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Suite 103

Nach der Lagebesprechung fuhren Fett und Schmelzer zum Seniorenluxusstift am Ortsrand von Gürzenich bei Düren, Südlage, Golfplatz in der Nähe. Sie trafen auf Helene Schulz-Weißenbach, die stellvertretende Leiterin des Domizils, wie sie mehrfach betonte. Ein Domizil für ältere Gäste. Der Leiter, Fred Strack-Zimmermann, komme erst in drei Wochen. Er sei auf Mallorca, wandern und so, Flucht vor der Annakirmes. Helene Schulz-Weißenbach führte Fett und Schmelzer durch das Domizil. Ja, Herr Rütters sei ein besonderer Mensch gewesen, sagte sie ohne erkennbare Regung. Der Tod sei hier ja quasi stets zu Gast und am Tisch. Sie versuchte, mit einer Portion Halbphilosophie das Domizil zu verklären, und kam dann zum An- und Abwesenheitsbuch. Herr Rütters habe am Freitag gegen 19.00 Uhr ausgecheckt. Er wollte zur Annakirmes, zu Tochter und Schwiegersohn. Alles wie in jedem Jahr. Nichts Ungewöhnliches. Er war sehr gut beisammen. Rüstig, durchtrainiert, ein Langstreckenwanderer. Da sei Strack-Zimmermann nicht mitgekommen, wenn sie das so sagen dürfe. Das Zimmer, ja dort, die Suite 103, geräumig, mit Blick auf die Eifel. Natürlich bleibt sie verschlossen. Wann wird sie wohl wieder vermietet werden können? Sie wissen, das Budget, die Kosten und so.

Helene Schulz-Weißenbach säuselte zu den beiden Kommissaren: »Bitte, sprechen Sie doch sehr sanft mit unseren Gästen. Sie sind leicht erregbar, ach, was sage ich, erschütterbar. Wir sind eine geborgene Gemeinschaft, da schafft so ein Verbrechen Unruhe und Aufregung. Wir brauchen doch alle unsere Mitte, unser Vertrauen, unseren inneren Klang, nicht wahr, Herr Kommissar.«

»Danke, wir schicken heute noch die Kriminaltechnik. Bestimmt in 14 Tagen, da kann wieder jemand ins Domizil.« Fett war kurz angebunden. Nun sagte er auch schon Domizil, bemerkte er selbstironisch. »Danke, und es kann sein, dass wir uns wieder melden. Wir werden Ihre Ruhe nicht unnötig stören. Es sei denn, einem Ihrer Bewohner fällt noch etwas Wichtiges ein.«

Nachmittags war die Kriminaltechnik bereits in der Suite. Sie stellten alles auf den Kopf, fanden aber nichts von Bedeutung. Gar nichts. Auch das war merkwürdig. Keine Erinnerungsstücke, Fotoalben. Viele Wanderbücher, Karten und Bücher über die Region. Alle Kreisjahrbücher seit 1960. Kaum Medikamente. Kein Hinweis, der sie weiterbrachte. Als ob Alexander Rütters geschichtslos dort gelebt hätte.

Die Tochter

»Guten Tag, Frau Hoven. Wir haben da noch einige Fragen, auch wenn es bestimmt sehr schwer für Sie ist.« Fett hatte in Merzenich bei Rütters Tochter geklingelt, und Anne Hoven hatte mit Ringen unter den Augen die Tür geöffnet. Sie sagte nichts und ging langsam voraus zum Wohnzimmer des Bungalows aus den 80er-Jahren. Samstagnachmittag in der Siedlung am Rande des Dorfes, relativ neue Bauten, Mittelklassewagen, ab und an Oberklasse. Hier wohnt man preiswerter als in Köln oder Frechen, die Autobahn ist nahe, die Eisenbahn auch. Und doch ein Dorf. Einige Autos wurden gewaschen, auch wenn dieser samstägliche Nationalsport langsam ausstarb.

