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Machiavelli und die Selbstbehauptung des Politischen

Das italienische Trauma von 1494, der Beginn der italienischen Kriege, wird für Machiavelli zum persönlichen Trauma: Die Medici werden aus Florenz vertrieben, ihr Palast geplündert, und der fanatische Bußprediger Savonarola übernimmt die Macht. Kurz darauf nimmt der französische König Karl VIII. Florenz ein. 1513 schreibt Machiavelli sein berühmtestes Werk Il Principe, nachdem er alle seine politischen Ämter verloren hatte – und vielleicht muss man ja außerhalb der Praxis stehen, um eine Theorie der Politik zu formulieren. Er stirbt im Jahre des Sacco di Roma, der barbarischen Plünderung Roms durch die Truppen von Karl V., 1527.

Machiavellis Gestalt mehr noch als sein Werk Il Principe ist ein Mythos – und zwar bis zum heutigen Tag vor allem ein negativer. Der Begriff Machiavellismus wirkt unverändert als eines der mächtigsten Propagandaschlagworte. Es wird sich jedoch zeigen, dass Machiavelli, ähnlich wie Epikur für das Christentum, für den Humanismus ein Phantomgegner war und ist. Über Machiavelli liegt der Schatten des politischen Moralismus. Er hat den Moralismus als politische Waffe durchschaut, und man hat es ihm bis heute nicht verziehen. So ist er zum Sündenbock der politischen Heuchler und der sentimentalen Humanitaristen geworden. Sie haben seine Lehre als narzisstische Kränkung empfunden.

Machiavelli war kein Machiavellist. Das wird deutlich, wenn man sich die einfache Frage stellt, ob man eine Lehre von den Herrschaftsgeheimnissen publizieren kann. Es bedarf keiner logischen Raffinesse, um zu erkennen, dass es geheim gehalten werden muss, dass etwas geheim gehalten wird. Machiavelli dagegen plaudert die Betriebsgeheimnisse der Politik aus. Insofern steht er klar auf der Seite der Aufklärung. Er weist die unvermeidlichen ethischen Paradoxien der Politik auf – und ist dafür moralisch verurteilt worden. Niklas Luhmann bemerkt dazu: »Die Hauptsünde von Machiavelli dürfte demnach nicht in seinen Gedanken gelegen haben, sondern darin, dass er sie hat drucken lassen. Denn die Publikation eines Wissens, das seiner Natur nach auf Geheimheit angewiesen ist, wirkt selbstdestruktiv.«

Wäre Machiavelli Machiavellist gewesen, dann hätte er seine Überlegungen nicht in aller Offenheit dargelegt. Ein Machiavellismus, der verkündet wird, widerspricht sich selbst. Carl Schmitt stellte zu Recht fest, dass Machiavelli, wenn er ein Machiavellist gewesen wäre, einen Antimachiavelli geschrieben hätte. Und genau das hat Friedrich II. getan – man kann das im Nachhinein geradezu als machiavellistische Raffinesse bewundern. Am Ende seines Lebens schreibt Friedrich II. dann aber in aller Offenheit: »Es tut mir leid, aber ich bin gezwungen zu gestehen, dass Machiavelli recht hat.«

Wenn wir Machiavelli auf die Seite der politischen Aufklärung stellen, dann im Sinne von Nietzsches Definition der »Aufgabe der Aufklärung, den Fürsten und Staatsmännern ihr ganzes Gebaren zur absichtlichen Lüge zu machen, sie um das gute Gewissen zu bringen«. Diese Umwertung des Machiavellismus zu einer Verantwortungsethik, die sich die Emanzipation der Faktizität auf die Fahnen schreibt, markiert die äußerste polemische Gegenposition zum politischen Moralismus.

Für Nietzsche war der Machiavellismus »der Typus der Vollkommenheit in der Politik«, der aber, weil »übermenschlich, göttlich, transscendent«, »von Menschen nie erreicht« werde. Er vergleicht Il Principe nur noch mit Thukydides in dem »unbedingten Willen, sich nichts vorzumachen und die Vernunft in der Realität zu sehen«. Der Spur Nietzsches folgend hat Max Weber Machiavellis »Rücksichtslosigkeit des Blickes in die Realitäten« gerühmt. Aber auch ein zeitgenössischer Philosoph der politischen Linken, Michel Foucault, lobt Machiavelli als einen »der wenigen, die die Macht des Fürsten im Kontext von Kraftverhältnissen analysiert haben – darin liegt ja der Skandal seines ›Zynismus‹«.

