Читать книгу: «Sarah Boils Bluterbe», страница 7

Шрифт:

Verdammt, fragt mal jemand nach meinem Befinden?

Ich wusste, er las in diesem Moment meine Gedanken, das Stechen in meinem Kopf wurde langsam zur Gewohnheit. Da ich seit Stunden an leichten Kopfschmerzen litt, tat er es vermutlich schon den ganzen Abend, was mich zur Weißglut brachte. Wieso reagierte er dann nicht, wie ich es erwartete. Ich suchte Reaktion in seinem Gesicht, irgendwo musste doch ein Funke Mitgefühl für mich sein, doch wie immer wirkte sein Ausdruck verschwiegen und neutral. Kein einziges Anzeichen einer Gefühlsregung. Nichts. Kein Zucken mit den Augenbrauen, keine Bewegung in seinen Mundwinkeln, nicht mal eine minimale Bewegung seiner Pupillen. Sein Gesicht wirkte wie das einer Porzellanpuppe, starr und unbeweglich. Eine gewisse Form der Enttäuschung machte sich in mir breit, sorgte dafür, dass ein Gefühl der Verletzlichkeit durch meine Eingeweide kroch und sich in irgendwo in meiner Brust ausbreitete und sich festkrallte. Ich war allein. Allein mit all den Dingen, die ein Mensch gar nicht alleine bewältigen konnte. Nicht zu vergessen, ich war vermutlich auch noch `verrückt`. Plötzlich holten mich alle Emotionen dieses Tages ein.

Wie eine Flutwelle ergriffen sie mich, zogen mich in die aufschäumenden Wellen und peitschten mich durch das Meer, bis sie die letzte Faser meines Seins in die Tiefe zerrten. Ich stieg wie benebelt aus dem Wagen, schlug die Türe zu und nickte ihm noch einmal verwirrt zu. Ich drehte mich in eine andere Richtung, blieb mitten auf dem Gehweg stehen und starrte auf den grauen Asphalt. Ich fühlte mich, wie der plattgetretene Kaugummi, der auf dem Boden klebte und vor sich hin ranzte. Dann brach es aus mir heraus. Ohne zu fragen, ohne es aufhalten zu können. Tränen unaufhörlich und versickerten in meinem Sweatshirt. Ich schluchzte und stand steif wie eine Laterne mitten in der Nacht auf einem leeren Gehweg und heulte. Ich nahm die Welt um mich herum nicht mehr wahr. Machtlosigkeit, Angst und Lähmung klammerten sich an mir fest und meine Beine hatten zu zittern begonnen. Hinter mir schlug eine weitere Autotür zu. Ich nahm es nur noch beiläufig wahr. Erst als jemand seine Hand auf meine Schulter legte und leise sagte: „Hey, das wird schon wieder,“ schluchzte ich noch lauter auf.

„Nichts wird wieder,“ jammerte ich unter Tränen, wandte mich ihm hilflos zu und klammerte mich, bevor er sich versah, an ihn. Ich schmiss mich gnadenlos in seine Arme. Lionel legte verwirrt und völlig perplex wiederum seine Arme um mich. Meinen Kopf platzierte ich auf seiner harten Brust. Der Geruch seines Aftershaves drang mal wieder in meine Nase und das Beben seines atmenden Brustkorbes beruhigte mich ein wenig. Unbeholfen strich er mir übers Haar und knurrte:„Hey, das ist alles gar nicht so schwer. Veränderungen sind auf diesem Planeten einfach Standard. Du wirst dich schon noch daran gewöhnen.“

Ich blickte zu ihm hoch. Sein Kopf neigte sich leicht zu mir und er sah mich an. In seinen Augen sah ich das erste Mal einen warmen, fast schon besorgten und fürsorglichen Ausdruck. Fragend und überrascht flüsterte ich: „Kannst du meine Gefühle auch empfinden?“

„Nein, aber ich kann sie riechen, glaube ich,“ zischte er durch die Zähne. Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, veränderte sich sein Gesicht in rasender Geschwindigkeit.

Ich wollte gerade noch erwähnen, dass er eigentlich gar kein so schlechter Kerl war, da schossen erneut seine Zähne aus dem Kiefer und seine Augen leuchten goldener, als je zuvor, auf. Er schubste mich mit einem kräftigen Stoß von sich und ich schlug schmerzhaft mit dem Rücken gegen einen Betonfeiler. Seine vorher noch raue und beruhigende Stimme verwandelte sich plötzlich in ein dunkles Brummen und Knurren. Ich stöhnte auf. Mein Schulterblatt war geprellt und ich japste nach Luft.

