Читать книгу: «Raban und Röiven Eine magische Freundschaft», страница 2
Der Kolkrabe berichtet
Röiven klingt bei der folgenden Erläuterung etwas verlegen:
»Ich sagte dir bereits, dass ich mit dem festgebundenen Flügel vielleicht nicht so gut zaubern kann. Es ist zwar auf unserem Weg hierher nichts passiert …« Die nächsten Laute klingen, als könnten es Schimpfworte sein, formen sich aber zu keinen sinnvollen Worten in Rabans Kopf:
»… aber wir sind zu weit oberhalb des Ziels angekommen. Wir müssen eine Höhle am Fuß dieses Berges erreichen, bevor der Mond untergegangen sein wird.« Der Rabe klappert erneut mit seinen Augendeckeln, wobei er seinen Kopf etwas schräg hält.
»Was weißt du über Elfen?«, beginnt der Kolkrabe seinen Bericht danach unerwartet mit einer Frage, worauf Raban sofort stehen bleibt. »Halt, ähem, ich meine natürlich: nicht anhalten. Die Zeit drängt. Während ich dir die geforderten Informationen gebe, musst du so schnell wie möglich weitergehen.«
Der Junge setzt sich sofort wieder in Bewegung. Auch wenn der Vollmond sein Licht ungehindert zur Erde schicken kann, gibt es auf dieser Seite des Berghangs mehr Schatten als Licht. In der unsicheren Beleuchtung bewegt sich der Junge so schnell wie möglich, was aber nicht so einfach ist. Er muss sehr oft um größere Steine herum ausweichen oder sich vorsichtig auf losem Geröll abwärts vortasten. Mit dem Vogel auf den Armen ist es nicht so einfach, das Gleichgewicht zu behalten. Raban möchte unbedingt vermeiden hinzufallen, wodurch sie aber relativ langsam den Hang hinunterkommen. Manchmal meint er, ein Aufseufzen des Kolkraben zu hören, so, als ob dieser wegen des gemächlichen Tempos fast verzweifelt.
»Könnte ich doch nur fliegen!«, stöhnt dieser einmal, als der Junge abermals vorsichtig die Beschaffenheit des Bodens prüft, bevor es weiter geht.
»Also, was kannst du mir über Elfen sagen?«, wiederholt Röiven seine Frage.
»Das sind menschenähnliche Wesen aus Märchen und Geschichten, die gegenüber Menschen oft unnahbar und stolz sind. Sie besitzen manchmal Zauberkräfte und wohnen an geheimen Orten.«
»Für einen Menschen ist dein Wissen gar nicht so schlecht, obwohl es lückenhaft und ein Teil deiner Antwort nicht richtig ist. Elfen gibt es wirklich, nicht nur in Märchen!«
Raban atmet ungläubig ein, wird aber vom Vogel an einer Äußerung gehindert, indem er schnell fortfährt.
»Ja, ja, es gibt sie. Früher lebten sie überall in unserem Land, doch heute halten sie sich meistens versteckt. Ihr größtes zusammenhängendes Gebiet befindet sich in einem geheimen Wald im Norden. Dort lebt ihre Anführerin Solveig mit vielen von ihnen in ihrer Festung Serengard.«
»Aber kann das sein?«, unterbricht ihn der Junge. »Diese Elfe lebt in dem von dir genannten Schloss im geheimen Wald, aber nur in einer Geschichte. Ich habe das vor einiger Zeit in einem Buch gelesen. Wie hieß es doch gleich? Richtig: »Eila – Die Leuchtende«.«
»Oh. Du kennst die Geschichte?«, will der Vogel erstaunt wissen. »Nicht viele haben das Buch bisher gelesen, wie ich gehört habe.«
»Ich kenne es.«
»Gut, dann brauche ich dir ja zu Elfen nichts mehr zu erläutern.«
»Aber das ist doch nur eine Geschichte, ein erdachter Roman!«
»Nein. Das ist eine wahre Geschichte, verpackt in einen Roman.«
»Dann gibt es die darin beschriebenen Personen, also: Eila, Finley, Rose Hlin, Sorcha und Knuth wirklich?« Raban ist erstaunt stehengeblieben.