Zur Emanzipation der Faktizität und der Analyse von politischen Kraftverhältnissen gehört vor allem der nüchterne, rücksichtslose Blick auf die Natur des Menschen. Machiavelli gehört zu den ersten Moralisten – und das sind wohlgemerkt nicht die Vertreter, sondern die Kritiker des Moralismus! –, die davon ausgehen, dass die Natur des Menschen selbst das Verständnis der Natur des Menschen blockiert. Das wird plausibel, wenn man sich die anthropologischen Grundannahmen von Machiavelli vergegenwärtigt. Sie sind durchaus zeittypisch, und Hugo Ball hat sie so zusammengefasst: »Die Überzeugung, dass der Mensch von Natur böse, verworfen, Bestie, Pöbel ist (statt hinfällig, unwissend, schwach und emanzipationsbedürftig), diese Auffassung gilt dem konstruierenden Staatskünstler der Renaissance und des anschließenden Absolutismus als Begründung dafür, dass er die zu organisierende Menschenmenge als ein zu bevormundendes, bösartiges Material ansieht, dem gegenüber alle Mittel erlaubt sind.«

Der Mensch ist nicht in eine wohltätige Natur eingepasst, sondern exponiert und ungeschützt; ständig muss er Gefahren gewärtigen, sich durch Antizipation und Prävention auf eine ungewisse Zukunft einstellen. Die anthropologische Dialektik liegt nun darin, dass der Mensch, um sich selbst zu erhalten, einen Willen zur Macht entwickeln muss, mit dem er auf andere und deren Besitz übergreift. Das lässt ihn als von Natur aus böse erscheinen. Sein Leben lang wird er von einem unersättlichen Begehren getrieben, das ihn konstitutionell unzufrieden und unruhig macht. Dieses spezifisch menschliche Übel, seine endogene Unruhe und sein unersättliches Begehren, heißt bei Machiavelli ambizione, und es zeigt sich im Streben nach Ruhm und Ehre, in der Lust am Wettbewerb.

Der Mensch ist also nicht von Natur aus böse, sondern ein Sklave seiner Affekte, die ihn böse machen, wenn sie nicht vom politischen Genie gebändigt werden. Und hier wird Machiavellis Anthropologie politisch: Die menschlichen Affekte sind berechenbar. Der Fürst nutzt die Begierden der Menschen, um zu regieren. Seine Maxime lautet: Handle so, als ob die Menschen bösartig seien! Menschen sind von Natur »böse« – im Sinne von neidisch, misstrauisch, unzufrieden, undankbar, aggressiv. Aber sie sind formbar, man kann ihnen das Gute abzwingen, nämlich durch Erziehung und Institution. Die große Lehrerin ist die Angst.

Machiavelli überträgt diese anthropologischen Überlegungen auch auf den »großen Menschen« Staat, der ebenfalls durch ein Unruhe-Prinzip charakterisiert wird. Die Stichworte lauten: mutazioni, variazioni, alterazioni. Man könnte das als Positivierung des Opportunismus bezeichnen: Der Staat gewinnt seine Stabilität durch Variation. Deshalb lobt Machiavelli, vor allem in den Discorsi, die Zwietracht und den Streit; und was er über die guten Wirkungen der Parteikämpfe schreibt, nimmt schon vieles vorweg, was der Soziologe Georg Simmel über die konstruktive soziale Rolle des Konflikts gesagt hat. Streit ist gesellschaftlich produktiv.

Neben seinen anthropologischen Grundüberzeugungen ist für das Verständnis des machiavellischen Politikbegriffs sein Verhältnis zur antiken politischen Theorie von besonderer Bedeutung. Er bewundert die klassische Antike, kritisiert jedoch die klassische politische Philosophie. Er beendet die Vormachtstellung der antiken politischen Philosophie und erweist sich damit als Repräsentant der neuzeitlichen Aufklärung, verweist jedoch ständig auf antike Vorbilder.

