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6. Verwendbarkeit des Prozesses im politischen Kampf

Im Prozess Stalinscher Prägung war die Gewissheit, dass das im Voraus festgelegte Ergebnis erzielt werden würde, auf die denkbar sicherste Weise verbürgt; damit war auch die Schranke aufgerichtet, die diese Form der reinen Schaustellerkunst nicht durchbrechen konnte. Wenn sich jedoch die Führung des politischen Prozesses mehr dem Normalen nähert, nimmt der Prozess in höherem Maße die Eigentümlichkeiten alles politischen Handelns an: Sowohl in seinen unmittelbaren Wirkungen als auch in seinen Fernstrahlungen haftet ihm das Element des Ungewissen, Lotteriehaften an.

Bei politischen Entscheidungen geht es darum, von den verschiedenen möglichen Richtungen des künftigen politischen Geschehens eine zu wählen. Da die Menschen die schwer dechiffrierbare Schlüsselkombination von Varianten, aus der diese Richtung hervorgeht, nicht überschauen können, denken sie über Ereignisse der Vergangenheit nach, um Anhaltspunkte für ihr Handeln zu finden. An die Stelle des Unbekannten oder Unübersehbaren tritt das Vertraute oder das, was einem vertraut vorkommt. Als eine Methode der Vertretung des Unbekannten durch Bekanntes kann neben den Parlamentsdebatten auch der politische Prozess fungieren. In den Parlamentsdebatten greifen Vergangenheit und Gegenwart ständig in die persönliche Geschichte des Machtbewerbers ein, dessen Leistung von den Wählern danach beurteilt wird, wie gut er es verstanden hat, die Vergangenheit als Leitbild für die Zukunft zurechtzubiegen oder, wenn es sein muss, auszulöschen. Dagegen gibt der Prozess vor, die Beurteilung des Vergangenen von allen Zukunftserwartungen abzuriegeln. Er will ein bestimmtes Element vergangenen Geschehens isolieren, es aus dem, was Chronos, das Fließband der Zeit, laufend und ziellos anliefert, als Rohmaterial herausgreifen. Hat der Prozess die gewünschte Episode aus dem geschichtlichen Geschehen herausgerissen, so kommt es darauf an, sie mit dem grellsten Licht zu bestrahlen, damit auch noch das winzigste Detail bloßgelegt werde.

Was damit bezweckt wird, ist nicht Altertumsforschung und hat nur beiläufig mit Vergeltung zu tun. Rekonstruiert wird die Vergangenheit um der Zukunft willen: Vielleicht wird sie als Waffe im Kampf um politische Herrschaft zu gebrauchen sein. Zwischen dem Geschichtsabschnitt, der seziert werden soll, und dem Gespinst, aus dem er herausgelöst worden ist, liegt nur eine künstliche Isolierschicht. Aber das Gesichtsfeld zu verengen, ist ein anerkanntes Verfahren, wenn man eine Situation der Vergangenheit näher beobachten will. Je kleiner der zu rekonstruierende Abschnitt, je einfacher und klarer seine Umrisse sind, umso weniger komplex wird bei seiner Beurteilung die wertende Entscheidung sein. Aber die Suche nach dem Konkreten ist zugleich auch die Suche nach Wertmaßstäben. Weil jedoch Gegenwart und Zukunft voller komplexer Zusammenhänge sind, gibt es keine Lösungen ohne widerstreitende Gegenlösungen und Gegenansprüche, die Anerkennung verlangen.

