlich ausgegeben werden können. Aus dieser Sicht wird im vorliegenden Buch bei der Analyse der Typen geregelter Zuständigkeit für politische Rechtsfälle von der Darstellung des offenkundigen Legitimierungsversuchs begrenzter Sonderinteressen abgesehen. (Besonders häufig sind solche Bestrebungen in rudimentären Staatsgebilden – wie etwa den Barbarenreichen des frühen Mittelalters – wo sie der bloßen Sanktionierung der jeweiligen Ergebnisse einer nie abreißenden Kette privater Fehden gleichen.) Abgesehen wird hier aber auch von dem in unseren Zeitläuften nicht ganz seltenen Fall einer Staatsexekutive, die für sich keinen anderen Rechtstitel in Anspruch zu nehmen weiß als das eigene Bedürftigkeits- und Opportunitätszeugnis. (Eines solchen Stils bediente sich zum Beispiel Hitler beim sogenannten Röhm-Putsch vom Frühsommer 1934.)

Wer richtet?

Je umfassender und je weniger eindeutig bestimmbar die Regeln sind, die erlaubtes politisches Verhalten von unerlaubtem scheiden, desto wichtiger ist die Antwort auf die Frage, wer berufen sei, diese Regeln zu hüten und anzuwenden. In hohem Maße dreht sich die Geschichte der politischen Rechtsprechung um die Grundsätze, nach denen die mit der Urteilsfindung Betrauten ausgewählt werden. Die Vielfalt der Organe, denen im geschichtlichen Ablauf die Zuständigkeit für politische Rechtsprechung übertragen wurde, beweist im Grunde, wie sehr die jeweiligen Machthaber bei der Vervollkommnung ihrer juristischen Waffen ständig wechselnden Augenblicksnotwendigkeiten unterliegen. Weiterreichende Erfordernisse, die über den Augenblick hinausgreifen, führen indes dazu, dass sich in der Art, wie die Machthaber die Gegebenheiten und die Anforderungen des Augenblicks behandeln, gleichwohl bestimmte, des Öfteren wiederkehrende Gefüge herausbilden. Bei näherem Zusehen zeigen sich drei Wege, auf denen die Aufgabe der Authentifizierung des politisch Legitimen besorgt wird:

1. Über das Charisma der Einzelperson: des Stammeshäuptlings, des Priesters und (sowohl in der Theorie als auch – in stark wechselndem Maße – in der Praxis) des Herrschers des Altertums, des mittelalterlichen Königs oder des Monarchen der absolutistischen Zeit. Da hier jede Entscheidung unmittelbar dem Urquell des Rechts entspringt, beruht sie auf der überragenden Bedeutung ihres Ursprungs und leitet daraus auch ihre sachliche Berechtigung ab.

2. Über die politischen Körperschaften des Staates, ob aristokratischer, ob demokratischer Abkunft. Charakteristische Beispiele: im aristokratischen Zweig der Areopag in Athen, der Senat von Rom, das englische Oberhaus, der Senat in Frankreich; im demokratischen Zweig die athenische Volksversammlung, die römischen Zenturiatkomitien, die englischen Körperschaften, die über Karl I., und die französischen, die über Ludwig XVI. zu Gericht saßen, oder – in einer verkleinerten Form – die athenische Helia und die englisch-amerikanischen Schwurgerichte. Während der Quell der Autorität in diesen Fällen die dominierende und möglicherweise repräsentative Position des mit der politischen Rechtsprechung betrauten Organs ist, beruht jede einzelne Entscheidung auf der Abwägung der gebräuchlichen gesellschaftlichen Normen und der Bedürfnisse des Gemeinwesens; in die Waagschale fallen dabei intuitive, gefühlsmäßige und rationale Momente, die mit Vor- und Nachteilen für die Allgemeinheit und für das von der Entscheidung betroffene Individuum zu tun haben.

3. Über die Entscheidung des Berufsrichters: des römischen Quästors aus der Zeit der Republik, des Mitglieds des kaiserlichen Rates im späten Römischen Reich, des in Padua oder Bologna ausgebildeten Mitglieds eines kontinentalen Gerichts, des auf Grund seiner Anwaltserfahrung berufenen englischen Richters oder des von der Pike auf dienenden beamteten Richters der heutigen kontinentaleuropäischen Gerichtsverfassungssysteme. Das Organ, in dessen Namen das Urteil ergeht: Der Herrscher oder das Volk, tritt hier in den Hintergrund; entscheidend ist die inhaltliche Rationalität, der Zweck, dem das Urteil dient, und die formale Rationalität, das Geflecht der feststehenden Regeln, durch deren Vermittlung das Urteil zustande kommt.