Dabei ist vielleicht keine große Theorie entstanden. Aber man könnte eben auch sagen, dass gerade der Verzicht auf ein großes Theoriedesign Machiavelli groß gemacht hat. Er verzichtet auf einen prophetischen Gestus. Stattdessen gibt er Beispiele aus der Geschichte, weil es im Entscheidenden immer um unberechenbare Zufälle geht. Beispiele aus Antike und Moderne sollen erhellen, was man durch Vernunftgründe nicht demonstrieren kann. Machiavellis wichtigste Ressource ist seine Kenntnis der Taten großer Männer. Das Studium der Geschichte exzellenter Männer rät Machiavelli denn auch dem Fürsten an. Die Orientierung an antiken Mustern dient ihm vor allem zur Emanzipation vom Mittelalter. Er bricht also nicht nur mit der antiken, sondern auch mit der scholastischen Tradition.

Im Grunde denkt Machiavelli nicht anders als die griechische Klassik, aber mit umgekehrten Wertvorzeichen. Er schließt nicht an Sokrates, sondern an Trasymachos (aus Platons Politeia) und Kallikles (aus Platons Gorgias) an, wenn er das Gerechte im Nutzen des Stärkeren findet und nur eine Wahrheit anerkennt, die wehrhaft ist. Die sophistische Rhetorik ist der Inbegriff aller machiavellistischen Machttechniken. An die Stelle von Platons Philosophenkönig tritt der von Machiavelli ersehnte Fürst, der absolute Herrscher, dessen Macht im Dienste Italiens aus der Perspektive der klassischen politischen Philosophie nur als nihilistisch erscheinen kann. Das verträgt sich durchaus damit, dass Il Principe eine absolutistische, die Discorsi dagegen eine republikanische Botschaft transportieren. Denn absolute Herrschaft wird notwendig, wenn das vivere politico, das politische Leben im antiken Sinn, nicht mehr möglich ist. Dolf Sternberger bemerkt deshalb zu Recht, dass die römische Republik für den patriotischen Italiener »das verlorene Paradies« gewesen ist.

Machiavelli vollzieht einen radikalen Bruch mit der philosophischen Tradition. Es widerspricht seinen anthropologischen Grundüberzeugungen, im Menschen das Zoon politikon des Aristoteles zu sehen. Das politische Reich des Möglichen muss gegen die Natur und die Tradition erkämpft werden; alles, was mit Macht zu tun hat, ist künstlich. Die aristotelische Unterscheidung zwischen dem bloßen Leben und dem guten Leben ergibt für Machiavelli politisch keinen Sinn. Er schaltet den Zweckbegriff der klassischen politischen Philosophie, also das gute Leben und das summum bonum, das allgemeine Beste, aus der Politik aus und ersetzt ihn durch Machtrationalität.

Mit Machiavelli beginnt das, was Robert Spaemann »Inversion der Teleologie« nennt. Gemeint ist die Philosophie der reinen Selbsterhaltung ohne höheres Ziel. Das gilt für den Einzelnen genauso wie für den Fürsten: Der Einzelne hat die Aufgabe, am Leben zu bleiben; der Fürst hat die Aufgabe, an der Macht zu bleiben. Es handelt sich hier nicht um einen Verlust, sondern um einen bewussten Verzicht auf die Idee vom guten Leben und die Idee vom wahren Staat. An die Stelle des guten Lebens tritt die Sorge um das Überleben, und an die Stelle des wahren Staates tritt der erfolgreiche Machterhalt. Dass Machiavelli den politischen Horizont derart beschränkt und die politischen Ziele bewusst niedriger gehängt hat, macht ihn zum Ärgernis für jeden Gesinnungspolitiker. Mit Machiavelli beginnt die Niedrigbauweise der Moderne: Horizontbegrenzung, reduzierte Ziele, abgesenkte Standards. Wie dann auch auf allen anderen Feldern der neuzeitlichen Kritik, beschränkt man die Fragen, um Antworten überhaupt erst möglich zu machen.