»Bitte weiterlaufen, die Zeit drängt. Gut so. – Ja, diese Personen hat es tatsächlich gegeben, vor etwas mehr als 100 Jahren, auch die bösen und die guten Zauberer.«
»Aber, wie kannst du das wissen? Kolkraben werden nicht so alt und die Bücher wirst du sicher nicht gelesen haben.«
Raban will noch immer nicht glauben, was er gerade gehört hat.
»Auch wenn wir relativ alt werden können, wenn man nicht gerade von schießwütigen Menschen angegriffen wird«, fügt der schwarze Vogel grollend hinzu, »hatte ich damals noch nicht mein Nest oder die schützende Eierschale verlassen. Meine Großmutter hat mir erzählt, was wirklich passierte. Sie lebt heute im geheimen Wald. Großmutter hat das von Solveig erfahren, als das Buch von einem Verwandten Eilas geschrieben wurde. Der Autor und Solveig haben damals in regem Austausch miteinander gestanden.« Röiven schweigt kurze Zeit, genauso wie Raban, der das Gehörte erst verarbeiten muss.
Nach einem kurzen, rollenden Räuspern fährt der Kolkrabe fort:
»Somit kennst du die wichtigsten Fakten aus den Büchern.«
»Woher weiß ich aber, ob vielleicht etwas dazu gedichtet wurde und was wahr ist?«
»Das ist eigentlich unerheblich für meinen Auftrag. Die Zauberkräfte aller Menschen wurden damals aufgehoben, das ist real. Die Elfen behielten aber ihre magischen Fähigkeiten, Solveig natürlich auch. Obwohl Elfen länger leben und langsamer altern als Menschen, ist sie mittlerweile auch für Elfen schon sehr alt. Ich bin mir nicht sicher, aber sie könnte die letzte Elfe sein, die zaubern kann.« Der Kolkrabe bekommt einen nachdenklichen Blick. Nach einer längeren Pause schreckt er auf. Raban wäre beinahe gestürzt und bewegt ruckartig seine Arme, um das Gleichgewicht zu halten.
»Äh, wo war ich? Genau. Die dunklen Zauberer hatten es in der Vergangenheit darauf abgesehen, alle anderen Lebewesen zu unterwerfen. Gegen die Elfen hegten sie immer einen besonderen Groll oder sogar Widerwillen, wie du sicher aus den Büchern weißt.
Zaubern konnten die Bösen seit damals nicht mehr, trotzdem arbeiteten ihre Nachkommen weiter daran, die Herrschaft in diesem Land zu übernehmen. In der Vergangenheit standen die Elfen immer auf Seiten der Guten und waren erbitterte Gegner der dunklen Zauberer. Den Hass auf die Elfen haben diese offenbar immer an ihre Kinder weitergegeben. Der Urenkel des damaligen Oberhauptes der bösen Zauberer, sein Name war Bearach, sinnt noch heute auf Möglichkeiten zur Rache.«
Eine große Pause entsteht, bis Röiven fortfährt:
»Jetzt kommen wir zu einer unrühmlichen Tat von einem meiner Vettern.« Die nächsten Laute bilden keine sinnvollen Worte in Rabans Kopf, obwohl er den Eindruck hat, Schimpfworte zu vernehmen.
»Verflucht sei der Tag, an dem er aus dem Ei geschlüpft ist! Grimur, das ist sein Name, wollte schon immer etwas Besseres sein. Ich habe den Verdacht, er wollte unser König werden, aber lassen wir das. Er trieb sich viel mit Krähen und Elstern herum, bis er auf Baran traf.
Wie ich dir bereits sagte, kann ich zaubern. Das ist für die Mitglieder meiner Familie nichts Ungewöhnliches, für die meisten Kolkraben aber schon. Meine Familiengeschichte reicht sehr weit zurück, bis zu den Anfängen der Zauberei in diesem Land.
Also, Grimur hatte das Talent zum Zaubern geerbt und wurde ein hochbegabter Magier. In seinem Machtstreben waren diese Fähigkeiten solange nützlich, bis er Baran kennenlernte. Das ist ein böser Mensch und der bereits genannte Urenkel von Bearach, dem obersten der dunklen Zauberer.