In manchen Fällen kann die Autorität der Einzelperson oder der politischen Körperschaft oder der von ihnen ausgehende, wenn auch nur kurzfristig überwältigende nackte physische Zwang mächtig genug gewesen sein, die Vollstreckung des Urteils durchzusetzen. Aber ob es sich um den Kaiser in Rom oder in Byzanz oder um den französischen König aus der Ära des werdenden Nationalstaats handeln mochte: Das direkte persönliche Interesse des Herrschenden am politischen Rechtsfall stimmte nie ganz mit den Lehrsätzen vom Ursprung der richterlichen Autorität überein, auch dann nicht, wenn das Bedürfnis nach Einheit und Kontinuität eine willkommene Brücke vom Ausgang des Justizverfahrens zu seiner rationalen Rechtfertigung schlug, eine Brücke, die oft und gern benutzt wurde. Je nebelhafter aber auch noch dazu die Autorität war, umso unsicherer musste die Aussicht auf die Vollstreckung des Urteils sein.

Die aufgezählten drei Grundformen der politischen Gerichtsbarkeit treten in vier Hauptkombinationen auf. Die erste, die längst schon Geschichte geworden ist, stellt sich als Kräftegleichgewicht zwischen monarchischen und aristokratischen oder monarchischen und berufsrichterlichen Elementen dar. Das Kräfteverhältnis, das im Mittelalter zwischen dem Monarchen und seinen wichtigsten Vasallen bestand, gab dem Urteil eine Vollstreckungschance nur, wenn die Vasallen an der königlichen Gerichtsinstanz beteiligt waren. Die spätere berufsrichterlich-bürokratische Balance zwischen der königlichen Gewalt und dem Gewicht der rechtskundigen Richter, von der im Spätabsolutismus nur die Urteilsbestätigungsbefugnis des Monarchen übrigblieb, wurde zu einer der wesentlichen Voraussetzungen für das wirksame Funktionieren des Territorialstaates.

Der Geschichte gehört auch die zweite Kombination an, das Gleichgewicht zwischen der Zuständigkeit des Territorialstaates und der Zuständigkeit der Kirche. Diesem Versuch der Herstellung eines Zuständigkeitsgleichgewichts kommt indes gerade in unserer Ära größere Beachtung zu, in der der Territorialstaat an Bedeutung verliert, während überstaatliche Fachbehörden im Aufstieg sind und internationale Bewegungen in zunehmendem Maße, wenn auch ohne förmliche Anerkennung, Ansprüche auf Gefolgschaft und Treue anmelden. Der bewegten Geschichte der Kompetenzteilung zwischen Staat und Kirche lässt sich jedenfalls entnehmen, dass es in der Theorie leichter war als in der Praxis, Bereiche ausschließlicher Zuständigkeit auszusondern und die in Inquisitionsverfahren erforderliche Zusammenarbeit zu erreichen. Von der Gefangennahme Papst Martins I. (653 - 656) bis zu den Tagen der Jeanne d’Arc führten auseinanderstrebende Interessen und Veränderungen im gegenseitigen Kräfteverhältnis immer wieder dazu, dass die Zuständigkeitsgrenzen durchbrochen wurden. Bald lag der Konflikt offen zutage, bald verschleierten ihn mehr oder minder durchsichtige Fiktionen.

Die dritte Kombination stellt ein Gleichgewicht der aristokratischen und der demokratischen Elemente dar, von dem einige Spuren immer noch vorhanden sind. Eine solche Gleichgewichtsvorkehrung war die provocatio im republikanischen Rom, die jedem Bürger das Recht gab, gegen ein Todesurteil, von wem auch immer gefällt, bei den Zenturiatkomitien Berufung einzulegen.9 Das englische, das französische und das heutige amerikanische Verfahren der Anklageerhebung vor der ersten Kammer auf Beschluss der eigentlichen Volksvertretung, der zweiten Kammer, ergibt sich aus dem Erfordernis der Mitwirkung demokratischer Elemente an einer Körperschaft, die ursprünglich aristokratischer Kontrolle unterstand (und heute nur auf abgeleitetem, vermitteltem Wege die Volksherrschaft repräsentiert). Für wichtige politische Urteile ist diese Mitwirkung des »Volkes« eine unerlässliche Vorbedingung. Wird sie umgangen, so kann man daraus schließen, dass sich das politische Gleichgewicht verlagert hat.