Zum Gegenstand hat der Prozess einen Geschichtsabschnitt, zum Wertmaßstab das Gesetz und zum Wegweiser für die Zukunft das Urteil. Um den Gegenstand des Prozesses richtig wahrzunehmen, muss man den gewählten Abschnitt rekonstruieren. Für die gerichtliche Entscheidung ist es unumgänglich, dass einem Einzelnen die Rolle zur Last gelegt wird, die er in einem bestimmten geschichtlichen Zusammenhang gespielt hat. Nur unter dieser Voraussetzung kann der Richter zur zuständigen Person für die Beurteilung eines politischen Konflikts werden. Befasste man ihn mit dem Konflikt in einer über die konkrete geschichtliche Konstellation hinausgreifenden Gestalt, etwa als Programm- oder Grundsatzfrage, so stände ihm ein Urteil nicht zu. Ob Demokraten oder ob Republikaner die Macht übernehmen sollen, ob der Krieg bis zum bitteren Ende fortgeführt oder ein Kompromissfrieden geschlossen werden soll: Das zu entscheiden, ist der Richter weder berufen noch qualifiziert. Der Strafrichter kann sich aber im Gegensatz zu Kollegen, die es mit anderen Zweigen des Rechts zu tun haben, auch nicht einfach in Schweigen hüllen. Er kann nicht einfach feststellen, dass eine politische Frage oder ein Staatsakt vorliege; über die besondere Natur solcher Akte lassen sich gewiss abstrakte Theorien entwickeln, aber recht eigentlich entspringen solche Begriffe doch nur empirischen Feststellungen darüber, dass eine öffentliche Erörterung der Tatsachen und dessen, was aus ihnen folgen müsste, den Wünschen der Regierenden nicht entspräche oder dass die Gerichte vor einer unlösbaren Aufgabe ständen, wollten sie Urteile gegen den Willen der Regierung vollstrecken lassen. Zum Glück für den Strafrichter und das Staatsgebilde, dem er dient, werden indes die Konfliktsituationen auf einen bescheidenen Ausschnitt reduziert und als Geschichte behandelt, bevor sie ihm unterbreitet werden. Der Ausschnitt gehört zu früheren Phasen des Konflikts, der noch anhält, so dass der Richter dessen Gegenwartselemente unberücksichtigt lassen und das ihm Vorgelegte als ein Stück Vergangenheit behandeln kann.

Da die Parteien selbstverständlich verschiedene Standpunkte vertreten, müssen für das Gericht die Rollen rekonstruiert werden, die Angeklagte oder Kläger gespielt hatten; den Aussagen von Zeugen kann entscheidende Bedeutung zukommen. Den bekannten Schwierigkeiten der Rekonstruktion im Gerichtssaal fügt der politische Prozess noch zusätzliche Komplikationen hinzu. Den Zeugen wird eingeschärft, dass sie sich beim Rekapitulieren ihrer Rolle an das zu halten haben, was ihr wirklicher Anteil am vergangenen Geschehen war. Machen sie aber an dieser Grenze halt? Sogar in einem zivilrechtlichen Streit wird das, was früher geschehen ist, von der einen Partei im Lichte ihrer Prozessbeziehungen zur anderen Partei umgedeutet. Auch dann, wenn es sich nur um frühere Beziehungen handelt, hängt die Zuverlässigkeit eines Zeugen davon ab, welches Maß an Objektivität er gegenüber Erlebnissen von früher aufbringt. Solchen Entstellungen der Aussage entgeht nur der völlig Unbeteiligte, sofern er nicht von der Vorstellung besessen ist, er müsse um jeden Preis eine eigene Verfehlung vertuschen, die mit dem Gegenstand des Verfahrens nichts zu tun hat, die aber im Prozess dennoch an die Oberfläche kommen könnte. Unbeteiligte Zeugen, die nicht selbst in diesem oder jenem Maß Partei sind, gibt es in einem politischen Prozess nur selten.111

Der Zeuge kann verschiedenerlei Bindungen und Verpflichtungen haben. Zuallererst ist er an die Rolle gebunden, die in dem zur Erörterung stehenden Geschehen ihm selbst zugefallen war. Was der Zeuge über die Handlungen, Äußerungen oder Motive des Angeklagten zu sagen hat, ist notwendigerweise durch seine eigene Stellung in dem Ereignis gefärbt, das nun der Geschichte angehört. Er kann, was die weitergespannten Ziele angeht, des Angeklagten oder Klägers politischer Gegner gewesen sein oder mit Angeklagtem oder Kläger im Wettstreit um Gefolgschaft oder Einfluss gestanden haben. Er kann dessen politischer Partner und persönlicher Freund oder Gesinnungsgenosse und persönlicher Rivale gewesen sein. Wird er jetzt aufgefordert, die Rolle des Angeklagten oder des Klägers in eine lose Folge von Handlungen, Stellungnahmen, Äußerungen, Beziehungen aufzulösen, die den nun unter die Lupe genommenen Vorgang ausgemacht hatten, so bestimmt natürlich seine eigene Rolle von damals in der Hauptsache seine Aussage von heute.