Peter Hoven kam aus dem Keller hoch, begrüßte mit einem stummen Nicken Fett und Schmelzer und bot Kaffee und Wasser an.

»Nein danke. Wir möchten nicht lange stören. Aber bitte, jetzt kann jeder Hinweis sehr wertvoll sein. Ist Ihnen etwas aufgefallen an Alexander Rütters, wurde er bedroht, gab es etwas Besonderes in letzter Zeit?« Fett blickte beide interessiert an.

Anne Hoven schaute zu ihrem Mann und beide antworteten fast zeitgleich: »Nein, nichts.«

»Wer tut so etwas, Herr Kommissar?« Anne Hoven erwartete wohl kaum eine Antwort, und Fett konnte auch keine geben.

»Frau Hoven, Herr Hoven, wir stehen am Beginn der Ermittlungen. Wir haben alles abgesucht, die Kameras auf der Annakirmes werden noch ausgewertet, wir sind am Anfang. Sagt Ihnen vielleicht das Wort Rurschatten etwas?«

Fett und Schmelzer schauten prüfend in die Gesichter. »Nein, nichts.« Wieder kam aus beiden Mündern zeitgleich die Antwort. Komischer Ehepaartick, dachte der Junggeselle Fett.

»Gab es irgendwas in der Vergangenheit Ihres Vaters, was wir wissen sollten?« Fett musterte Frau Hoven.

»Er war der beste Vater der Welt. Auch noch, als meine Mutter gestorben ist. Ich konnte immer auf ihn zählen.«

»Frau Hoven, gab es etwas in der Vergangenheit, als Sie noch nicht geboren waren? Hat Ihr Vater aus seiner Vergangenheit oder von Problemen im Betrieb oder mit Konkurrenten berichtet?«

»Mein Schwiegervater hat fast nie von der Vergangenheit erzählt. Er war froh, dass wir in Friedenszeiten leben, und wollte nicht an die Schrecken des Krieges und der Nazizeit erinnert werden.« Peter Hoven hatte konzentriert gesprochen. »So war es doch, nicht wahr, Anne?«

»Ja, Peter. So war es. Er war glücklich mit uns. Und auf die Annakirmes freute er sich wie ein kleines Kind. Nein, es gibt da keine Schatten. Fassen Sie den Mörder, bitte, Herr Kommissar. Entschuldigen Sie mich.« Hastig ging sie in den hinteren Teil des Bungalows.

»Das war es auch schon. Wenn Ihnen irgendetwas einfällt oder Ihrer Frau. Bitte nicht zögern. Rufen Sie uns an. Mich oder Herrn Schmelzer. Wir werden jede Spur verfolgen. Danke, Herr Hoven.«

»Ja, Herr Kommissar. Wir zählen auf Sie.«

Fett und Schmelzer standen auf und waren fünf Minuten nach Betreten des Hauses wieder im Freien.

»Mager«, stellte Schmelzer fest.

Fett nickte: »Komisch, alles schön, alles gut, nur ist der Herr Papa leider trotzdem ermordet worden.«

Höfe und Friedhöfe

Fett kam nicht voran. Die Spurenauswertung, Obduktion, Befragung von Fahrgästen, Geisterbahnpersonal, Mitbewohner im Domizil – alle Untersuchungen verliefen im Sand. Die Mordwaffe blieb verschwunden.

Am Tag der Beerdigung von Alexander Rütters, wieder ein Freitag, 15. August, war halb Düren auf den Beinen. Fett stand auf dem Hauptfriedhof hinter einem der Gräber der Großindustriellen. Auch die Familie Rütters besaß ein Familiengrab. Seit Generationen lagen die Vorfahren des Ermordeten dort. Papiermagnaten. Papiermillionäre. Warum stehe ich hier?, dachte Fett. Die Trauer der Angehörigen ist echt. Die Worte der Honoratioren falsch. Alles Käse. Wir haben nichts. Die Geisterbahn ist auf den Kopf gestellt worden. Null. Niente. Nothing. Rurschatten. Wer hat dem Alten die SMS geschickt, warum ist er los zur Geisterbahn, was war im Vorfeld passiert? Eine Vorgeschichte gab es, da war sich Fett sicher.