„Was tust du da?“

Mit aufgerissenen Augen stand ich ihm gegenüber. Die Bestie in ihm, zog den linken Mundwinkel hoch und drohte mit einem beängstigen Grollen: „Versuche nie wieder meine Emotionen zu wecken. Ich bin kein Seelentröster für meine Beute. Wenn du mir noch einmal zu nah kommst und mich mit deinen Gefühlen überschwemmst, dann vergesse ich mich und du bist tot.“

Ich? Gefühle? Er ist wohl nicht ganz bei Trost.

„Lionel,“ hauchte ich entsetzt und suchte in der Leere seines Blickes, nach jenem letzten kleinen Stück Leben, dass man Seele nennt. Jenes Gefühl, dass eben noch in seinem Blick lag. Es war verschwunden. Fort!

Ich machte langsam und unbeholfen einen Schritt zur Seite und begann plötzlich zu laufen. So schnell wie meine Beine mich trugen, preschte ich durch die dunkle Seitenstraße, vorbei an den parkenden Autos und dem langen Gitterzaun der den kleinen Friedhof umsäumte. An der nächsten Straßenecke schaute ich noch einmal zurück. Er war fort. Ich lief die letzten Meter nach Hause und kramte den Schlüssel aus der Tasche. Dann schlich ich auf Zehenspitzen durch den kleinen Flur direkt ins Badezimmer. Dort riss ich mir die Klamotten vom Leib und schmiss sie allesamt in die Badewanne. Zum Duschen war es längst zu spät. Ich würde Martin nur unnötig auf mich aufmerksam machen. So verschwitzt wie ich war, tapste ich auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer und legte mich vorsichtig neben ihn ins Bett. Ich schaute wie jedem Abend aus dem Fenster. Der Himmel war in dieser Nacht bewölkt. Das trübe Grau zog über die Wipfel der Bäume hinweg.

Was für eine Nacht.

„Wo kommst Du her?“

Martins Stimme ließ mich zusammenzucken.

„Du bist noch wach,“ stammelte ich und suchte krampfhaft nach eine Ausrede. Sein Schweigen machte es mir nicht einfacher.

„Du glaubst ja nicht, was mir heute passiert ist,“ und so begann meine erste Lüge. Er öffnete leicht die Augen, hob den Kopf an und gähnte: „Da bin ich ja mal gespannt.“

„Es war ne Menge los heute am Rhein, vor meinen Augen ist eine Frau kollabiert, ich habe sie ins Krankenhaus gebracht und gewartet bis ihre Familie kam. Ich wollte anrufen, aber mein Akku war leer und du weißt doch, dass ich mir keine Nummern merken kann.“

Ich hasste Lügen und war froh, dass die Dunkelheit mich in diesem Augenblick schützend ummantelte. Ich hätte ihm dabei nur schwer ins Gesicht sehen können, ohne dass ihm mein schlechtes Gewissen aufgefallen wäre. Aber was für eine Wahl hatte ich? Wie hätte ich ihm erklären sollen, dass ich mich mitten in der Nacht mit einem Vampir unter der Erde herum trieb und dort ein paar Menschen mit weiteren Vampiren ihre Rituale abhielten, um Tieren die Köpfe abzuschlagen? Er hätte sofort meine Mutter informiert und dann wäre die Bombe geplatzt. Nein, da war diese kleine, fast schon unschuldige Lüge sinnvoll.

Oh ich hasse mich dafür.

Martin wirkte kurz irritiert, schien meinen Worten jedoch Glauben zu schenken. Er zog mich zu sich, gab mir einen flüchtigen Kuss und vergrub dann seinen Kopf auf meinem Brustkorb.