Heute sind jedoch die politische Stellung und die politischen Bindungen des Zeugen nicht notwendigerweise dieselben, die sie gestern waren; das kann zur Folge haben, dass seine Rolle oder die des Angeklagten im Lichte der neueren Bindungen eine mehr oder minder deutliche Verschiebung erfährt. Die Verschiebung kann minimal sein, wenn der Zeuge von der politischen Bühne als aktiver Kämpfer abgetreten ist. Aber dann ist es möglich, dass seine Ansichten und Perspektiven in dem Zeitpunkt, da er abtrat oder hinausgedrängt wurde, »eingefroren« sind, so dass jedes Wort, das er heute äußert, nur dem Zweck dient, seine frühere Haltung und seine Deutung des Ablaufs der Dinge »posthum« zu rechtfertigen. Spielt aber der Zeuge weiterhin auf einer Bühne mit, auf der seine Zukunft und die des Angeklagten noch unentschieden sind, so kann sein erster und einziger Gesichtspunkt Vorsicht sein. Ohne so sehr interessiert zu sein, dass ihm daran liegen müsste, die Tatsachen zu verfälschen, mag er geneigt sein, sie im Halbdunkel zu lassen; im Zwielicht sieht sich manches anders an: Tout comprendre c’est tout pardonner. Wer dagegen von der Vorstellung ausgeht, dass sein Schicksal oder das Schicksal seiner Organisation davon abhängt, wie er den umstrittenen geschichtlichen Vorgang darstellt, wird sich nicht scheuen, das Libretto umzuschreiben. Was an jeder unabgeschlossenen Situation vieldeutig und unentschieden bleibt, verschwindet dann radikal. Wer das, was geschehen ist, aus einer späteren Sicht rückblickend betrachtet, kann es so retuschieren, dass nur noch eine Deutung übrigbleibt.

Neben solchen Zeugen treten in Prozessen, in denen es nicht auf gestellte Geständnisse, sondern auf echte Beweismittel ankommt, unweigerlich auch die altvertrauten Gestalten des Spitzels und des Überläufers auf. Als Zeugen sind sie deswegen nicht ganz geheuer, weil sie zu perfekt sind. Ihre Enträtselung des Geheimnisses liefert die auf den ersten Blick plausibelste und brauchbarste Rekonstruktion dessen, was vorgefallen sein könnte. Muss aber das Einleuchtende die Wahrheit sein? Die logische Lösung braucht dem wirklichen Ablauf der Dinge nicht näher zu sein als ein Gewirr widerspruchsvoller Details, aus dem sich ein Bild nur mühselig zusammenstückeln lässt. Mit dem logisch einwandfreien Ergebnis können aufschlussreiche Zwischenstadien, die den dunklen Vorgang erst verständlich machen, verwischt werden oder ganz ausfallen, denn die logische Rekonstruktion ist nicht die Wiedererweckung dessen, was war, sondern eine Neuinszenierung nach einer erdachten Vorlage.

Was mit Hilfe von Zeugenaussagen rekonstruiert wird, kann in vieler Hinsicht Unergiebiges hervorbringen. Der Drang, auf dem Wege der Umdeutung der Vergangenheit die eigene Rolle von gestern zu rechtfertigen und auf die Realität von morgen einzuwirken, ist mitunter mächtiger als alle Wahrheitsliebe. Erinnerung und Umdeutung werden dann auswechselbare Größen. Allerdings gibt es eine Art des politischen Prozesses, auf die das weniger zutrifft. Beobachtete Bruchstücke ungeklärter Tatzusammenhänge sind nicht unbedingt der Niederschlag komplizierter Ereignisse, die nur dadurch zustande gekommen sind, dass viele Menschen auf verschiedene Weise aufeinander und auf Dritte eingewirkt haben. So manche verwickelt anmutende Situation reduziert sich bei näherem Zusehen auf einen einfachen Alltagsvorgang, mit dem jeder vertraut ist, weil er ihn selbst miterlebt oder die Geschichte im lokalen Teil der Zeitung gelesen hat. Ob die Person A die Person B gekannt, ob die Person C Geld oder Papiere in Empfang genommen oder ob die Person D die Person E mit einer Schusswaffe verwundet hat, braucht nicht zweifelhafter oder komplizierter zu sein als ein beliebiger Vorgang aus dem normalen Tagesablauf.

Wenn sich der politische Prozess in dieser Ebene des tagtäglichen Geschehens abwickeln lässt, ist die Hürde der zweifelhaften Zeugenaussagen nicht gefährlicher als im gewöhnlichen Strafverfahren: Der Doppelrolle des Zeugen, der an der geronnenen Geschichte mitgewirkt hat und die werdende Geschichte aktiv zu beeinflussen sucht, kommt in diesem Fall keine große Bedeutung zu. Freilich gehört dazu noch eine weitere Voraussetzung: Damit aus den einfachen Alltagstatsachen Schlüsse gezogen werden können, die allgemeine Anerkennung finden, muss weitgehende Übereinstimmung darüber herrschen, was diese Tatsachen besagen.