War Rütters vielleicht in einer Verbindung, Freimaurer oder so was. Fett dachte nach. Dann ging er am Beerdigungscafé »Don Camillo« vorbei zu seinem Wagen.

Hatte Rütters im Altenheim Feinde? Gab es Feinde nach dem Verkauf der Papierfabrik? – Seine Kinder waren während des Mordes in der Kirmes-Kneipe geblieben, dafür gab es Zeugen.

Im Büro unterrichtete Fett den Kollegen Schmelzer. Der süppelte seinen Kaffee und wirkte müde. Er dachte sich sein Teil. Ein alter Toter. Der wäre eh bald gestorben. Warum so viel Aufwand. Rechtsstaat. Die Staatsanwaltschaft ruft an, der Polizeipräsident und was weiß ich wer noch. Schatten über der Annakirmes. Auch da Schatten.

Rurschatten

Fast drei Wochen waren seit dem Mord vergangen. Fett stand mit leeren Händen da. Im Seniorenstift hatte es mal Krach im Bingoklub gegeben, aber Bingostreit als Mordmotiv? Ein Täter aus dieser Ecke kam nicht in Betracht, nicht bei dieser Form des Mordes. Die ehemaligen leitenden Angestellten der Papierfabrik waren gut abgefunden worden, keiner ins Bodenlose gefallen. Auch da kein Motiv. Rütters schien keine Feinde zu haben. War es eine Verwechslung? Ausgeschlossen. Alexander Rütters war gezielt in die Geisterbahn gelockt worden. Jemand hatte ihn dort erwartet. Im Wagen hinter ihm hatte ein Liebespaar gesessen, der Wagen vor ihm war leer. Also galt der Schuss mit dem Colt ihm. Ein stummes Paff, kein Lärm, die Waffe war fast aufgesetzt worden. Man könnte beinahe von einer Hinrichtung in der Geisterbahn sprechen. Fett war die Tour gefahren. Am Sonntag, dem letzten Tag der Annakirmes. Die kreischenden Zombies und Vampire hatten ihn tatsächlich erschreckt. An der Stelle, wo sich der Mörder positioniert haben musste, stand Schmelzer mit seiner ungeladenen Waffe. Paff. Ein Schuss, dann bog der Wagen um die Ecke und passierte noch einige Gespenster, ehe er ans Tageslicht kam. Das muss ein Profi gewesen sein, das schafft ein Rentner aus Sankt Irmgardis nicht. Wer war sich so sicher gewesen, dass der alte Mann einsteigen würde?

So ergebnislos wie die Ortsbesichtigung blieb Schmelzers Suche nach dem »Rurschatten«. Fett und Schmelzer saßen im Aachener Polizeipräsidium und kamen nicht voran.

Fett, der Junggeselle, addierte einen weiteren ungelösten Fall zu seiner Liste. Schmelzer, frisch verheiratet, kämpfte mit der Ratenzahlung für die Darlehen und mit den Handwerkern. Und dazwischen der Alte aus Düren. So ein Mist. Die Lokalmedien hatten zehn Tage wild spekuliert. Das alles war nicht gut: nicht für das Image der Annakirmes. Und nicht für das Image der Polizei.

Fett fährt

Fett fuhr nach Düren. Dort war er aufgewachsen und zur Schule gegangen. Aus seiner Schulzeit kannte er noch einige, die mit ihm dort in den 70er-Jahren Abitur gemacht hatten. Sie gehörten nun zum Dürener Establishment. Vielleicht könnte ihm jemand helfen. Er musste neue Wege gehen. Wo war die Papierfabrik von Rütters? Er parkte am Dürener Bahnhof, lieh dort ein Fahrrad aus und fuhr die Rur entlang. Die Fabrik, die Rur, Schatten – die Begriffe tanzten in seinem Kopf. Die langsame Fahrt durch die Stadt und dann in Richtung Rur verschaffte ihm Luft und ließ ihn die Stadt etwas mehr spüren. Er sammelte die Eindrücke, die er später zu einem Mosaik zusammenfügen wollte. So ging er immer vor. Klar, manche Mosaiksteine musste er wegwerfen, manches Vorurteil beiseiteschieben.