„Du bist einfach eine gute Seele, mein Schatz.“

Ich schluckte. Ja, ich war die gute Fee und um mich herum lungerte ein braver Kobold, der natürlich nur Gutes im Schilde führte. Zum Glück schlief er sofort wieder ein und ich atmete erleichtert auf. Ich schloss langsam die Augen. Ich war müde und fertig. Alles was ich jetzt brauchte, war Schlaf und davon eine ganze Menge. Der Ton des Weckers, schlug am nächsten Morgen wie ein Bombenanschlag in meine Gehirnwindungen ein,. Es war viel zu früh. Ich war noch müde und mein Körper fühlte sich wie ein schlaffer, vergessener Sack an, der gefüllt mit zermatschten Lebkuchen war und irgendwo im Keller einer alten Bäckerei vergessen vor sich hin moderte. Kaffeeduft drang in meine Nase. War Martin schon aufgestanden? Ich hatte ihn gar nicht gehört. Mit einem unüberhörbaren Stoß, atmete ich aus. Er saß neben mir am Bett und reicht mir eine große Tasse.

„Hast du gut geschlafen, meine kleine Retterin?“

Ich nickte. Martin strich mir wie einem Dackel übers Haar und sagte:„Schatz, ich muss früher los. Ich muss die Ware beim Händler noch holen. Ich liebe dich, bis später.“

Ich hasse diese dämliche Streichelei über das Köpfchen!

Es ist genauso ekelhaft, wie das ständige Getätschel irgendwelcher Tanten, die mir über den Kopf streicheln und sagen, ich wäre ja so was von groß und erwachsen geworden. Ich stellte den Kaffee auf den kleinen Nachttisch neben mir, reckte und streckte mich und starrte an die Decke. Die Haustüre fiel in Schloss und Martin hatte das Haus verlassen. Ich war allein. Wieder allein mit all meinen Gedanken. Ich ließ Revue passieren, was die letzte Nacht geschehen war, lag eine Weile still da und tat nichts. Rein gar nichts. Immer wieder rollten die vielen Bilder wie eine drehende Spindel vor mir ab. Der Vorgang wiederholte sich etappenweise, es kamen neue Momentaufnahmen hinzu, wechselnd veränderten sie sich in Form und Farbe. Lionel, Vampire, meine Mutter, mein Vater, das Erdloch, Fledermäuse, Kelche und Kerzen.

HILFE!

Kapitel 6

Gegen zehn Uhr stand ich endlich in meinem Sportstudio auf dem Laufband und powerte mich aus. Hier konnte ich die Welt um mich herum für eine kurze Weile vergessen. Aus den großen, alten, schwarzen Boxen drang laute Pop- Musik. Der Bass vibrierte regelrecht in meiner Brust.

An der Wand, genau gegenüber, hing ein großer Bildschirm und lieferte ständig wechselnde Bilder von verschiedenen, wunderschönen Stränden dieser Erde. Der blaue Himmel, die Wellen des Meeres, die Sonne und die unzähligen wunderschönen Buchten mit ihren seichten Stränden entfachten ein unbefriedigendes Fernweh in meiner Seele. Wie gern wäre ich jetzt in diesem Augenblick an einem dieser Flecken Erde, wie sehr wünschte ich, der gestrige Tag hätte einfach nicht existiert. Ich sehnte mich nach diesem `Heileweltgefühl`. Nach taufrischen Wiesen, dem Geruch der Sorglosigkeit und den Stimmen spielender Kinder. Mir war immer noch nicht klar, ob ich mir das alles einbildete, oder ob ich wirklich ein Erlebnis der dritten Art hatte. Meine Gedanken waren verwirrt und mein eigenes Leben entfremdete sich mir von Stunde zu Stunde. Eine mir bekannte und vertraute Stimme riss mich abrupt aus meinen wirren Gedankengängen: „Hey, Sarah, dein Laufprogramm ist schon lange abgelaufen. Pennst du? Du solltest jetzt mal an die Geräte.“

Ich starrte auf die große weiße Uhr an der Wand. Dr Sekundenzeiger tickte seelenruhig weiter. Sie hatte Recht. Ich hatte die Zeit vergessen und erstaunlicherweise war ich kein bisschen außer Atem. Sandra schlenderte kopfschüttelnd zurück zu ihrer Gruppe, die zusammen mindestens tausend Jahre alt war. Sie trainierte morgens die Altengruppe des St. Georg Stiftes. Die Damen mit ihren Cellulitis-Schenkeln und der schlaff hinabhängenden Haut, bemühten sich tatkräftig, die leichte Eisenstange in die Höhe zu heben und sie über ihrem Kopf kreisen zu lassen. Verwirrt und irritiert begab ich mich an den Bauchtrainer. Meine Gedanken trieben durchs Nirgendwo und versteckten sich in einem Wirrwarr von vielen aufeinanderfolgenden Kindheitserinnerungen und absurden Kombinationen und Vorstellungen, die meinen Vater betrafen. Bizarre Abgründe taten sich auf. Ferngesteuert wechselte ich die Trainingsgeräte und durchlief den Gerätezirkel ohne Mühe. Roland, einer der täglich hier anwesenden Muskelpakete schlenderte irgendwann in meine Richtung. Breitbeinig baute er sich vor mir auf. In seinem Gesicht spiegelte sich Erstaunen und fast schon ein wenig Neid wieder: „ Hey, du hast ja ne ordentliche Wumme heute. Meine Güte, dat habe ich aber auch noch nicht bei `ner Frau gesehen, Wat haste jenommen? Wat zahlste denn dafür? Dat scheint ja ein mega geiles Zeug zu sein.“