Die beiden Gracchen, Tiberius und Gaius Sempronius, hatten ebenso wie die Catilinarier das unbestrittene Recht, ihre Sache dem Volk von Rom zu unterbreiten: obschon die Zenturiatkomitien im Gegensatz zur Volksversammlung von Athen über die ihnen vorgelegten Berufungsfälle nicht debattieren durften, war ihre Beschlussfassung darüber nicht zu umgehen. Nur dann kam das Berufungsverfahren nicht zustande, wenn festgestellt worden war, dass der Verurteilte ein Feind des Staates, perduellis, sei und damit automatisch sein Bürgerrecht (also auch das Recht der provocatio) verwirkt habe. Dass perduellio durch »deklaratorische Sentenz« des Senats verkündet, die Verurteilung Missliebiger auf unkontrollierbare Weise von den Inhabern der Regierungsgewalt vorgenommen und das Einspruchsrecht der Zenturiatkomitien gegen die Liquidierung von Gegnern der Machthaber legal ausgeschaltet werden dürfe, war nach der Formulierung Mommsens »theoretisch wie praktisch der Kardinalsatz der Optimatenpartei.«10 Darin, dass sich diese These hatte durchsetzen können, zeigte sich eben die Verschiebung der Verfassungsbalance zugunsten der Aristokratie; die Errichtung des Prinzipats ließ nicht mehr lange auf sich warten.

Umgekehrt lagen die Dinge bei der Anklage gegen William Laud, Erzbischof von Canterbury, und Thomas Wentworth Earl of Strafford, die beiden Hauptstützen Karls I. von England: Nachdem sich das Oberhaus geweigert hatte, der vom Haus der Gemeinen beschlossenen Anklage gegen sie Folge zu leisten, gingen die Gemeinen aus eigener Machtvollkommenheit mit einer bill of attainder gegen die verhassten Würdenträger vor. Dieser revolutionäre Akt von 1640 brachte zum Ausdruck, dass das alte Gleichgewicht der Gewalten nicht mehr bestand: Das demokratisch gewählte Unterhaus nahm sich das Recht, über politische Fälle selbst zu Gericht zu sitzen.

Die vierte Kombination, das Gleichgewichtsprinzip der Gegenwartsgesellschaft, geht von der Allgegenwart des fachlich vorgebildeten Berufsrichters aus, der an seine Aufgabe mit spezialisierten Kenntnissen und spezialisierter Erfahrung herangeht. Charakteristisch für ihn sind Professionalisierung, Spezialisierung, gesicherte Amtsausübung mit Versorgungsvorrechten und die Berufung auf das Gesetz, ein dem äußeren Anschein nach neutrales Bezugsschema, das jedoch die Gegenforderung nach politischer – heutzutage also demokratischer – Kontrolle lebendig werden lässt. Die erste Stufe der demokratischen Kontrolle ist die Beteiligung ausgewählter Angehöriger der Volksmasse an einigen Phasen des gerichtlichen Verfahrens, das zur Urteilsfindung führt. (Die kontinentaleuropäische Praxis schließt die Geschworenengerichte von der richterlichen Voruntersuchung aus und ist nach und nach zu einer Regelung übergegangen, bei der die Laienbeisitzer gemeinsam mit den Berufsrichtern an allen Phasen der Urteilsfindung teilnehmen; sowohl in der kontinentaleuropäischen als auch in der englisch-amerikanischen Praxis liegt die Prozessleitung in den Händen des Berufsrichters, und das englisch-amerikanische Verfahren überlässt dem Berufsrichter alle Rechtsfragen ebenso wie die Verhängung der Strafe.)

In diesem Mischtyp volksrichterlich-berufsrichterlicher Gerichtsbarkeit ist das Volkselement schwächer als das berufliche; das liegt daran, dass dem Geschworenen die fachliche Ausbildung fehlt und das Schwurgericht nur in begrenztem Umfang repräsentativ ist. Anders als das politische Staatsorgan, das über politische Gegner zu Gericht sitzt, vertritt dieser eigens ausgesuchte »Querschnitt« des Volkes, der den Berufsrichtern zur Seite steht, in der Tat Meinungen, die unter dem Volk in Umlauf sind; aber er hat nicht den meinungsintegrierenden und meinungsbildenden Charakter einer echten politischen Vertretung.