Das lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen, das vielleicht noch nicht vergessen ist. Im Spionage- und Landesverratsprozess gegen Alger Hiss, den langjährigen hohen Beamten des amerikanischen State Department, hatte der Angeklagte selbst die umstrittenen Probleme ausgeschaltet, denen bei den oben wiedergegebenen Verfahren so große Bedeutung zukam: Da Hiss seine unbedingte Staatstreue betonte und die ihm vorgeworfenen Handlungen leugnete, stand hier nicht zur Diskussion, wo staatstreues Verhalten an die Grenze des Verbotenen herankomme und welches äußerlich staatsfeindliche Verhalten gerechtfertigt werden könne und dürfe. Da 1949, als der Prozess stattfand, in den Vereinigten Staaten fast absolute Übereinstimmung darüber bestand, wie die Außenpolitik des Staates aussehen sollte, hätte Hiss schwerlich eine andere Stellung beziehen können. Damit entfiel aber auch die Frage, ob die geheimen Staatspapiere, die er dem für die Sowjetspionage tätigen Mittelsmann Chambers geliefert haben sollte, wichtig oder unwichtig gewesen seien oder ob ihre Weitergabe aus dem Gesichtswinkel einer anderen außenpolitischen Orientierung als den nationalen Interessen abträglich oder zuträglich angesehen werden könne; ebenso entfiel die Frage, ob die Befürwortung einer anderen Politik ein entschuldbares Motiv hätte sein können.112 Weil Hiss für sich unanfechtbaren Patriotismus und einwandfreies dienstliches Verhalten in Anspruch nahm, ging es im Prozess nicht darum, seine politische Einstellung zu durchleuchten oder zu interpretieren oder die edlen Motive strafbarer Handlungen herauszustellen; zu klären war nur, ob sich bestimmte Dinge ereignet oder nicht ereignet hatten. Damit glitt aber der Prozess in die Ebene der Quidproquos, Tarnungen, Tricks und Verschlüsselungen eines verwickelten Kriminalromans ab. Wenn sich aus dem Beweismaterial eindeutig feststellen ließ, dass Hiss auch nach seinem Eintritt ins Außenministerium mit dem ihm als Kommunist bekannten Chambers verkehrt hatte, und wenn ausreichende Beweise – dem Gericht lag eine problematische, aber durch recht beachtliche Indizien bekräftigte Zeugenaussage vor – dafür beigebracht werden konnten, dass Hiss dem Chambers geheime Kabel aus seinem Amt hatte zukommen lassen, war der Fall für die Gerichte damit abgeschlossen. Alles, was darüber hinausging, mochte Sache der Öffentlichkeit sein, ging aber die Gerichte nichts an.

Ist das Verfahren vor Gericht abgeschlossen, so setzt ein anderer Prozess ein: Die vor Gericht erörterten Bruchstücke von Geschehnissen und Handlungszusammenhängen verdichten sich zu einem vereinfachten Bild der politischen Wirklichkeit. Das ist ein kollektiver Prozess, der sich gleichzeitig in Millionen von Köpfen vollzieht; er ist intensiver als die eher passive Aufnahme der vorfabrizierten künstlichen Wirklichkeit, die für die Zwecke des totalitären Gerichtsverfahrens produziert wird. In den Köpfen von Millionen wird die gleichsam auf der Leinwand fixierte Episode mit der dem Angeklagten unterstellten politischen Gesinnung gleichgesetzt, derentwegen er aber keineswegs vor Gericht gestanden hatte.

Allerdings ist es nicht immer ganz so einfach, die für den Prozess herausdestillierte wirkliche oder erfundene Straftat mit den politischen Zielen in Zusammenhang zu bringen, die von ihr angeblich hatten gefördert werden sollen. Ob sich das Gleichsetzungsbild voll entfalten und dem Massenbewusstsein einprägen lässt, hängt je nach den Umständen von gesetzlichen und strafprozessualen Vorschriften ab, davon, wie die Vorschriften vom Gericht gehandhabt werden, und davon, wie sehr die Prozessbeteiligten an der eingehenden Darstellung der Zusammenhänge interessiert sind. Vor allem gibt das Interesse der Parteien im Rahmen des englischen und amerikanischen Strafprozesses den Ausschlag, wo ihnen denkbar große Freiheit in der Heranziehung oder Ausschaltung von Beweismitteln eingeräumt wird. Die Prozessparteien können sich – aus diametral entgegengesetzten Gründen – einen günstigeren Ausgang davon versprechen, dass der Umkreis der gerichtlichen Untersuchung in den engsten Grenzen gehalten wird und im Verfahren nur ein winziger Ausschnitt der Wirklichkeit zum Vorschein kommt. Nun kann das beschnittene Bild an Sinn und Bedeutung verlieren und dennoch politisch überaus wirksam sein.