Ich blickte kurz hoch, starrte in ein aufgequollenes Anabolika-Gesicht und ließ die Eisenstange los. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich pausenlos die Expander und Gerätschaften nutze, ohne gleich einen Schwächeanfall zu unterliegen. Alles fühlte sich an diesem Morgen so leicht an. Am Spinat konnte es nicht gelegen haben, ich hatte schon ewig keinen mehr gegessen. Ich nickte ihm nervös zu, sprang plötzlich wie von der Tarantel gestochen auf und lief die Treppen zur Umkleidekabine hinunter. Roland starrte mir verblüfft hinter her.

„Ehj, dat war doch nit so jemeint.“

Seine Worte hallten durch die große Halle.

„Es ist nicht deine Schuld,“ murmelte ich und lief weiter.

Was geschieht hier eigentlich mit mir?

Das beklemmende Gefühl wurde immer stärker und ich rang nach Luft. Atme durch, das bildest du dir jetzt alles ein. Du hast über Nacht keine Superkräfte bekommen. Ich musste dringend duschen, ich riss den Spind auf, schlüpfte schnell in meine Klamotten, warf die Sporttasche über meine Schulter, preschte die Treppe hinauf und fuhr schnurstracks heim. Im Treppenhaus angekommen, fischte ich im Briefkasten nach der Post, spurtete die wenigen Stufen hinauf, schloss die Wohnungstüre auf, warf den Stapel Briefe unbeachtet in die Küche und stellte mich erst mal unter die Dusche. Das Wasser tat gut. Es floss warm über meine Haut. All die Gedanken, die meinen Geist lähmten versickerten allmählich im gluckernd im Abfluss. Das leise Prasseln der feinen, kleinen Wasserstrahlen beruhigte mich ein wenig. Doch es war nur von kurzer Dauer. Meine noch aktiven Gehirnzellen ließen sich nur kurz ablenken. Ich schloss die Augen. Mein Gehirn rief erneut die Daten des letzten Tages ab. Doch plötzlich erschien Lionel in seiner ganzen Gestalt vor meinem geistigen Auge. Ein vertrautes und befremdliches Gefühl zu gleich. Wer war er?

Und vor allem, was wollte er wirklich von mir? Und zu guter Letzt, war er nun Wirklichkeit, oder gehörte ich schnellstens in eine Klinik damit meine neurotische und schizophrene Persönlichkeitsspaltung behandelt wurde? Der Gedanke machte mir Angst. Erschrocken riss ich die Augen auf, stutzte für einen Moment über das Gefühl, das unerwartet durch meinen Körper fuhr und sah mich erschrocken um. Ich fühlte mich auf seltsame Weise beobachtet und zog den Duschvorhang dichter zu. Der nächste Griff galt dem Waschgel. Eingeschäumt, abgeduscht und mich wieder frisch fühlend, schaltete ich endlich das warme Wasser aus. Ich schnappte mir mein Handtuch und wickelte es provisorisch um meinen Brustkorb. Der große Spiegel über dem Waschbecken war beschlagen. Im Badezimmer dampfte es wie in einem türkischen Hamam. Es war mir, als läge der Nebel aus den Träumen der letzten Nacht plötzlich in meiner Wohnung. Und wieder war da dieses seltsame Gefühl, dass ich nicht alleine war. Als wäre jemand ganz nah hinter mir. Spürbar nah! Ich wandte mich blitzschnell um. Doch da war niemand. Kopfschüttelnd griff ich nach einem weiteren Handtuch und wollte gerade über den Spiegel reiben, als sich dort ganz verschwommen und schemenhaft ein Schatten auftat. Ich stolperte erschrocken einen Schritt zurück. Ein Schrei entwich meiner Kehle.