Obwohl es ein ungeschriebenes Gesetz gibt, niemals unsere Fähigkeit des Zauberns an Menschen weiterzugeben, konnte Grimur nicht widerstehen. Er erlag den Schmeicheleien Barans und unterrichtete diesen in Magie. Eines Tages wurde er von ihm in einen silbernen Käfig gelockt.
Du musst wissen: Silber unterbindet unsere Fähigkeiten zu zaubern.
Wider besseren Wissens glaubte Grimur den Versprechungen Barans, dass er freigelassen und belohnt werden würde, wenn er die letzten Zaubergeheimnisse auf ihn übertragen würde. Erst weigerte sich mein Vetter, doch nach Tagen des Nahrungsentzugs wurde er wieder einmal aus dem Käfig geholt und übertrug die geforderten Kräfte. Den versprochenen Lohn erhielt Grimur natürlich nicht. Er wurde statt dessen in eine Steinfigur verwandelt.«
In der erneuten Pause stellt Raban fest:
»Also gibt es jetzt wieder einen Menschen, der zaubern kann. Und das ist noch dazu ein böser Mensch?«
»Genau. Weil mein so überheblicher und verblendeter …« Erneut formen sich die nächsten Laute zu keinen sinnvollen Worten in Rabans Kopf. Dann seufzt Röiven und fährt fort: »Ich wurde von der weisen Eule Minerva aufgefordert, eine Rettungsaktion für die Elfen zu starten, da ihnen jetzt großes Unheil von Baran droht. Ich sollte bis zum Ende der heutigen Nacht einen bestimmten Menschen zu ihr bringen, und das bist du. So, jetzt kennst du meinen Auftrag.«
Der Kolkrabe dreht seinen Kopf und schaut dem Jungen in die Augen. Er erkennt darin sowohl Staunen als auch Unverständnis.
»Soweit habe ich das verstanden, aber warum sollte ich helfen können? Ich bin doch nur ein kleiner Junge, der nicht einmal im Raufen geübt ist. Wie soll ich da etwas gegen einen bösen Zauberer ausrichten können?«
»Warum ich dich hierher holen sollte, werden wir sicher gleich von der Eule erfahren. Jedenfalls wurde mir genau beschrieben, wo ich einen Menschen mit Namen Raban finden würde. Dieser Name ist eher selten unter euch Menschen, aber Minerva wusste, in eurem Ort gibt es ihn. Und jetzt ist die Nacht fast vorüber, also beeile dich!« Die letzten Worte klingen flehend.
Raban hastet weiter abwärts. Beinahe strauchelt er über einen quer über dem Pfad liegenden, herabgefallenen Ast einer riesigen Eiche, die hoch über ihnen aufragt.
»Das hat aber lange gedauert, fast sogar zu lange!«, erklingt eine neue Stimme von hoch oben.
Der Junge schaut sich überrascht um. Sie sind am Fuß des Berghangs angelangt und stehen vor einer offenbar uralten Eiche. Im Hintergrund erkennt er undeutlich den schmalen Eingang einer Höhle. Sollten sie am Ziel sein?
»Hallo Minerva«, erklingt Röivens Stimme. »Es ging leider nicht schneller. Einige Menschenkinder hatten es auf mich abgesehen und verletzten mich. Wenn Raban nicht …«
Hier wird er unterbrochen:
»Das ist ja schön und gut, aber wir haben keine Zeit für ausschweifende Erklärungen.«
Minervas Auftrag
Ein dunkler Schatten scheint aus dem Wipfel des Baums herunterzufallen. Er bleibt aber in Höhe eines der unteren Äste hängen. Jetzt erkennt Raban einen herzförmigen, helleren Fleck in dem Schatten. Er strengt seine Augen an und tritt näher an den Baum heran. Ja, es stimmt. Eine Schleiereule sitzt dort und schaut mit ihren dunklen Augen in seine Richtung.
»Hallo Raban«, wird er angesprochen.
»Hallo … Minerva. Woher kennst du mich und warum bin ich hier?«
»Ich kenne dich nicht. Aber du musst Raban sein, da Röiven den Auftrag hatte, einen Menschen mit diesem Namen zu mir zu bringen.« Jetzt schaut die Eule zum Kolkraben, der bestätigend seinen Kopf ein wenig senkt.