Man darf diese Horizontbeschränkung nicht als Bescheidenheit der theoretischen Ansprüche missverstehen. Dazu könnte auch der Titel seines zweiten Hauptwerks verleiten: Betrachtungen über die ersten zehn Bücher des Titus Livius – nämlich über die Geschichte Roms. Aber schon der erste Satz des Vorwortes markiert den eigentlichen Anspruch. Stolz präsentiert Machiavelli seine Discorsi als gefährlichen, bisher unbegangenen Weg in eine terra incognita – einen Weg, der zu neuen Einrichtungen und Ordnungen führt: »trovare modi e ordini nuovi«. Machiavelli sieht nicht mehr die Notwendigkeit, das Revolutionäre seines Denkens als Erneuerung alter Traditionen, also als »Renaissance« zu rechtfertigen. Seine neuen, noch nie dagewesenen Ordnungen sind ganz im Gegenteil – um es mit einer auf Nietzsche gemünzten Formel Gerhard Krügers zu sagen: »eine geistige Columbusfahrt ins schlechthin Unerhörte«.

Machiavelli ist insofern ein Figuralparadigma der Neuzeit, als er das Neue neu problematisiert und bewertet. Die Griechen waren Könner, sie wussten es und waren stolz darauf. Auch bei den vorbildlichen Alten gab es immer wieder Neues. Aber für die Griechen veränderte das Neue nicht die Welt, sondern reicherte sie an – und es bestätigte das eigene Können. Mit diesem Verständnis der Technik und des Neuen musste die Neuzeit brechen. Als sich der Künstlertechniker Leonardo gegen die Allmacht Gottes und die Autorität der Antike behauptete, war das ästhetische Genie der Neuzeit geboren. Doch wohlgemerkt: Nur als Techniker konnte das Genie den Kampf gegen Religion und Tradition aufnehmen. Der Techniker ist das Figuralparadigma der Neuzeit, weil er nichts hinnimmt, sondern alles erzeugt. Aus dem Phänomen wird das Produkt. Und gerade auch der Wille zur Macht ist ein technischer Wille, der das Gegebene nicht hinnimmt.

Philosophisch betrachtet entsteht Technizität durch Wahrheitsverzicht. Das technische Weltverhalten positiviert das Kontingenzbewusstsein. Nichts versteht sich von selbst, und auf niemanden kann man sich verlassen. Kontingent ist, was auch anders möglich wäre – wenn auch nicht beliebig anders; also nicht unmöglich und nicht notwendig. Das, was ist, könnte auch anders sein; alles kann geändert werden, aber nicht alles auf einmal und nichts völlig überraschend – also machen wir es anders! Wir wollen nicht das Alte verbessern, sondern etwas Neues anfangen; nicht überkommene Probleme lösen, sondern günstige Gelegenheiten ergreifen. Das ist das Pathos Machiavellis. Alles Neue beginnt mit einer Entkoppelung.

Leo Strauss erkennt, dass Machiavelli hier als der neue Moses auftritt, der das neue Gesetz bringt. Livius ist seine Bibel, die Römer sind sein auserwähltes Volk. Moses ist für Machiavelli nicht nur der große Prophet, sondern auch der Gründer, der seinen Gesetzen, wenn nötig auch mit Gewalt, Geltung verschaffte. Machiavelli unterscheidet nicht zwischen wahren und falschen Propheten, sondern zwischen bewaffneten und unbewaffneten. Die bewaffneten Propheten (profeti armati) siegen, die unbewaffneten gehen unter. Das zeitgenössische Paradigma des unbewaffneten Propheten ist Savonarola, der in Florenz zwar groß predigte, aber keine politische Macht hatte und deshalb nach kurzer Zeit scheiterte. Aber auch Machiavelli selbst war – verbannt ins Exil von San Casciano – ein unbewaffneter Prophet, der keine andere Waffe als seine Feder hatte. Deshalb musste er auf Propaganda setzen, also auf die Synthese von Philosophie und politischer Macht.