An der Johannisbrücke bog er auf den linksseitigen Rurradweg flussaufwärts, dann ging es in Richtung Lendersdorf. Da standen die Papierfabriken. Direkt hinter dem Annakirmesgelände fing die Industriezone an. Sie erinnerte an bessere Zeiten. Düren war einst reich. Sehr reich. Dank des Papiers. Dank des milden Wassers der Rur. Schließlich erreichte er das Gelände der ehemaligen Fabrik Rütters. Hinter der alten Mauer standen moderne Hallen, kaum Arbeiter, alles automatisiert. Fett wusste nicht genau, warum er hier eigentlich radelte. Er kehrte um und fuhr zurück in Richtung Haltestelle Annakirmesplatz der Rurtalbahn. Er kam an Bauschutt und abgestorbenen Bäumen vorbei, eine Fußgängerbrücke führte auf die andere Rurseite, am Wegesrand stand ein zugewachsenes Metallkreuz. Er bemerkte einen leicht verwelkten Blumenstrauß davor.

Kriegswichtig

Schmelzer recherchierte unterdessen und trug Material über Alexander Rütters zusammen.

Rütters hatte in Düren das Abitur gemacht, war 1938 gemustert worden, hatte dann die Freistellung erhalten, um in der Papierfabrik seines Vaters Oskar mitzuarbeiten. Der war wohl nicht linientreu genug gewesen, war nicht Parteimitglied, wurde irgendwann 1941/42 aus der Leitung der Fabrik entfernt und blieb danach fast nur noch in seinem Wohnhaus in der Goethestraße, wo er 1944 beim Bombenangriff mit seiner Ehefrau starb.

Die Rütters Papier AG lieferte ihr feines Büttenpapier an die Reichskanzlei. Auch Göring und Goebbels bezogen die edle Ware. Sie wurde gebraucht für Urkunden und Auszeichnungen, die man bei den Nazis reichlich verteilte. Seit 1939 wurde vom Eisernen Kreuz II aufwärts jede Urkunde auf Rütterspapier gedruckt: Führerstandard. Selbst nach dem Bombenhagel am 16.11.1944, der Düren ausradierte, konnte Rütters nach 14 Tagen wieder liefern. Die Nachfrage nach Urkunden und Auszeichnungen blieb unersättlich. Orden statt Brot. Dann das Ende. Rütters stellte den Betrieb auf Nachkriegsbedarf um; er produzierte Packpapier, Kartonagen und Klopapier. Die Alliierten kauften bei dem jungen Unternehmer das Toilettenpapier für die Besatzungstruppen. Qualität und Preis stimmten. Geliefert wurde an die Engländer nach Mönchengladbach und an die Belgier vor Ort. Der Betrieb lief wieder. Tochter Anne zeigte kein Interesse an der Fabrik. Sie wurde lieber Lehrerin. Deshalb entschied Rütters sich für den Verkauf. Schluss mit Rütterspapier aus Düren.

Fett kramte unterdessen in den Unterlagen, die Schmelzer zusammengetragen hatte, und fand die Adresse einer Haushälterin, die dem Alten einige Jahre im Haushalt geholfen hatte, bevor er im Jahr 2000 ins Altenheim umsiedelte. Marie Utzerath. Ob sie wohl noch lebt, überlegte er. Eine Haushälterin bekommt viel mit. Vielleicht kann sie weiterhelfen.