Auch dafür liefert der Fall Hiss ein Beispiel. Von der Verhandlung war nur ein symbolisches Bild übriggeblieben: Der Intellektuelle als Verräter. Was aber wäre aus dem politischen Schlagereffekt dieses Bildes geworden, wenn man versucht hätte, bestimmten Dingen auf den Grund zu gehen? Hätte man nicht erfahren können, welche geistigen oder seelischen Vorgänge Hiss zu diesen oder jenen Handlungen geführt hatten? Hätte man nicht die Bedeutung der weitergegebenen Dokumente mit der Bedeutung anderer Dokumente vergleichen können, zu denen Hiss ebenfalls Zugang hatte und die nicht entwendet wurden? Hätte man nicht feststellen können, ob beziehungsweise in welchem Sinne Hiss sich je bemüht hatte, außenpolitische Entscheidungen zu beeinflussen? Nichts von alledem ist im Prozess zur Sprache gekommen. Gewiss hatte Hiss geleugnet, mit einem Dokumentendiebstahl etwas zu tun gehabt zu haben, und damit bekundet, dass ihm an der Klärung solcher Dinge nichts lag. Wesentlich aber ist, dass auch die Anklagebehörde daran kein Interesse hatte. Um das effektvolle Bild eines Verräters entstehen zu lassen, rückte sie einmal die romanhaften Erzählungen des Zeugen Chambers, zum andern den thematischen Inhalt der gestohlenen Staatspapiere in den Vordergrund. Sie hütete sich aber, nach den Motiven zu fragen, die vielleicht auf die Gedanken und Überlegungen des Angeklagten ein Licht geworfen hätten; der Versuch, das Bild klarer und plastischer hervortreten zu lassen, hätte zu Korrekturen und Vorbehalten Anlass geben können, womit sich die politische Wirkung des Prozesses verringert hätte.

Auch der umgekehrte Fall kann eintreten: Der politische Effekt des erzeugten Bildes kann sich erhöhen, wenn nicht Bruchstücke der umstrittenen Geschehnisse, sondern diese Geschehnisse als Ganzes rekapituliert werden. Als der einstige Sowjetbeamte Viktor Kravčenko, Verfasser von I Chose Freedom, die unter kommunistischer Regie herausgegebene Zeitschrift Lettres Françaises wegen übler Nachrede verklagte, erschöpfte sich die Beweisaufnahme nicht in der Erörterung des Lebenslaufs des Klägers, seines Charakters und seiner intellektuellen Qualitäten. Da Kravčenko in seinem Buch auch die gesamte wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation in Russland geschildert hatte, ließ sich seine Wahrheitsliebe nicht nur an Hand seiner Lebensgeschichte, sondern auch an Hand der Aussagen des Buches über Probleme allgemeinerer Natur kontrollieren. Unter diesem Aspekt machte das Tribunal des Seine-Departements von dem größeren Beweiserhebungsspielraum nach der Verordnung von 1944 Gebrauch und verwarf die Anträge der Verteidigung, die das Beweisthema auf Kravčenkos Charakter, Familienleben, Partei- und Regierungstätigkeit und die heftig umstrittenen Versionen seines Ausscheidens aus der Washingtoner Sowjetvertretung hatte beschränken wollen.