»Also gut. Dann werde ich dir, bzw. euch beiden erklären, warum ihr hier seid.«
Beide, der Junge und der große Vogel auf seinem Arm, schauen gespannt zur Eule.
»Hat Röiven dir erklärt, dass die Elfen von Baran, einem bösen Zauberer bedroht werden?«
»Ja. Und Baran ist ein Urenkel des letzten oberen Dubharan.«
Erstaunt klappt die Eule ihre Augendeckel mehrmals auf und zu.
»Ich höre, du hast bereits einige Informationen erhalten.«
»Er kennt aber auch das Geschehen von vor 100 Jahren, da er die Bücher gelesen hat«, ergänzt der schwarze Vogel mit krächzender Stimme.
»Das freut mich, dann kennt er sich ja bestens aus.« Raban spürt, wie er von der Schleiereule gemustert wird. »Intelligent sieht er aus, aber ist er auch mutig genug? Hm«, überlegt Minerva. »Da wir nicht viel Zeit haben, muss es gewagt werden.
Röiven und Raban, ich erteile euch den Auftrag, die Elfen vor ihrer größten Gefahr zu retten. Nun, was sagt ihr?«
»Ähem, darf ich etwas fragen?«, erkundigt sich der Junge vorsichtig.
»Natürlich, wenn es nicht zu lange dauert. Was willst du wissen?«
»Weshalb weißt du, dass den Elfen Gefahr droht?«
»Kurz zusammengefasst kann ich das so erklären: Jedes Lebewesen kennt die große Weisheit der Eulen. Alle Eulen versammeln sich mehrmals im Jahr zu einer großen Beratung. Bei unserer letzten Zusammenkunft wurde uns klar, dass die Elfen in großer Gefahr schweben. Ich wurde von unserem Rat beauftragt, etwas dagegen zu unternehmen.« Ihre Augendeckel klappern mehrmals zur Bestätigung.
»Das führt mich zu meinen nächsten Fragen«, entgegnet Raban. »Warum soll ich in der Lage sein, die Elfen aus ihrer größten Gefährdung zu retten und wie sieht die Gefahr nun eigentlich aus?«
»Genau. Das möchte ich auch wissen«, bekräftigt der Vogel auf seinem Arm, »und warum soll ich dabei helfen?«
Minerva schaut beide ernst an.
»Hab ich das noch nicht gesagt? – Die Elfen werden von Baran bedroht. Er will nicht nur ihre Festung zerstören, sondern sie auch alle vernichten.« Zum Kolkraben gewendet erklärt sie: »Grimur gehörte zu deiner Familie. Er hat uns das eingebrockt. Es ist nicht nur eine Frage der Ehre, aber du musst helfen, das wieder geradezubiegen.« Sie blickt nun zum Jungen. »Du solltest das verhindern können, weil dein Name Raban ist.«
»Was hat das mit meinem Namen zu tun?«
»Er ist aus denselben Buchstaben gebildet, wie »Baran«. Eure Namen sind Anagramme! Er ist böse und du bist gut. Das stimmt doch?« Die dunklen Augen scheinen ihn zu durchdringen.
»Er ist ein mitfühlender Mensch, der sich um andere kümmert. Das habe ich am eigenen Leib erfahren«, bestätigt Röiven.
»Aber kann ich es deshalb mit einem bösen Zauberer aufnehmen? Wenn man mal außer Acht lässt, dass ich kein Erwachsener bin, ist nicht zu übersehen: ich bin für mein Alter nicht einmal besonders kräftig. Zaubern kann ich natürlich auch nicht.«
Die Eule antwortet erst nach einer kurzen Pause:
»Trotzdem weiß ich, Gleiches bekämpft man am besten mit Gleichem. Wenn irgendwo ein Feuer ausgebrochen ist, sagen wir mal in einem Wald, dann werden von euch Menschen Gegenfeuer gelegt, um eine Ausbreitung zu verhindern.
Für Gegenzauber ist Röiven zuständig, für die möglicherweise notwendigen Kenntnisse eines Menschen dann du, Raban.
Baran wird somit durch euch beide an der Ausführung seiner Pläne gehindert werden können.« Die nächsten Laute ergeben für den Jungen keinen Sinn.