Gerichte, die speziell und ausschließlich für politische Komplexe zuständig sind, können für die Aburteilung besonderer politischer Vergehen ohne Berücksichtigung besonderer Kategorien von Tätern oder nur für die Aburteilung politisch hochgestellter Personen bestellt sein. Je nach den Umständen überwiegt in ihnen das politische oder das berufsrichterliche Element. An dem einen Ende der Skala kann man sich das französische Revolutionstribunal von 1793 denken, dessen fünf richterliche und zwölf Laienmitglieder gleichermaßen vom Konvent berufen wurden, und am andern die obersten Gerichte oder Verfassungsgerichte der heutigen westeuropäischen Länder, in denen das politische Element auf diese oder jene Form der Beteiligung des Parlaments an der Berufung der Richter, die Berufsjuristen sein müssen, reduziert ist. Zwischen diesen Extremen hat es mancherlei Mischformen gegeben.

Äußerlich scheint das Auf und Ab eines langwährenden Kampfes mit dem wenigstens zeitweiligen Sieg des bürokratisch-richterlichen über das politisch-demokratische Element geendet zu haben. Die Gerichte werden mit Berufsrichtern besetzt, und die Laien bleiben draußen oder können nur am Rande an der Urteilsfällung teilnehmen. Aber trotz dieses Triumphes des Berufsprinzips in der Besetzung der Gerichte und in der Auswahl des richterlichen Personals haben Veränderungen, die in den letzten hundert Jahren vor sich gegangen sind, der Rolle des Berufsrichters einen abgewandelten Sinn gegeben: Dem berufsrichterlichen Prinzip sind in gewissem Umfang politische Gegengewichte beigegeben worden.

Bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts war der Berufsjurist auf der Richterbank ein Bediensteter des Fürsten; der Fürst berief solche fachlich Vorgebildeten in allgemeine richterliche Ämter oder auch – französisches System – zu besonderer Verwendung bei wichtigen Staatsgeschäften, die er seinen regulären Amtsträgern nicht anzuvertrauen gedachte. Der Fürst war ihr Arbeitgeber, der sie auch unter Umständen, sofern das Amt nicht eine käufliche Pfründe11 war, aus dem Dienst entfernen konnte und von dem allein sie Beförderung zu erwarten hatten. Aber mit der neuerworbenen Unabsetzbarkeit erhielten die Richter irgendwann zwischen 1701 und 1848 auch einen neuen Herrn: die öffentliche Meinung. In seiner unmittelbaren richterlichen Eigenschaft als Mitglied des Geschworenengerichts, die er allerdings nur gelegentlich ausübte, war der neue demokratische Herr, oft auch in Dingen der Politik unerfahren, weder sehr anspruchsvoll noch wirklich imstande, die politischen Nuancen und Konsequenzen der ihm vorgelegten Fälle immer und beizeiten zu übersehen. Indes erhob sich hinter dem Geschworenen eine neue Autorität, die weniger ausgeprägt und massiv war als der frühere fürstliche Gerichtsherr, dafür aber in der Regel viel eher allgegenwärtig und jedenfalls viel zäher und beharrlicher: der Kritiker im Parlament und – als sein Auge und Ohr – die Zeitung.

Am leichtesten vollzog sich der Übergang zum Richter der nachabsolutistischen Zeit in der englisch-amerikanischen Atmosphäre. Hier hatte der Richter, der aus den Reihen der erfolgreicheren Anwälte und Politiker kam, Gelegenheit genug, den im öffentlichen Bewusstsein vorherrschenden Strömungen überaus intensiv und mit viel Verständnis zu lauschen. Zwar konnte diese Art Aufnahmebereitschaft für vorherrschende Meinungen der Sache dieser oder jener energischen und hartnäckigen Minderheit, die sich zur übrigen Gesellschaft in Widerspruch setzte, nicht wenig schaden; dieser Schädigung besonderer Gruppeninteressen wirkte indes zweierlei entgegen: einmal der große Spielraum, den eine sorglos-nonchalante und dem Erwerb mit Erfolg ergebene Gesellschaft der persönlichen Freiheit konzedierte, und zum andern die gewohnheitsmäßige Neigung der Richter, den Folgen ihres eigenen Tuns und Lassens, die sich in den verschiedensten Gesellschaftsschichten am Wahltag einstellten mochten, Aufmerksamkeit und Beachtung zu schenken. Wo es – wie etwa im Chicagoer Haymarket-Prozess – zu ernsten Zusammenstößen kam, zeigte sich sogleich, dass in einer Gesellschaft, die vom Meinen beherrscht wird, eine wirklich unparteiische Haltung schwerlich über das Äußerliche, Technische hinausgehen kann; es zeigte sich aber auch, dass dem modernen Gerichtsprozess, der im Scheinwerferlicht der internationalen Publizität stattfindet, die sehr bedeutsame Fähigkeit zuwächst, weithin ausstrahlende Symbolbilder zu prägen.