Wenn die Bekundungen der vielen Zeugen, die über manches aus eigener Anschauung berichteten, als Bestätigung eines wesentlichen Teils der Darstellung Kravčenkos aufgefasst werden konnten, so ließ sich sein Bericht nicht als unwahr abtun, auch wenn er, wie es im Urteil hieß, »viele evolutionäre Aspekte außer acht gelassen« haben sollte.113 Die Zustände in der Sowjetunion, wie sie die Zeugen zeichneten, glichen dem von Kravčenko entworfenen Bild in so vielem, dass das Gericht dies Bild nicht als »völlig irrig und übertrieben« ansehen konnte. Es fand infolgedessen, obgleich die Verhandlung einige durchaus nicht bewundernswerte Züge in Kravčenkos Charakterbild enthüllt hatte, dass er nicht hätte als Lügner bezeichnet werden dürfen. Damit, dass das Gericht Beweismaterial zugelassen hatte, das sich nicht auf Kravčenkos Persönlichkeit und die Entstehungsgeschichte seiner Schriften beschränkte, hatte es eine ausführliche Erörterung der Sowjetgesellschaft mit all ihren Widersprüchen ermöglicht. Damit wurde aber der Prozess zu einem überaus wirkungsvollen Mittel politischer Beeinflussung weiter Bevölkerungskreise: Statt des gewöhnten Galabildes des im Kriege bewährten Bundesgenossen wurde dem Publikum die Schilderung des Werktags der Sowjetunion mit all seinen Schattenseiten geboten.

Da das Funktionieren der Justiz, wie sie sich die westliche Gesellschaft wünscht, seine Eigengesetzlichkeit hat, werden Prozess und Urteil zusammen bisweilen zu einem bloßen Nachtragskommentar zu den Ereignissen, zur Fußnote zur Geschichte. Dann wird im Gerichtsverfahren ein Vorgehen für rechtmäßig oder rechtswidrig erklärt, dessen politische Wirkung zu einem viel früheren Zeitpunkt hatte eintreten sollen und sich mittlerweile längst erledigt hatte. So war es im Fall Caillaux: Prozess und Urteil zwei Jahre nach einem Eröffnungsbeschluss, wie ihn Frankreich bis dahin noch nie erlebt hatte, zwei Jahre nach der aufsehenerregenden Verhaftung des prominenten Politikers; schon damals aber hatten die Eröffnung des Verfahrens und die Festnahme des Angeklagten den von Clemenceau und Poincaré vorausberechneten und gewünschten politischen Effekt erzielt. Was im Fall Caillaux einen gewaltigen Aufwand an politischen und juristischen Anstrengungen erforderte, kann in einer anderen Situation und in einer unteren Ebene das Produkt normaler Alltagsroutine sein. Eine ad hoc getroffene Ermessungsentscheidung der Verwaltung kann das Verbot einer Kundgebung oder die Auflösung einer Versammlung veranlassen. Dass diese Verwaltungsmaßnahme ein Jahr später von einem Verwaltungsgericht oder in einem peripheren Strafverfahren für gültig oder ungültig erklärt wird, kann eine gewisse Sensation auslösen oder den Gegenstand einer Anfrage im Parlament oder einer Zeitungspolemik bilden; die Wirkung braucht in keinem Verhältnis zu den unmittelbaren Folgen zu stehen, die die Maßnahme selbst seinerzeit mit sich gebracht hatte. In solchen Fällen hinkt das Gericht den Ereignissen hinterher. Der Zeitabstand zwischen dem Vorgang und seiner gerichtlichen Überprüfung trägt dazu bei, dass das Gericht in seinen Entscheidungen relativ frei ist, dass diesen Entscheidungen aber nur beschränkte Wirkung zukommt; das Gericht begutachtet eigentlich nur die grundsätzliche Legitimierbarkeit der Verwaltungsmaßregel.

Dass das Gericht als spanische Wand benutzt wird, hinter der man ein wohlüberlegtes Schema des Nichthandelns den Blicken der Allgemeinheit entzieht, ist nicht ungewöhnlich. Es kommt alle Tage vor, dass über Lebenslauf, Charakter, Methoden oder Ziele einer lebenden Person oder einer bestehenden Organisation in Wort oder Schrift mehr oder minder verschleierte Behauptungen diffamierender Art aufgestellt werden. Häufig wird darauf eine Beleidigungsklage angekündigt, gelegentlich auch eine einstweilige Verfügung gegen die Wiederholung der ehrenrührigen Behauptungen erwirkt; beides kann mit der größten Publizität ausgestattet werden. Häufig ist indes das, was über die als Zielscheibe ausersehene Person oder Gruppe gesagt worden ist, entweder aus mangelnder Überlegung oder aus wohlüberlegter Absicht ein schwer zu entwirrendes Gemisch von Wahrem und Unwahrem. Wenige im öffentlichen Leben tätige Menschen sind, zumal wenn ihre Position einigermaßen gut etabliert ist, geneigt, Zeit, Geld und Energie für eine Beleidigungsklage zu opfern. Es kann ihnen erst recht nicht erwünscht sein, dass zahlreiche Anwälte, frühere und gegenwärtige Gegner und persönliche Feinde (denen es in hohem Maße willkommen sein mag, ihre Animosität vor Gericht zu äußern) die Gelegenheit bekommen, in ihren persönlichen, geschäftlichen oder politischen Angelegenheiten herumzustochern.114 Nur politische Einzelgänger, berufsmäßige Hetzer und erfolglose Anwärter auf gesellschaftlichen Erfolg, die wenig zu verlieren und alles zu gewinnen haben, nutzen begierig solche Aussichten aus, sich auf diese Weise billige Publizität – wenn nicht mehr – zu verschaffen.