»Was, das hoffst du also nur?« vernimmt er statt dessen die Stimme des Kolkraben.
»Oh. Ich habe ganz vergessen, wie klug ihr Raben seid. Natürlich konntest du mich jetzt verstehen. Ich will also ehrlich sein. Genau weiß ich natürlich nicht, ob sich das in diesem Fall anwenden lässt. Dafür können zu viele Faktoren eure Aufgabe beeinflussen. Aber ich kenne keine andere Möglichkeit, um die Elfen zu retten.«
In einer kurzen Pause klappert Minerva entschuldigend mit den Augendeckeln.
»Solveig ist mittlerweile sehr alt und zeitweise schon enorm vergesslich. Falls sie sich mittels Zauber verteidigen müsste, wüsste sie vermutlich nicht, welche zu nutzen wären. Andere Elfen mit Zauberkräften gibt es im geheimen Wald nicht mehr. Aber die Gefahr besteht nicht unbedingt in einem direkten Zauberangriff. Dann würde es ausreichen, wenn du, Röiven, vorsorglich dort wohnen würdest. Deine Zauberkräfte sind gewaltig und können es vermutlich mit denen Barans aufnehmen, der sie ja von deinem Vetter erhalten hat. Aber es ist auch wichtig, Unterstützung durch einen Menschen zu erhalten.«
Raban räuspert sich, bevor er unbehaglich fragt:
»Worin besteht die andere Möglichkeit, die Elfen zu vernichten?«
Gespannt warten beide, der Junge und der schwarze Vogel, auf die Antwort.
»Habt ihr schon einmal von der Legende über die Raben im Tower von London gehört? Sie lautet: Der Weiße Turm, die Monarchie und das gesamte Königreich, würden zugrunde gehen, falls die Raben jemals den Tower verlassen.
Ob die Sage für London zutrifft, weiß ich nicht genau. Möglicherweise ist die ursprüngliche Aussage durch die lange Zeit der Überlieferungen verfälscht worden. In einem alten Buch der Mythen und Sagen ist der mögliche Kern zu finden, der sich aber auf die Elfen bezieht. Dort steht geschrieben: so lange Kolkraben in diesem Land existieren, sind die geheimen Plätze der Elfen vor den Menschen verborgen, wodurch sie und ihre Festung vor Vernichtung geschützt sind.«
Plötzlich umgibt sie unheimliche Stille. Keiner wagt auszusprechen, was er gerade denkt. Der Junge äußert sich noch vor dem Raben:
»Was sagst du? Jemand könnte beabsichtigen, alle Kolkraben des Landes zu töten? Wer würde so eine ungeheure Tat nur zu denken wagen?« Empört steht er stocksteif da.
»Oh … glaube mir, vielen Menschen ist so etwas zuzutrauen«, beginnt der Kolkrabe, erst mit leiser, trauriger, aber dann mit fester, lauter Stimme. »Für die meisten von ihnen sind wir Unglücksboten, möglicherweise eine Gefahr für deren Tiere, auf jeden Fall aber ohne Nutzen für sie.«
»Darum ist Eile geboten«, ergänzt nun Minerva. Mit jedem Augenblick der vergeht, stirbt vielleicht irgendwo in unserem Land ein Rabe. Vielleicht erfolgte der Angriff auf dich«, hierbei blickt sie zu Röiven, »bereits als Folge von Barans Plan. Er wird sicher nicht alleine alle Kolkraben töten können. Aber er kann die Einstellung der Menschen zu diesen Vögeln beeinflussen, zumal er Zauberkräfte besitzt!«
»Ja …« Schweigen.
»Aber …« Erneutes Schweigen.
»Wo sollen wir denn dann anfangen?«, fragen der Junge und der Kolkrabe gleichzeitig.
»Beginnt da, wo es die meisten Kolkraben gibt und bringt sie in den geheimen Wald. Dort sollten sie vorläufig sicher sein.«
Die große Schleiereule klappert mit den Augendeckeln, nickt beiden kurz zu und breitet die Flügel aus. Ohne ein hörbares Geräusch oder eine spürbare Luftbewegung, schwebt sie über Raban hinweg. Sie will sich nach der langen Rede mit einer leckeren Maus stärken.