Ein feiner Herr

Marie Utzerath lebte tatsächlich noch in Düren, Dr.-Overhues-Allee, direkt an der Rur. Über das Melderegister gelangte Fett an ihre Adresse. Als Fett den Besuch ankündigte, da klang sie so, als ob sie es erwartet hätte. Eine interessante Stimme, dachte Fett. Er fuhr an einem Augustmorgen wieder nach Düren, wieder an die Rur und stand vor einem stattlichen Haus. Marie Utzerath öffnete ihm, bevor er die Eingangstüre erreichte.

»Was für ein Schicksal!«, seufzte sie dem Kommissar entgegen.

Marie Utzerath, 67, hatte Alexander Rütters das Haus von 1985 bis 2000 besorgt. Ihre Schönheit zu dieser Zeit konnte sich Fett lebhaft vorstellen. Sie hatte sprechende Augen, bewegte sich sehr dynamisch und schien bestens in Form zu sein. Jahrgang 1941, sie war 21 Jahre jünger als Rütters und hatte im Alter von 44 die Stellung angenommen. 15 schöne Jahre seien es gewesen. Er habe sie stets sehr gut behandelt. Sie beschrieb ihn als humorvollen Mann:

»Wir haben viel gelacht.«

Rütters habe es ihr ermöglicht, ein Studium aufzunehmen. Sie sei nach Aachen gefahren und habe Geschichte und Politik gehört. Dass er ihr diese Chance gab, werde sie ihm nie vergessen.

»Sehen Sie, Herr Fett, das Leben besteht doch aus mehr als nur Hauswirtschaft, Empfängen, Martinsessen, nicht wahr. Wo kommen wir her, wo gehen wir hin, was für einen Sinn macht das, was wir gerade tun? Das sind ewige Fragestellungen. Mich trieb das immer um, während ich daneben kochte, putzte, Einkäufe besorgte und Kulturveranstaltungen aus dem Tageskalender heraussuchte.«

Manchmal habe Rütters sie eingeladen. Ja, auch zur Annakirmes. Riesenrad seien sie gefahren auf der Annakirmes. Und ein Weinchen bei der »Schwarzwald-Christel«. Feinde? Nein, Herr Rütters doch nicht. Ein sehr feiner Herr. Drohungen? Ach, was. Sie habe ihn oft besucht im Seniorenstift, und dann wurde von früher erzählt. Am letzten Samstag, vor Beginn der Annakirmes, da sei sie noch bei ihm gewesen:

»Da war er sehr aufgekratzt.«

»Hat er nie von Problemen, Drohungen, Konkurrenten oder vom Krieg erzählt?«

»Vom Krieg, nein. Alles sehr dunkel. Und mit Konkurrenten ist Herr Rütters souverän umgegangen. Drohungen hat er meines Wissens nie bekommen. Warum auch. Er war ein angesehenes Mitglied der Dürener Stadtgesellschaft.«

Er sei gerne gewandert. In der Eifel. Mariawald, Rursee, Vossenack. Als Vogelsang 2006 endlich, endlich geöffnet wurde, sei er sofort losgewandert – durch den ganzen Nationalpark. Dort habe er Ruhe gesucht, auch in der Jagdhütte seines Vaters bei Einruhr, am Rand des Sperrgebiets. Die Rur sei unsere Lebensader, das habe er immer wieder gesagt. Ohne die Rur, da wär hier nichts. Nichts. Nichts.

»Noch ein Kaffee, Herr Kommissar?«

»Nein danke und entschuldigen Sie bitte, Frau Utzerath, Sie wohnen hier in einem prachtvollen Haus in bester Lage.«

»Ich weiß schon, was Sie meinen, Herr Kommissar. Das ist das Haus von Alexander Rütters. Die Tochter wollte es nicht übernehmen, und Rütters bat mich, hier wohnen zu bleiben. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass hier fremde Leute einziehen. Das Haus kaufte er wohl in der Kriegszeit oder kurz danach. Seine Eltern lebten ja in der Innenstadt, wo sie später beim Bombenangriff umkamen. So bin ich hier geblieben und hole, also ich holte ihn oft ab, und wir tranken hier zusammen einen Kaffee.«

Nein, sie selbst sei nicht verheiratet gewesen. Ein Drang nach Unabhängigkeit sei ihr eigen. Das sei ihr Problem gewesen, wenn er denn verstehe, der Herr Fett.