Der Politiker, der eine Position zu verlieren hat, lässt Vorsicht walten. Außer wenn die Behauptungen eindeutig unsinnig sind und kein anderes Beweisthema zugelassen zu werden braucht, wird er versuchen, die Angelegenheit durch Vergleich mit der bestmöglichen Ehrenerklärung, die er seinem Angreifer abringen kann, beizulegen und die mit Publizitätsfanfaren angestrengte Klage baldigst und, wenn es geht, lautlos zurückzuziehen. Die sofortige Ankündigung der Klage zeigt seine Unerschrockenheit in dem Augenblick, da man gespannt darauf wartet, wie er reagieren werde, und das kann genügen. Die Ankündigung ist auf dieselbe öffentliche Wirkung berechnet wie die Klage und kann diese Wirkung oft erzielen: Der symbolische Wert des mutigen Appells an die Gerichte darf dann die wirkliche Schlacht im Gerichtssaal ersetzen.

Ein solches Vorgehen kann sich der diffamierte Politiker jedoch nicht immer leisten – oder er glaubt nicht daran, dass er es darauf ankommen lassen könnte. So war Ebert – davon war bereits die Rede – der Meinung, dass er es seinem Amt und seinem Ruf schuldig sei, auf einem Gerichtsverfahren zu bestehen. Ähnlich war es mit Harold Laski. Eine Zeitung hatte in einem Wahlversammlungsbericht geschrieben, Laski habe den Weg der Revolution befürwortet, wenn es der Arbeiterpartei nicht gelänge, ihre Ziele mit Zustimmung der Mehrheit zu verwirklichen. Laski klagte. Später hat Sir Patrick Hastings, der Anwalt der beklagten Zeitung, gesagt, ihm sei nie aufgegangen, warum Laski seine Klage nicht nach dem Wahlkampf von 1945 zurückgezogen habe; das Wahlergebnis zeigte deutlich, dass es den Konservativen auch mit Hilfe der Affäre nicht gelungen war, wesentliche Wahlerfolge zu erringen.115 Auch hier hätte es genügen können, das Symbolische der eingereichten Klage an die Stelle der Durchführung des Verfahrens treten zu lassen. Aber wahrscheinlich hielt es Laski für seine Pflicht gegenüber der Arbeiterpartei, auch nicht den geringsten Zweifel an seinem Bekenntnis zu den Grundregeln der Demokratie bestehen zu lassen. Die Zweifel der Geschworenen vermochte er nicht zu zerstreuen: Sie erklärten den Newark Advertiser, den Laski verklagt hatte, für nicht schuldig.

Dass Laskis Schlappe nicht dieselbe Lawine auslöste wie zwei Jahrzehnte früher Eberts Niederlage in Magdeburg, erklärt sich aus den andersgearteten politischen Zuständen und Traditionen. Es ist zwar denkbar, dass der Ausgang des Prozesses für Laski persönlich ein schwerer Schock war; aber an seiner Möglichkeit, in einem gewissen (auch vorher schon nicht weitgesteckten) Rahmen für die Arbeiterpartei nutzbringend und erfolgreich zu wirken, hatte sich nichts geändert. Wenn Laski als Schreckgespenst der Revolution die Wähler trotz konservativer Propaganda nicht davon hatte abhalten können, für die Arbeiterpartei zu stimmen, so half es auch nicht, dass ein Geschworenenspruch zusätzlich bestätigte, Laski habe sich bedingt für eine revolutionäre Politik ausgesprochen. Dass es zu einer solchen Politik schwerlich kommen könne, bewies vermutlich tagaus, tagein das Labour-Kabinett Attlee in seiner Regierungspraxis.