Der radikale Bruch mit der klassischen politischen Philosophie macht Machiavelli frei im Umgang mit antiken Beispielen und Mustern. Das erleichtert einerseits seine Emanzipation vom Mittelalter, andererseits kann er vor diesem Hintergrund sehr souverän als Kritiker des Christentums auftreten. Interessant ist dabei die Art seiner Argumentation: Die antiken Menschen seien kraftvoller, kühner und tapferer gewesen als die Christen, weil sie alle auf großen weltlichen Ruhm (lonore del mondo) aus gewesen seien. Die christliche Erziehung dagegen lehre Demut, Duldsamkeit und Kontemplation als Weg zu Wahrheit und Heil (la verità e la vera via). Dieser christliche Lebensstil – und das ist das politisch Entscheidende – habe die Welt den Schurken ausgeliefert. So weit ist die Argumentation Machiavellis trivial. Doch unvermittelt wechselt er die Perspektive. Nun ist es nicht die christliche Religion selbst, sondern ihre falsche Interpretation, die den Anschein erweckt, die Erde sei verweichlicht und der Himmel kraftlos. So fragt er in den Discorsi ausdrücklich, ob das Christentum oder dessen falsche Auslegung schuld sei an der Verweichlichung der Welt. Wie später auch Nietzsche bekämpft Machiavelli am Christentum den Geist der Rache, konkreter: die große Schwächung der Mentalität durch Paulus’ Umwertung der Werte. Dagegen sei die wahre Interpretation der christlichen Lehre eine secondo la virtù, die durchaus Vaterlandsliebe und die Verteidigung des Vaterlandes ermögliche. Wenn man sich dieser Volte Machiavellis nicht anschließt, bleibt aber nur das Fazit, dass es so etwas wie christliche Politik nur als Simulacrum geben kann – ein Fazit, das dann Nietzsche zieht: »In praxi treibt auch der christliche Fürst die Politik Machiavells: vorausgesetzt nämlich, dass er nicht schlechte Politik treibt.«

Aus theologischer, aber auch aus humanistischer Perspektive kann das Postchristliche an Machiavelli natürlich nur als antichristlich erscheinen. Das christliche Lebensideal wird ja durch antike Größe ersetzt. Und Größe kann auch ein Verbrechen haben. Diese Brutalität Machiavellis soll wie ein Heilmittel gegen die Verweichlichung der christlichen Welt wirken. Wenn es etwa bei Tertullian heißt: »nec ulla magis res aliena quam publica«, nichts ist uns Christen fremder als das Politische, wird der hohe Preis deutlich, den eine so interpretierte christliche Wahrheit zu entrichten hat, nämlich Dekadenz. Und es ist eben Machiavellis Projekt, diese Verweichlichung aus seiner politischen Welt austreiben.

Die Schadensbilanz ist gewaltig: Die christliche Sorge um die Seele hat uns zu politischen Krüppeln gemacht. Christliches Leben ist politisch impotent, es zerstört die bürgerliche Gesinnung. So ist unter dem Einfluss der christlichen Moral der antike Wert der megalothymia, der Wille zur Macht, als Ruhmsucht und Ehrgeiz denunziert worden. Statt sich gegen Unfreiheit und Unterdrückung zu wehren, sollen Leiden erduldet werden. Damit macht Machiavelli deutlich, dass man zwischen Christentum und Politik wählen muss. Entweder man investiert seine Energien in ein tugendhaftes Privatleben oder in erfolgreiches öffentliches Leben.

Aus dieser Diagnose zieht Machiavelli gerade keine laizistischen Konsequenzen, stattdessen reflektiert er sehr ausführlich auf Nutzen und Nachteil der Religion für den Staat. Er bekämpft den Machtanspruch der Kirche und instrumentalisiert die Religion als sozialen Kitt. Für ihn ist das Christentum also durchaus sinnvoll, nämlich als Zivilreligion. Als solche dient es zur Beruhigung der Leute, bewahrt Ruhe und Ordnung und ist unverzichtbar. Hier trifft Marxens Wort vom »Opium des Volkes« den entscheidenden Punkt. Politisch bedeutet das natürlich, dass der Papst nun nur noch ein territorialer Fürst neben anderen sein kann.

Die Instrumentalisierung der Religion hat eine bedeutsame Konsequenz für die Theoriearchitektur: Wenn sich die Politik von der Religion emanzipiert, kann sie sich auch nicht mehr moralisch legitimieren.

Machiavelli unterscheidet zwei Menschentypen: politische und unpolitische, befehlende und bequeme. Die einen wollen herrschen, die anderen nicht beherrscht werden; die einen suchen Ruhm, die anderen Sicherheit und Wohlergehen. Zum Herrschen gehört eine spezifisch politische Risikobereitschaft. Für Machiavelli sind nur wenige Menschen politische Wesen, es gibt deshalb nur wenige, die herrschen wollen. Die meisten wollen bloß in Sicherheit leben.