Was in Gottes Namen ist das nun wieder?

Gebannt blickte ich auf das beschlagene Glas. Langsam bildete sich aus dem Fleck eine Gestalt, die sich langsam näherte, Schritt für Schritt, als gäbe es hinter dem Spiegel noch eine andere Welt. Ich blinzelte und traute meinen Augen nicht.

Das gibt es doch nicht.

Das ist doch der Kerl von letzte Nacht. Der Mann aus meinem Traum. Meine linke Hand klammerte sich an eine der silbernen Stangen, wo sonst die Handtücher hingen. Ich blickte in das Gesicht meines angeblichen Vaters und schüttelte den Kopf.

„Geh weg, du bist nicht da.“ Stotterte ich nervös. „Verschwinde endlich. Dieser Albtraum muss doch endlich mal ein Ende haben.“

Trotz meiner Unbehaglichkeit verspürte ich bei seinem Anblick jedoch keine tiefer gehende Angst. Ich hörte durch das verschmierte und immer noch beschlagene Glas eine Stimme dringen: „Halte dich von Lionel fern. Er wird keine Ruhe geben, bis er hat, wonach er sucht.“

Ich beugte den Kopf ein wenig vor und betrachtete die kleine Gestalt hinter der Scheibe. Glauben konnte man das alles hier nicht. Und verstehen ebenfalls nicht. Alles war plastisch und unrealistisch. Es erinnerte mich an Lewis Carrolls: Alice im Wunderland und das Kaninchen hinter dem Spiegel.

„Ja,“ flüsterte ich. Ganz bestimmt. Er hatte Recht. Ich sollte mich schützen. Und zwar vor Lionel, mein neuer imaginärer Freund. Aber vielleicht bin ich auch das krasse Gegenteil von multipler Persönlichkeit. In mir wohnen keine zwei einander fremden Menschen, dafür projiziere ich sie in meine Außenwelt. Auch nicht schlecht.

Ich begann mit dem Handtuch über den Spiegel zu scheuern, als könnte man das Bild einfach wegradieren. Ich weiß nicht, wie lange und intensiv ich das Glas noch polierte, obwohl die Gestalt längst weg war. Irgendwann verließ ich völlig geistesabwesend das Bad. Ich schlenderte in die Küche, griff nach dem Stapel Briefe, setzte mich an den Bartisch und öffnete einen nach dem anderen. Die üblichen Werbebriefe, die täglich einflatterten stapelte ich sofort auf einen Haufen für das Altpapier. Zuletzt hielt ich einen grauen Umschlag in der Hand. Vorne prangte mein Name in kleinen, säuberlich geschriebenen Buchstaben. Ich zog eine ebenso graue Karte aus dem Umschlag heraus und schaute verwundert auf die Aufmachung. Schlicht und ohne jegliche Verzierung. Ein mit schwarzer Tinte geschriebener Text ließ langsam aber sicher eine tödliche Wut in mir aufsteigen.

Mein Benehmen gestern war unverzeihlich. Dieses Verhalten ist nicht zu entschuldigen. Seit über 600 Jahren habe ich die volle Kontrolle über das Tier in mir. Ich weis nicht, was mit mir gerade passiert. Du musst der Schlüssel dazu sein. So etwas wird jedoch nicht mehr vorkommen. Sehen uns am Abend.

Lionel

Ich faltete sofort die Karte zurück in den Umschlag, lief ins Wohnzimmer und versteckte sie hektisch in meiner alten Fotokiste.

Jetzt bist du zu weit gegangen Bursche.