»Ich glaube, Minerva wird langsam gaga. Wie soll denn das zu schaffen sein?«, krächzt Röiven ungläubig.
»Das habe ich gehört!«, ist aus der Ferne noch zu hören.
»Ja, wie?«, überlegt der Junge. »Können wir vielleicht zuerst zurück in mein Zimmer? Ich glaube, ich könnte noch etwas Schlaf vertragen. Und du sicher auch, mit deiner Verletzung. Nach einem guten Frühstück schmieden wir dann einen Plan.«
»Wenn du meinst? Hunger hätte ich wohl …«, und schon krächzt der schwarze Vogel: »Portaro!«
Der Berghang und die Eiche beginnen sich zu verwischen. Es flimmert kurz.
Als das Gleißen aufhört, liegt Raban mit geschlossenen Augen in seinem weichen Bett, die Decke bis zum Kinn hochgezogen.
Der Kolkrabe hockt wieder auf dem Tischchen neben dem Bett. Er hält seinen Kopf leicht schräg und sieht die Schuhe des Jungen unter der Decke hervorschauen.
»Da ist ja wieder etwas schiefgegangen«, denkt er und gibt einige, knarzende Laute von sich.
Danach sieht er zufrieden zum Bett hinüber, vor dem nun die Schuhe auf dem Boden stehen. Hose und Shirt liegen ordentlich gefaltet auf dem Stuhl.
»Was für eine Nacht«, denkt der Vogel noch, dann schließt auch er die Augen und schlummert ein.
Ein Plan entsteht
Erschrocken öffnet Raban die Augen. Hat er geträumt? Schnell richtet er sich auf und blickt zum Tischchen. Den schwarzen Vogel mit dem weißen Schulterverband gibt es also wirklich.
»Das war aber sicher geträumt. Gespräche mit Eulen und Raben gibt es ebenso wenig, wie Zauberer und Reisen mit Magie!«, grübelt er verwirrt.
»Das gibt es, so wahr ich hier hocke und auf dein Erwachen warte«, holt ihn die knarzige Stimme in die Wirklichkeit zurück.
»Aber … was bedeutet das? Warum kann ich dich verstehen? Offenbar habe ich auch die Eule verstanden. Wie ist das möglich?«
In diesem Moment hört Raban eine Stimme von unten. Seine Mutter Ciana ruft die Treppe hinauf:
»Hör auf, dich mit dem Vogel zu unterhalten. Der versteht dich nicht. Komm lieber herunter, wenn du etwas frühstücken möchtest. Das Essen wartet nicht länger. Ich räume gleich ab.«
Hastig springt Raban aus dem Bett, zieht sich an und sprintet kurz ins Badezimmer. Es dauert nicht lange, dann ist er wieder in seinem Zimmer, nimmt den Kolkraben auf seinen linken Arm und stürmt die Treppe abwärts. Er reißt die Tür zur Küche auf.
»Hallo Mom. Ich habe wohl verschlafen, entschuldige bitte.« Ein Blick zum Tisch genügt: »Danke, du hast ja auch etwas für Röiven bereitgestellt.«
»Für wen? Ach, du meinst den Vogel. Ich hoffe, er mag Cornflakes.«
»Mit Milch!«, fordert eine knarzige Stimme.
»Da steht sie ja«, ist Rabans Antwort.
»Was? Sie steht da?« Hellblaue Augen blicken fragend aus einem freundlichen Gesicht zum Jungen.
»Mutter kann das Tier wohl nicht hören«, erkennt der Junge.
»Sag nicht: »das Tier«, das ist herabwürdigend. Vogel ist ja noch soeben ok. Besser als Rabe, Kolkrabe, Corvus …«
»Das reicht, Ruhe!«, fordert Raban.
»Was ist los mit dir?«, will seine Mutter wissen, sich erschrocken umdrehend. »Du bist wohl noch im Traumland unterwegs?«
»Entschuldige, ich habe wirklich ein tolles Durcheinander geträumt.«
»Also, das war kein …«, knarzt der Rabe.