Ob ein politischer Prozess unter rechtsstaatlichen Voraussetzungen denen, die ihn gewollt haben, politische Gewinne oder Rückschläge bringen muss, ist ebenso unsicher wie Sieg oder Niederlage bei Wahlen. Man kann ein Gerichtsverfahren als Teilaktion im Rahmen eines politischen Feldzugs planen. Als Musterbeispiel einer solchen Parallelschaltung von Justiz und Politik ist oben der Fall Powers angeführt worden. Dass der Angeklagte Powers mit der Republikanischen Partei gleichgesetzt wurde, machte das Gerichtsurteil zu einem Element des Wahlkampfs; Strafverfahren und politischer Kampf ergänzten einander: Prozess und Urteil sollten das gewünschte politische Resultat erbringen, und das politische Resultat, die Wahl eines demokratischen Gouverneurs, sollte die Verwirklichung des gerichtlichen Ergebnisses, die Vollstreckung des Urteils, verbürgen. Demselben Fall Powers ist aber zu entnehmen, dass die Parallelschaltung von Justiz und Politik nur dann Früchte trägt, wenn der Prozess als Ganzes glaubwürdig ist. Der Koordinierung von strafrechtlichem und politischem Vorgehen sind ziemlich feste Grenzen gezogen.

Wiederholt haben kommunistische Kritiker behauptet, dass dieser Parallelschaltung auch in rechtsstaatlichen Ordnungen große Bedeutung zukomme. Außenpolitische Ereignisse – der Krieg in Korea, die Niederlage in Indochina – können ebenso wie innenpolitische Schwierigkeiten des Regimes dazu führen, dass politisch motivierte Strafverfahren eingeleitet werden.116 Da sie von der Praxis ihrer eigenen Partei auf die Praxis anderer schließen, vergessen die kommunistischen Autoren indes nur zu gern, dass Regierungen im rechtsstaatlichen Raum bei der Einleitung von Strafverfahren Beschränkungen unterworfen sind, die unter einem totalitären Regime nicht unbedingt immer gelten. Gewiss legen grundlegende politische Entscheidungen auch verfassungsmäßiger Regierungen zum Teil die Voraussetzungen fest, unter denen die Äußerung und die Propagierung von Meinungen strafrechtlich verfolgt werden können; aber die Entwendung geheimer Dokumente oder die aus politischen Gründen begangene Mordtat muss erst stattgefunden haben, ehe sie ihren Weg durch die Gerichte antritt. Polizeiapparate in der ganzen Welt mögen erfinderisch sein und sich einer »Tue-es-selbst«-Gebrauchsanweisung bedienen, sofern ihnen die Gegner nicht entgegenkommenderweise Vorwände zum Einschreiten liefern.117 Doch kann diese Technik dort nur geringen Nutzen stiften, wo es zuallererst darauf ankommt, dass ein Fall mit Erfolg durch ein Gerichtsverfahren gesteuert werden kann, in dem Zeugenaussagen und sonstige Beweismittel in voller Freiheit geprüft werden dürfen. Unter solchen Umständen verheißt die Parallelschaltung von Justiz und Politik möglicherweise größere Dividenden, als aus der verfügbaren Gewinnmasse ausgeschüttet werden kann.

Wollen die Urheber eines politischen Prozesses die Rechtsform für Zwecke benutzen, die über die Schikanierung oder Ausschaltung eines politischen Gegners hinausgehen, wagen sie sich auf das Gebiet der Schaffung oder Zerstörung von Vorstellungen und Symbolbildern vor, so müssen sie mit Unsicherem und Ungewissem rechnen. Das gewählte Medium des Rechtsverfahrens erweist sich für solche Zwecke als launisch und unberechenbar, weil man hier auf Zeugen bauen muss, die möglicherweise in einer besonderen, eigenen politischen Welt leben, und weil man auch auf Widersacher stoßen kann, denen es womöglich gelingt, Richter oder Geschworene für ihre Interpretation zu gewinnen. Je enger das Beweisthema eingegrenzt wird, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass die Operation gelingt, aber umso geringer die Aussicht, dass dabei mehr herausspringt als die Erledigung politischer Augenblickserfordernisse vergänglicher Art. Auf längere Sicht dürfte der Propagandazwecken dienende Prozess nur paradoxe Wirkungen erzielen. Die inszenierte Sittenparabel wird, nachdem sie den politischen Bedürfnissen des Tages Genüge getan hat, hauptsächlich als Dokument der geistigen Verfassung ihrer Urheber fortleben, und es kann passieren, dass die Nachwelt darin eine viel ärgere Trübung und viel größere Störungen entdecken wird als in der geistigen Verfassung der wehrlos gemachten Opfer.

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