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Kreatives Schreiben ist vor allem auf den Schreibenden gerichtet und darauf, dass er, gegebenenfalls auch durch Schreiben in literarischen Formen, schreibend eigene Kreativität entbindet und erfährt, wobei ein mögliches besseres Verstehen bestimmter literarischer Texte mehr ein Nebenprodukt ist. Produktiver Umgang mit Literatur ist vor allem auf den literarischen Text gerichtet und darauf, dass er durch eigenes Schreiben besser verstanden wird, wobei die mögliche Förderung von Kreativität des Schreibenden ein bloßer Nebeneffekt sein kann.34

Wenn Ruf in seinen Ausführungen zum Kreativen Schreiben auf Waldmann und den handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht verweist,35 dann ist die Abgrenzung an dieser Stelle nicht präzise genug. Geht Waldmann davon aus, dass die Schreibenden durch handlungs- und produktionsorientierte Verfahren Differenzerfahrungen mit einem literarischen Phänomen machen, die sie u.a. dazu befähigen, inhaltliche, strukturelle oder stilistische Besonderheiten in der Literatur nicht nur wahrzunehmen, sondern auch in ihrer Wirkung beschreiben, analysieren und einschätzen zu können, so definiert Spinner das Kreative Schreiben folgendermaßen:

Kreative Verfahren sind eine Möglichkeit, im Literaturstudium entdeckend zu lernen; sie erlauben es, literarische Strukturen und inhaltliche Problemdiskussionen durch eigene Gestaltung zu erkunden. Dieses entdeckende Lernen bleibt nicht auf kognitive Einsicht beschränkt, sondern schließt emotionale Erfahrung ein und ermöglicht neben dem analytischen Vorgehen ein ganzheitliches Erfassen. Durch die Einbeziehung kreativer Verfahren in die literaturwissenschaftliche Lehre kann literarische Bildung wieder als etwas vermittelt werden, was Geist, Gefühl und eigenes Tun in gleichem Maße anspricht und anregt.36

Das Anführen von verfremdenden und nachahmenden Verfahren zur Erkundung der Literatur zeigt gleichermaßen die Nähe und die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen handlungs- und produktionsorientierten sowie kreativen Verfahren auf. So bleibt beispielsweise offen, ob es sich bei der Anwendung kreativer Verfahren bereits um Kreatives Schreiben handelt oder um handlungs- und produktionsorientierte Verfahren. Das Ziel der Erkundung literarischer Strukturen dürfte beiden Ausrichtungen gemeinsam sein, ebenso das Zusammenspiel emotionaler und kognitiver Ansätze.

Betrachtet man in diesem Zusammenhang die Kritik, die am HPU geäußert wurde und wird, dann lassen sich wesentliche Punkte auch auf das Kreative Schreiben übertragen. Dies betrifft die mangelnde theoretische Fundierung, das unklare Verhältnis des eigenen Textprodukts zum literarischen Ausgangstext sowie die Frage nach der Intention des Schreibens. Ungeklärt in der didaktischen Diskussion sind zudem Bewertungsaspekte. Die Tatsache, dass gestaltende Textformen im Abitur nicht mehr prüfungsrelevant sind, beweist, dass auf die aufgezeigten Fragen keine befriedigenden Antworten gegeben werden konnten.37 Schaffen es Praktiker:innen und Didaktiker:innen, die sich mit der Implementierung des Aufgabenformats des materialgestützten Schreibens beschäftigen, nicht, hier Lösungsansätze anzubieten, dann bleibt zu befürchten, dass das materialgestützte Schreiben ein ähnliches Schicksal ereilt wie das gestalterische Schreiben. Die verspätete Einführung des materialgestützten Schreibens in einigen Bundesländern zeigt, dass die Chancen des Aufgabenformats, eine Erhöhung der Schreibkompetenz zu bewirken, nicht erkannt wurden.38