Die wenigsten wollen herrschen, aber die meisten wollen nicht beherrscht werden. Die zentrale politische Frage, die sich hier stellt, lautet: Wie kann man die Menschen beherrschen, ohne dass sie es merken? »Einige wollen: aber die Meisten werden nur gewollt«, so Nietzsche. Politik ist der Wille zur Macht, aber nicht jeder hat ihn. Oder um es mit Max Weber zu sagen: »Politik ist: Kampf.« Aber die meisten wollen nur in Ruhe leben. Nicht der Gegensatz zwischen Fürst und Republik ist deshalb relevant, sondern der zwischen Herrschern und Beherrschten. Daher können wir unser Bild von Machiavellis Politikbegriff aus den republikanischen Discorsi genauso gut gewinnen wie aus dem absolutistischen Il Principe.

Wesentliche Charakteristika des Herrschertypus lassen sich an der Gestalt des Condottiere ablesen, dem Söldnerführer der italienischen Stadtstaaten, die keine eigenen starken Streitkräfte aufzubieten hatten. Er ist ein homo novus, das heißt er kommt von unten und hat ein Reich unbegrenzter Möglichkeiten vor sich. Er bleibt persönlich unbeteiligt und stellt sich gleichsam unverbindlich dem Fürsten zur Verfügung. Insofern kann man im Condottiere das historische Figuralparadigma des souveränen, von Religion und Sitte völlig emanzipierten Individuums sehen. Aber Machiavelli, dem unbewaffneten Propheten, geht es natürlich vor allem um den Fürsten. Der rettende Fürst, den Vergil am Beginn des Purgatoriums von Dantes Göttlicher Komödie und Beatrice an dessen Ende ankündigt, ist dieser bewaffnete Prophet. Seine Karriere und seine Souveränität sind einzig eingeschränkt durch die Aufgabe, die Nation zu retten.

Machiavelli wirft nun einen gleichsam biologistischen Blick auf die Politik: Was sind die Überlebensbedingungen eines Herrschers? Machiavelli orientiert sich hier an antiken Vorbildern, vor allem an Xenophons Cyrus und Hiero. Vor allem im Hiero sieht er das Muster einer wohltätigen Tyrannei, denn die Aufgaben der Politik sind nur durch Gewalt zu lösen. Der Fürst muss dem Dämon der Politik, nicht dem Gott der Liebe Opfer darbringen. Und nichts ist für ein Gemeinwesen bedrohlicher als ein schwacher, mitleidiger Fürst. Der neue Fürst kann nicht der tugendhafte sein, denn ganz allgemein gilt, dass der Politiker als Politiker seine persönliche Moral einklammern muss. Der Fürst ist die historische Größe, die für die Gesamtheit, für seine Nation, handelt und deshalb vom Sittengesetz suspendiert ist. Aber diese Suspension der Moral ist letztendlich nur durch politischen Erfolg zu rechtfertigen. Um es auf eine Formel zu bringen: Der neue Fürst muss die Moral und das Recht auf Distanz halten. Indem Machiavelli diesen Gedanken zu Ende denkt, konstituiert er den Eigenwert des Politischen.

Der große Politiker hat die Doppelgestalt des Gründers und Führers. Er ist der Held, der den großen Staat begründet, indem seine politische Tugend die Widrigkeiten des Zufalls bezwingt. Der Fürst Machiavellis verdrängt den Philosophenkönig Platons. Seine Legitimität besteht in dem, was Hegel in seiner Rechtsphilosophie »Heroenrecht zur Stiftung von Staaten« genannt hat. Schon in einer frühen Schrift Hegels, der so genannten Jenaer Realphilosophie von 1805, findet sich eine fulminante Rechtfertigung des Machiavellismus. Die Gewalt des Staatengründers ist »reine entsetzliche Herrschaft; aber sie ist notwendig und gerecht, insofern sie den Staat als dieses wirkliche Individuum konstituiert und erhält«. Der Souverän ist über die »Begriffe von gut und schlecht, schändlich und niederträchtig, Arglist und Betrug« erhaben, weil er den Staat erhält. Er »muss den Mut haben, in jedem Notfalle, wo die Existenz des Ganzen kompromittiert ist, vollkommen tyrannisch zu verfahren«.