»RUHE!«, denkt der Junge zum Glück jetzt. »Wir sprechen uns nach dem Essen.«
An seine Mutter gewendet erläutert er: »Ich fühle mich, als wäre ich die halbe Nacht in den Bergen unterwegs gewesen. Ja, Cornflakes sind gut, wenn ich darüber noch Milch gebe, wird er sie vermutlich gerne nehmen.«
Der Junge führt bereits aus, was er gerade sagte. Der Kolkrabe hüpft von seinem Arm auf den Tisch und senkt seinen Schnabel in die Schale mit den Flocken.
Ciana schaut kurz zu und lächelt:
»Das ist aber ein schönes und kluges Tier!«
»Also, schon wieder Tier, aber diesmal lasse ich das durchgehen. Der Rest stimmt jedenfalls.«
»Jetzt möchte ich aber in Ruhe essen. Wir unterhalten uns gleich.« Nun nimmt Raban einen großen Schluck heißen Kakao und beißt dann genüsslich in das Toastbrot mit Schokoladencreme.
Nach einem recht schnellen Frühstück, es dauert vielleicht gerade 15 Minuten, hilft Raban beim Abräumen und geht dann, Röiven auf einem Arm, nach draußen. Hinter dem Haus setzt er sich in den warmen Sonnenschein auf eine bereits erwärmte Steinbank. Den Kolkraben setzt er auf einer gegenüberliegenden Bank ab.
»Jetzt möchte ich zuerst wissen, warum ich dich und ebenso Minerva verstehen kann.«
»Ich kann doch zaubern. Weil ich das wollte, können wir über Gedankenaustausch miteinander sprechen, bis ich das durch einen anderen Zauberspruch wieder unterbinde. Minerva konntest du verstehen, weil sie sich der Rabensprache bediente, die ich mit dir spreche.«
»Gut, das verstehe ich. Wir sollten dringend überlegen, wie wir zur Rettung der Kolkraben und Elfen vorgehen wollen.«
»Ja, wo fangen wir an?«, knarzt es zurück.
»Wo gibt es die größte Kolonie von Kolkraben?«
»Die was?«
»Kolonie. Äh, oder Schwarm? Ich meine, wo halten sich die meisten deiner Art gleichzeitig auf?«
»Das ist gar nicht so einfach, da wir Fithich, das ist unsere eigene Bezeichnung, eigentlich nicht sehr gesellig sind. Nur in der Jugend schließen wir uns, nach dem Verlassen des elterlichen Reviers, zu Trupps zusammen. Mit einem Partner bleiben wir als Paar ein Leben lang zusammen. Im Frühjahr werden wir als Eltern mit der Aufzucht von zwei bis sieben, überwiegend drei bis sechs, Jungen beschäftigt sein. Jetzt im Sommer haben die Jungen bereits Trupps gebildet. Im folgenden, spätestens dann im darauf folgenden Sommer, lösen sich diese Verbände aber auf.«
»Wir können wählen, kümmern wir uns um die jungen Fithich, retten wir in kurzer Zeit mehr von euch, als wenn wir einzelne oder Paare suchen.«
»Du hast Recht. Wir sollten zuerst die Halbwüchsigen retten, da sie auf alle Fälle argloser als Paare sind, die auf Erfahrungen von drei bis zu zehn plus zehn plus fünf Sommer zurückgreifen können. In seltenen Fällen können es fast doppelt so viele Sommer sein. Sie werden sicher nicht so leicht in Fallen der Menschen gehen.«
»Wo finden wir aber solche Trupps, eher im Süden als im Norden, in der Nähe von Städten oder dort, wo weniger Menschen sind?«
»Minerva hatte Recht. Es ist gut, mit einem Menschen zusammenzuarbeiten. Ich wäre vermutlich mehr oder weniger planlos mal hierhin, mal dorthin geflogen. Wir sollten von der Mitte des Landes aus in Richtung Norden suchen und immer außerhalb der Orte beginnen.«
»Jetzt muss ich noch eine Erklärung für meine Eltern finden, was ich in den Tagen mache, wenn wir auf der Suche sind. Die Rettungsaktion sollte ich nicht erwähnen. Hm …«
Röiven legt seinen Kopf etwas schräg, klappert mit seinen Augendeckeln, wie Minerva letzte Nacht und äußert einen Vorschlag:
»Hast du keine Tante oder Großmutter, die du in ihrem Nest besuchen kannst?«
Raban lacht kurz auf, dann nickt er zur Bekräftigung:
»Die Idee ist gut, wenn ich sie etwas anpasse. Ich werde eine Wanderung zu meinem Großvater Finnegan im Norden machen. Das dauert mindestens vier Wochen. Ich werde mit meinen Eltern in Abständen telefonieren, damit sie sich nicht um mich sorgen. Werden sie mir das erlauben? … Doch, ich habe bereits kürzere Wanderungen von etwa zwei Wochen alleine gemacht. Ich probiere es!«
Raban erhebt sich und stürmt zurück ins Haus.