»Jaja«, murmelte Fett und verstand doch nicht so ganz. Ob denn Herr Rütters nach dem Tod der Ehefrau nicht noch mal sein Glück versucht habe.

»Wer, Herr Rütters? I wo. Nein.«

Er sei nach dem Tod der Frau sehr traurig gewesen und habe so, na, wie sagt man – platonisch, ja, genau, platonisch, gelebt. Sie müsse nun zum Tennis, ob er denn noch Fragen habe.

»Wir müssen das jeden fragen, Frau Utzerath. Wo waren Sie am Freitagabend, als der Mord passierte?«

»Mit meinen Freundinnen aus dem Tennisklub haben wir im Klubhaus einen Damenabend gefeiert. Es war sehr kurzweilig. Das dauerte etwa bis Mitternacht.«

»Eine letzte Frage. Rurschatten, sagt Ihnen das Wort etwas?«

Marie Utzerath hielt einen Moment inne.

»Nein. Nie gehört. Was soll das sein?«

»Nichts. Nur so ein Wort. Danke. Melde mich nochmals. Und viel Erfolg beim Aufschlag. Sie sehen sehr gut aus.« Da wurde Marie Utzerath rot. Michael Fett biss sich auf die Zunge. Er war überrascht. Über sich selbst.

Tennis – eigentlich kein Sport für eine Hausbesorgerin, arbeitete es nach im Gehirn von Fett. Obwohl – vom Aussehen her, da passt es. Alle können Tennis, nur ich wieder nicht. Fett erinnerte sich an sein Versagen im Sportunterricht. Wen man beim Tennis alles treffen kann, könnte, hätte treffen können. Fett konjugierte es durch. Sein Blick fiel auf die Bücherwand: Simmel, Böll, Grass, Lenz, dazwischen eine Goethe-Ausgabe, Hemingway, Faulkner, am Ende einige Franzosen. So viel konnte er an den Schutzumschlägen erkennen. Und Kataloge von Ausstellungen des Leopold-Hoesch-Museums. Ungewöhnlich für eine Hausverwalterin, dachte Fett. Oder von Rütters übrig geblieben. Nun, sie hat sich wohl selbst weiter gebildet. Warum sonst das Seniorenstudium. Marie Utzerath – Fetts Gedanken gingen in viele Richtungen. Diese Frau war für ihn nicht so einfach fassbar. Die Art, wie sie sich bewegte, die Freundlichkeit, die Ausstrahlung – faszinierend und geheimnisvoll. Er kehrte zurück von seinem gedanklichen Ausflug.

»Eine allerletzte Frage, Frau Utzerath. Verzeihen Sie, haben Sie Kinder?«

»Herr Kommissar«, ihr Ton bekam eine andere Färbung, härter und kälter, »mein Sohn Robert ist 1965 im Alter von fünf Jahren tödlich verunglückt. Das ist die Tragik meines Lebens. Er wuchs ohne Vater auf. Mehr werden Sie darüber nicht von mir hören. Guten Tag.«

»Entschuldigung, Frau Utzerath. Das tut mir sehr leid. Guten Tag«, sagte Fett relativ leise und mit gesenktem Kopf. Er ging nachdenklich davon.

Ölig, etwas ölig

»Schmelzer, neu denken.«

»Was?«

»Neu denken.«

Fett buchstabierte.