In den konstitutionellen Monarchien Kontinentaleuropas wurde der Richter zu einer Art Puffer zwischen der öffentlichen Meinung und dem Eigenbereich der Bürokratie. Mit einem Fuß im bürokratischen Bereich und mit dem andern im gemäßigt liberalen Lager der Zeit, zugleich aber von der eigenen Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit überzeugt, besah sich der Richter skeptischen Auges sowohl das Betragen der gerade entstehenden Massenparteien als auch die Anstrengungen der Exekutive, sie zu unterdrücken oder, wenn das nicht gelang, mit Nadelstichen zu traktieren. Oft genug gab sich der Richter große Mühe, den politischen Inhalt des Konflikts zwischen dem Staat und den neuen Massenorganisationen auf seine reine Rechtsform zu reduzieren. Dabei hielt er sich strikt an seinen ureigensten Amtsbereich: Er erfüllte weder die Erwartungen der Exekutivgewalt, die seine tätige Mitwirkung bei der Unschädlichmachung der Hydra des »Umsturzes« forderte, noch die Hoffnungen der Gegner des Regimes, die von ihm verlangten, dass er ihnen helfe, das anzuprangern, was ihnen als Niedertracht und Verrottung der Machthaber erschien.

In der Dynamik der innenpolitischen Machtkämpfe des 19. Jahrhunderts mochte sich der Richter, der gerade dabei war, sich von der politischen Vormundschaft des Regierungs- und Verwaltungsapparats frei zu machen, gelegentlich als Schlichter sehen – mit der besonderen Aufgabe, zwischen der offiziellen Staatsmaschine und der Gesamtgesellschaft zu vermitteln.12 Während er die Gesetze des Staates anwandte, fühlte er sich vom wachsamen Auge der öffentlichen Meinung beobachtet, denn sie war über die Rolle eines Sprachrohrs der Staatsautorität hinausgewachsen und verwandelte sich immer mehr in die Stimme des Gemeinwesens, wie es sich die gebildete Minderheit vorstellte. Einige der intelligentesten Organe der öffentlichen Meinung glaubten inbrünstig an die Perfektibilität der menschlichen Institutionen; also wollten sie jeden Zwang aufs äußerste Mindestmaß reduzieren und waren schnell dabei, mit dem schwersten kritischen Geschütz auf staatliche Einrichtungen einschließlich der Gerichte zu schießen, die sie bei dem Versuch ertappten, Stimmen des Missklangs zum Schweigen zu bringen. Andere, die das Bedürfnis verspürten, traditionelle Werte gegen den Ansturm ordnungswidriger und begehrlicher Massen hochzuhalten, sahen in Vorstellungen von anhaltendem politischem und sozialem Fortschritt nur Lug und Trug und betrachteten die Gerichte als Bestandteil des Verteidigungssystems der herkömmlichen Gesellschaft, als eine Art zweite Verteidigungslinie, die die vorderste Frontlinie – Beamtentum und Heer – vor geistiger und politischer Zersetzung zu bewahren hätte.

Wo die ständigen Scharmützel zwischen den Staatsorganen und ihren Feinden immer weiter zunahmen und sich zu einem Konflikt von solcher Ausdehnung und solcher Schärfe auswuchsen, dass seine Zurückführung auf den niedrigsten juristischen Nenner nicht mehr möglich war, fand sich der Richter in einer schwierigen Lage: Jede Stellung, die er bezog, musste ihn vielen als parteiisch und voreingenommen erscheinen lassen. Unter solchen Umständen konnte es leicht passieren, dass die Richterschaft selbst von dem Gegensatz zerrissen wurde, der sich durch die gesamte Öffentlichkeit zog; ein markantes Beispiel war die Dreyfus-Affäre in Frankreich. Wiewohl sich die gesellschaftliche – nicht juristische – Endgültigkeit, die dem gerichtlichen Urteil in einem politischen Fall normalerweise zukommt, ohnehin in bescheidenen Grenzen hält, kann die Staatsgewalt auch noch die Macht eingebüßt haben, die sie braucht, um die Vollstreckung des Urteils gegen das widerspenstige Individuum und seinen Anhang durchzusetzen. Dann ist das Urteil bloß ein vergängliches Moment in der Umwertung der gesellschaftlichen Werte und in der Umgestaltung des Gesamtsystems der institutionellen Vorkehrungen.

1 881,82 ₽
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9783863935528
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