Die Diskussion mit der Mutter wird erfolglos abgebrochen. Sie verweist auf den Abend, um das gemeinsam mit seinem Vater Brendan zu besprechen.
Der Junge kehrt in den Garten zurück. Den Rest des Tages ist er zappelig und kann kaum stillsitzen. Dem Kolkraben ergeht es ähnlich. Er fürchtet um die Mitglieder seiner Familie.
Als es endlich nach dem Abendessen soweit ist, dauert die Diskussion nicht lange. Raban wird von seinem Vater unterstützt.
»Der Junge ist doch schon 14 Jahre alt und kann gut auf sich aufpassen.«
»Ich habe ja auch noch Röiven!« Raban hätte sich beinahe verplappert. Er kann doch nicht erwähnen, dass sie sich unterhalten und der Vogel zaubern kann. In diesem Fall hätte er die Erlaubnis sicher nicht bekommen.
»Wen? Ach so. Wenn du den Raben mitnehmen möchtest, ist das in Ordnung. Sobald er wieder gesund ist, kannst du ihn in die Freiheit entlassen. Er wird sie sicher schon vermissen. Obwohl er einen zufriedenen Eindruck macht, wenn ich das so sagen darf.« Erstaunt betrachtet Brendan den schwarzen Vogel, der ruhig auf dem Arm seines Sohns hockt und mit dem Kopf nickt.
»Ich mache aber folgende Bedingung: Du rufst wenigstens alle zwei Tage an. Es gibt fast in allen Orten Postämter oder Telefonzellen. Das notwendige Geld werde ich dir mitgeben.« Lächelnd zwinkert er seinem Sohn zu. Raban bekommt also auch ein ausreichendes Taschengeld.
»Danke! Euch beiden!« Er umarmt Mutter und Vater und will bereits die Treppe hinauf, um seinen Rucksack zu packen.
»Es ist etwas Merkwürdiges passiert«, wird er von Brendan zurückgehalten, der seine Zeitung wieder aufgenommen hat.
»Was denn?«, fragen Ciana und Raban aus einem Mund.
»Im Park des Internats Coimhead wurden gestern 25 tote Kolkraben gefunden. Die Kadaver wurden in die Tiermedizin der Universität unserer Hauptstadt gebracht, um die Ursache zu finden. Die Untersuchungen laufen. Vielleicht sind die Vogelgrippe oder ein anderer Virus die Ursache? Pass also unterwegs gut auf. Falls du irgendwelche Krankheitssymptome an dem Vogel oder dir bemerkst, kehrst du bitte SOFORT mit der Bahn hierher zurück. Falls das nicht gehen sollte, gehe in das nächste Krankenhaus und schicke uns eine Nachricht. Versprochen?«
Obwohl Raban starr steht, befindet er sich in regem Gedankenaustausch mit Röiven. Aber das weiß Brendan nicht. Darum schüttelt dieser den Knaben.
»Hast du verstanden?«
»Entschuldige! Ja. Das verspreche ich. Ich mag mir nur nicht vorstellen, dass so etwas passieren kann.«
»Wir wissen, warum das passiert ist!«, knarzt es in seinem Kopf. Er dreht sich zum Kolkraben und sieht ein unheilvolles Glimmen in dessen Augen. Wenn Baran jetzt in der Nähe wäre, würde er sicher nicht mehr lange Unheil verbreiten können.
Raban schaut zu seinen Eltern.
»Ich gehe jetzt nach oben und bereite meine Reise vor. Das Ein-Mann-Zelt werde ich mitnehmen, falls es doch mal regnet und ich keine Scheune zum Übernachten finde.«
Entschlossen eilt er die Treppe hinauf.