Lionel musste verrückt geworden sein. Schließlich hätte auch Martin die Post in die Finger bekommen können. Verdammter Spinner. Ich werde ihn das nächste Mal einfach umbringen. Ach ja, einen Holzpflock brauche ich dann ja wohl. Aber wo bekomme ich den bloß her? Und benutzt man die Teile wirklich gegen Vampire? Vermutlich schon. Ich konnte doch schlecht in den Baumarkt gehen, und fragen, hey, wo liegen denn hier die angespitzten Holzpflöcke, oder haben sie sonst noch irgendein Insektenspray gegen Vampire? Ich war verloren, ganz klar. Ich hätte meine Mutter anrufen können, aber ich wollte sie nicht tiefer mit hineinziehen, als unbedingt nötig. Davon abgesehen, wusste ich immer noch nicht, ob alles, was hier geschah, real war. Ich sprang erneut auf, und holte noch einmal die Karte aus dem Pappkarton. Sie fühlte sich echt an. Sie sah echt aus. Also musste ich mich in der unzweifelhaften Realität befinden. Dann viel es mir wie Schuppen von den Augen. Was war, wenn ich wirklich multipel war und die Zeilen an mich selbst geschrieben hatte? Mir lief ein Schauder über den Rücken. Der Klingelton meines Handys riss mich aus meinen Gedanken. Ich stolperte durch den Flur und riss dabei meine afrikanischen Holzfiguren um, die auf dem Boden gleich neben der Wand standen.

„Ja, Mertens.“ Hechelte ich und rieb mir ächzend über mein Schienbein.

„Hey, ich bin`s. Mary. Was stöhnst du denn so? Stör ich gerade?“ Ich konnte ihr selten hämisch Grinsen genau vor mir sehen. Ich schüttelte den Kopf, wobei mir einfiel, dass sie mich gar nicht sehen konnte.

„Nein, ich hab diese dämlichen Geistervertreiber aus Afrika gerade umgerannt.“

„Na, wenn`s nur das ist. Geht es dir ansonsten besser?“

Ich konnte Marys Belustigung durch das Handy anhand ihrer Stimme hören und erwiderte: „Nein, nicht wirklich. Aber ich brauche dich jetzt. Kann ich zu dir rüber kommen?“

Mary willigte sofort ein und tat gleich ihre Freude kund. Ich machte mich in Windeseile fertig und brauste wenige Augenblicke später los. Nach einer halben Stunde saß ich wie eingefalteter Schmetterling auf ihrem Sofa und starrte sie nach meiner Beichte erwartungsvoll an. Mary zog die Augenbrauen hoch und lugte durch ihre rote, glänzende Brille. Sie verdrehte die Pupillen und kräuselte die Lippen, als wollte sie just in diesem Moment einen Fisch knutschen. Ein quietschendes und schnalzendes Geräusch quäkte durch ihre Zähne.

„Sag mal, Spaß beiseite, nimmst du Drogen? Ich meine, rede doch mit mir. Oder hat Martin dir irgendwas getan?“

Ich seufzte, es klang alles auch wirklich zu verrückt. Wieso sollte sie mir auch glauben schenken. Es klang nicht nur verrückt, es war verrückt.

„Nein Mary, nein. Hör mir bitte zu. Das ist kein Traum, ich nehme keine Drogen, und Martin weiß von alledem nichts. Verdammt glaub mir doch. Entweder ich bin völlig geistig gestört oder die Welt ist wirklich ein merkwürdiger Planet. Ich war heute morgen im Studio und wenn ich mir das nicht eingebildet habe, dann scheint sich auch mein Körper zu verändern. Etwas passiert mit mir und Lionel wird wohl der Auslöser zu sein. Oder das plötzliche Erscheinen meines Vaters.“

Mary nickte kurz, sie brauchte eine Weile, um das alles zu verstehen. Dann grinste sie und prustete: „Gehen wir jetzt auf Vampirjagd? Ich meine so wie Buffy?“

„Mary, jetzt hör aber mal auf. Das ist nicht witzig.“

Schuldbewusst schenkte mir meine beste Freundin einen unschuldigen Hundeblick und schlug die Augen unter ihrer kleinen Brille theatralisch auf.

„Klaro, ich will es mal so ausdrücken. Wenn diese Vampire, die es ja gibt, wie du sagst, eine Art Weltherrschaft erlangen wollen, dann würden sie uns ja alle auffressen wollen…ähm..ich meine Austrinken….“

Sie gluckste kurz und fuhr mit einem krampfhaft unterdrücktem Lächeln fort.

„Aber das wäre doch absoluter Blödsinn, denn wenn sie alle Lebewesen mit der Zeit vernichten, und keine Menschen mehr da wären, dann würden sie ja irgendwie gar nicht mehr existieren können. Welche Quelle sollten sie dann noch anzapfen? Also wo sollte der Sinn darin liegen?“

Sie verdreht die Augen und blickte mich ein wenig fassungslos an. Ich rieb mir durchs Gesicht und versuchte die Anspannung zu lösen.

Бесплатный фрагмент закончился.

942,66 ₽