»Vielleicht ein Geisteskranker aus der Forensik. Hat Rütters mal einen beschäftigt? Kümmerte er sich um Resozialisierung? Hat er schwererziehbaren Jugendlichen geholfen? Alles checken. Kontoauszüge noch mal durchforsten. Wohin ging die Knete? Auch wenn das alles nicht so richtig zu der professionellen Ausführung des Mordes passt, wir müssen immer noch alle Möglichkeiten und Motive überprüfen.«

Schmelzer maulte. Dann legte er los. Am Nachmittag meldete er sich fast triumphierend in Fetts Büro.

»Das Superluxusseniorenwohnheim, das kostet rund 4.000 Euro im Monat. Meister Rütters hat jeden Monat 5.000 überwiesen. Seltsam, oder?«

»Termin mit der Leitung machen, rapido«, sagte Fett. Mehr als drei Wochen waren seit dem Mord vergangen.

Ölig, etwas ölig und tiefengebräunt saß der Leiter des Seniorenstifts, Fred Strack-Zimmermann, vor den beiden Kommissaren aus Aachen, wie er mehrfach betonte. Der Anzug war zu groß, die Uhr zu golden, die Haare zu ölig. Alles an dem Mann missfiel dem Kommissar. Nicht dem ersten Eindruck hingeben, sagte er sich.

Nein, warum Herr Rütters die 5.000 überwiesen habe, immerhin über zwei Jahre, vorher nur 4.000 und seit Mai dann wieder nur 4.000, da könne er sich jetzt keinen Reim drauf machen.

»Gut, jetzt nicht, später schon«, sagte Fett, »Betriebsprüfung hilft bestimmt. Heimaufsicht plus Durchsuchungsbeschluss, ob die Presse davon Wind bekommt, kann ich nicht ganz auszuschließen.«

»Moment mal«, stockte der Ölige, »doch, ja, jetzt kommt die Erinnerung.«

Der Herr Rütters selig, der sei sehr sozial gewesen. Klar, warum habe er das nur vergessen.

»Wir haben vor zwei Jahren einen Aufruf gemacht. Damals boten wir einigen schwererziehbaren Jugendlichen Jobs an. Dafür suchten wir Paten. Und Herr Rütters wurde Pate. Pate von Johnny.«

»Johnny«, sagte Fett, »wer zum Teufel ist Johnny, was heißt Pate und was hat das mit der Knete zu tun?«

»Nun ja, mit den 1.000 Euro zusätzlich wurde der Johnny gefördert, konnte sich eine Wohnung leisten, war sozusagen Resozialisierung«, meinte der Ölige.

»Wo finden wir denn den Johnny? Warum hörte denn die Zahlung im Mai auf?«, grätschte Schmelzer in das Gespräch.

»Herr Rütters, der wollte nicht mehr.«

»Ach so, warum denn und wo ist Johnny?«

»Moment mal. Schwester Irmgard, wo ist noch mal der Johnny Kaiser«, knurrte der Ölige ins Telefon. »Stimmt, hatte ich vergessen. Danke. Also«, setzte er an, »Herr Kaiser fehlt seit rund drei Wochen, genauer, seit das mit Herrn Rütters hier bei uns bekannt wurde. Vielleicht weil Rütters nicht mehr zahlen wollte, warum, warum. Keine Ahnung.«

Fett spürte etwas hochsteigen. So aus dem Bauch nach oben. Wie beim Wasserkessel kurz vor dem Pfiff. Er zählte bis fünf. Eine Kombination aus Wut und Ärger. Er hatte etwas übersehen, und das ärgerte ihn. Zudem verbarg Strack-Zimmermann etwas. Und leise sagte er ihm ins Ohr: »Wenn Johnny auch nur irgendwas mit dem Mord zu tun hat, sind Sie am Arsch. Und zwar richtig. Behinderung, Vertuschung. Sie kommen nach Aachen, wo die schweren Jungs einsitzen. Die freuen sich auf so einen Öligen wie Sie. Und jetzt die Adresse, sonst fahren Sie noch heute ein.«

977,41 ₽
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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
204 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783839258309
Издатель:
Правообладатель:
Автор
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