Il Principe hat seinen metaphysischen Kern im gewaltsamen Anfang des Neuen, in der politischen Innovation. Und in der Politik kann man eben immer nur anfangen – und muss dann die Folgen tragen. Es geht nicht um das summum bonum, Ziel und Zweck, oder höchstes Gut, sondern um Machterhalt als Selbsterhaltung des staatlichen Ganzen. Im Notfall, im Ernstfall des Krieges oder des Bürgerkrieges, gibt es nur ein Heilmittel: zurück zu den Anfängen – und die sind immer gewaltsam. Wir sind dann wieder mit dem Absolutismus der Wirklichkeit konfrontiert. In diesem Sinne hat Leo Strauss die Versuche Fausts, den Johannes-Prolog zu korrigieren, politisch zugespitzt: »In the beginning there was terror.« Im Anfang war der Schrecken. Die Urszene des Politischen entspricht also präzise der anthropologischen Grundgegebenheit, nämlich der ursprünglichen Exponiertheit und Ungeschütztheit des Menschen. Die pessimistische Anthropologie wird zum Epochenmerkmal der Neuzeit. Biologisch wie historisch lautet das entscheidende Stichwort: Selbstbehauptung.

Machiavelli spricht viel über Gründerfiguren. Gründer müssen stets Gewalt anwenden, um Ordnung zu schaffen – und sei es auch nur im Umgang mit der Tradition. Wie Max Weber und Walter Benjamin später, betont Machiavelli immer wieder, dass alles Recht auf Gewalt gebaut sei und alle Legitimität in Illegitimität wurzele. In der Politik spielt Gewalt also eine positive Rolle. Jede Neugründung wiederholt das Urverbrechen. Auch die römische Zeitrechnung »ab urbe condita« hat den Subtext: Am Anfang war die Gewalttat, der Brudermord des Romulus.

Wenn wir bisher von »Staat« gesprochen haben, dann nur im uneigentlichen Sinne. Denn mit dem, was wir im modernen Sinne unter Staat verstehen, haben weder die Polis des antiken Griechenland noch die res publica der Römer noch die civitas terrana des Mittelalters etwas zu tun. Auch Platons Politeia wird ja lediglich aus Mangel eines prägnanten Alternativbegriffs mit Der Staat übersetzt. Wenn wir, gerade im Blick auf Hobbes und Hegel, genauer sein wollen, müssen wir sagen: Machiavelli entdeckte das Politische, aber noch nicht den Staat. Oder um es mit Leo Strauss zu sagen: Machiavelli war der Kolumbus, der den Kontinent des Politischen entdeckte, auf dem Hobbes dann die Strukturen des modernen Staates errichten konnte.

Il Principe, dieses Produkt erzwungener Nachdenklichkeit, gehört noch ganz zum Genre des Fürstenspiegels, denn Machiavelli trennt den Herrscher noch nicht vom Staat. Der dem Staatsbegriff so ähnlich klingende italienische Begriff lo stato meint die Befehlsgewalt, also das konkrete Herrschaftsverhältnis. Lo stato ist nicht der moderne Staat, sondern eher die politische Beute. Und arte dello stato ist noch keine politische Wissenschaft, sondern empirische Herrschaftskunst. Das muss man im Auge behalten, wenn man Machiavelli als den Propheten des modernen Staates feiert.

Machiavelli gelingt also noch keine politische Wissenschaft des modernen Staates, aber doch schon die Begründung der Autonomie des Politischen. Die Idee einer autonomen Politik ohne transzendente Legitimation impliziert, dass die politische Herrschaft ihren Zweck in sich selbst findet. Machiavellis Entdeckung des Politischen im modernen Sinne besteht im Wesentlichen in der Erkenntnis, dass es dem Politiker immer in erster Linie um die Selbstbehauptung der Macht geht. Moderne Macht braucht kein höheres Ziel und setzt ihre Werte selbst. In der modernen Politik geht es nicht mehr um die res publica, sondern um den Willen zur Macht – ja, man könnte sie mit einem Begriff der neueren Systemtheorie geradezu als Autopoiesis des Willens zur Macht verstehen. Im Täuschen, Gründen und Gestalten geht der Wille zur Macht, der charakteristisch ist für das schöpferische Subjekt, weit über die bloße Selbsterhaltung hinaus. Trotzdem ist Machiavellis Fürstenspiegel noch keine Theorie der Macht, eher deren Naturgeschichte, denn im Principe hat sich die Macht noch nicht vom Machthaber emanzipiert.

Mit Machiavelli beginnt, was Max Weber die »Versachlichung der Macht« genannt hat. Das entscheidende Stichwort lautet: sachliche Politik. Jedoch muss die sachliche Politik auch die unvermeidliche Unsachlichkeit des Politischen übergreifen. Das ist die wichtigste Anforderung an die subtile Vernunft der politischen Strategie. Das Vernünftige ist nicht wirklich – das wird erst Hegel behaupten können –, es ist politisch. Diesem Begriff des politisch Vernünftigen entspricht die Haltung, mit kühlem Kopf die Tatsachen zu akzeptieren.

Das oberste Gebot besteht darin, den Staat zu schützen, denn der Staat ist der Schutzherr aller Werte. Deshalb sind politische Aktionen, die den Staat schützen, nicht begründungsbedürftig. Während es bei Hobbes um die Sicherheit der Bürger geht und Locke diese noch um die Sicherheit des Eigentums erweitert, interessiert sich Machiavelli einzig und allein für die Stabilität und Sicherheit des Staates. Staatsräson meint die politische Sachlichkeit, die sich nicht von persönlichen Rücksichten und Leidenschaften irritieren lässt – idealtypisch verkörpert im homo politicus, dem Menschen im Kampf um die Macht. Das ist der extremste Gegensatz zur Brüderlichkeitsethik.

Entsprechend denkt Machiavelli den Fürsten nicht mehr als den Landesherren, der den Frieden und die Ruhe seiner Untertanen garantiert, sondern nur noch als verantwortlich für die Bestandserhaltung der Macht. Diese jenseits von Gut und Böse operierende Staatsräson ersetzt den Staatszweck. Zu ihr gehört, was der Soziologe Niklas Luhmann mit feiner Ironie »Enklaven für unmoralisches Handeln« nennt. Für die Politik im Sinne Machiavellis ist gerade auch die skrupellose Aktion charakteristisch, denn oft liegt das Rettende im Mut zur Schlechtigkeit. Das muss man aus der Perspektive des Ausnahmezustands, also der höchsten Gefährdung, betrachten. Die Staatsräson ist die politische Kunst, den Niedergang aufzuhalten. Der politische Virtuose (uomo virtuoso) tritt gerade im Zeitalter der vollendeten Dekadenz auf.

Machiavelli präsentiert den politischen Kampf stets als Schachpartie mit raffinierten Tricks. Wenn wir das grundsätzlicher fassen, stoßen wir auf das spezifisch Moderne seiner Darstellung: die Emanzipation der Politik von der Moral, ihre Technisierung. Sein technisches Wissen gilt dem Irrationalen von Gefühlen und Glaubensüberzeugungen; das weist schon voraus auf Vilfredo Paretos »Residuen« der unwandelbaren Urgefühle. Um Machiavellis Diskurs mit den Begriffen Paretos zu charakterisieren: Er interessiert sich für die Residuen, also die tiefen Gefühle, nicht für die Derivationen, also die Dogmen und Rationalisierungen.

Mit der ratio status formiert sich eine neue Gestalt europäischer Rationalität. Die Staatsräson emanzipiert das Politische also nicht nur von der Moral, sondern auch vom Recht und macht sich damit von der Rücksicht auf Legitimitätsfragen unabhängig. Im Kern geht es bei der Staatsräson um Bestandserhaltung durch moralfreie Machtpolitik; der Staatszweck ist dann nur noch Ideologie. Für unser Thema ist entscheidend, dass eine spezifisch politische Ethik in der Staatsräson autonom wird und die Alltagsmoral durch ein Risikokalkül ersetzt. Tatsächlich wird bei Machiavelli Risikobereitschaft zu einer entscheidenden Dimension des Politischen.

Es gibt kein Außen der Politik, keine Wahrheit außerhalb der platonischen Höhle, an der sich der Fürst orientieren könnte. Paradox formuliert: Vernünftiges politisches Handeln setzt den Verzicht auf Vernunft voraus. Vor allem geht es um das Risiko des richtigen Zeitpunkts für Entscheidungen. Luhmann hat eine solche »risikobezogene Politik als eine Art naturales Experiment« bezeichnet.

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