I.3.4.1 Der Versuch einer Neuorientierung: Das literarische Schreiben

Das literarische Schreiben soll in diesem Zusammenhang als ein Ansatz verstanden werden, der eine Neuausrichtung sowohl des HPU als auch des Kreativen Schreibens vornimmt. Das von den Literaturdidaktikern Abraham und Brendel-Perpina zusammen mit dem Literaturhaus Stuttgart initiierte Projekt nimmt die Ausbildung von Lernenden und Lehrenden gleichermaßen in den Blick. Dabei versteht sich das literarische Schreiben als literaturpädagogischer Ansatz mit dem Ziel, Menschen für Literatur zu interessieren und ihnen Schreibkompetenzen zu vermitteln, indem nicht nur Lesestoffe zur Verfügung gestellt werden, sondern auch Verfahren des produktiven Umgangs mit Literatur erprobt werden. In Schreibwerkstätten rücken handwerkliche statt analytisch-hermeneutische Fragestellungen ins Zentrum. Es geht um das Lehren der Schriftlichkeit, um ein Entdecken der Möglichkeiten des gestaltenden Schreibens. Abraham und Brendel-Perpina verstehen somit literarisches Schreiben als Element der Persönlichkeitsbildung aufgrund der Tatsache, dass

Schreiben als Medium, typischer Weise verstanden als Medium der Distanz und der kognitiven Be- und Verarbeitung pragmatischer Probleme (z.B. im erörternden Schreiben in der Sek. I), damit noch unter seinen Möglichkeiten bleibt. Schreiben ist auch ein Medium der Annäherung an das Fremde und der Erforschung des Selbst.1

Damit ist weniger eine curriculare Verankerung intendiert, denn eine Selbstbildung.

Ausgehend von der Feststellung, dass das schulische Schreiben überwiegend auf pragmatische Schreibaufgaben ausgerichtet ist, stellt das literarische Schreiben als Ansatz die zentrale Forderung, dass der Deutschunterricht ähnlich wie der Bereich der Musik und der Kunst auch praktisches Arbeiten beinhalten müsse. Während der handlungs- und produktionsorientierte Literaturunterricht das Schreiben überwiegend in den Dienst des Textverständnisses stellt und sich damit als Teil der Hermeneutik versteht, verfolgt für Abraham und Brendel-Perpina das Kreative Schreiben einen eher kreativitätsfördernden Ansatz. Das literarische Schreiben aber orientiert sich am literarischen Werk selbst und verortet sich demnach näher bei der der Literaturwissenschaft, denn bei der Linguistik.

Während in den Fächern Kunst und Musik seit jeher neben der Rezeption auch das eigene Hervorbringen einen festen Platz hat – dort ist das Ästhetische viel selbstverständlicher als im Literaturunterricht eine Tätigkeit –, hat sich das Fach Deutsch lange schwer damit getan, „literarischen Dilettantismus“ zuzulassen oder gar positiv zu würdigen.2

Dies ist u.a. in der Tatsache begründet, dass im Laufe des 19. Jahrhunderts in der Schreiberziehung weniger Kreativität und persönlicher Ausdruck im Fokus standen, denn Genauigkeit und Sprachrichtigkeit der Darstellung.

Diese einseitige Ausrichtung der Schreibdidaktik ist für Abraham und Brendel-Perpina der Anlass der Gründung einer eigenständigen

Didaktik Literarischen Schreibens, die in den Traditionen der subjektorientierten Formen kreativen Schreibens und der literaturdidaktisch begründeten Produktionsorientierung ihren Ausgang nimmt, aber über beide Zielorientierungen hinausweist, indem sie sich als produktions- und prozessorientierte Literaturpädagogik versteht.3

Betrachtet man die Grundsätze der Produktionsästhetik, dann steht die Erlernbarkeit des Schreibens im Zentrum, indem die Schreibenden sich mit verschiedenen Gattungen, Formen oder Genres auseinandersetzen. Abraham und Brendel-Perpina heben darauf ab, dass dies keine neue Forderung des Deutschunterrichts sei. Für das literarische Schreiben ist die „Vorstellung des verbesserbaren Entwurfs“ und damit die „Prozessorientierung“ entscheidend.4 Angestrebt ist eine Erweiterung des Schreibbegriffs, wie dieser beim produktionsorientierten Schreiben eingeführt wurde. Im Gegensatz zur Literaturdidaktik geht es der Literaturpädagogik aber weniger um eine literarische Bildung, sondern um ein Ausbilden von Vorstellungen, Perspektiven und kritischem Denken. Das literarische Schreiben „fokussiert viel mehr die tätige (schreibende) Erkundung der Literatur als einen ästhetischen Diskurs.“5 Literatur wird in diesem Zusammenhang als eine fiktionale Ordnung der Wirklichkeit verstanden, die während des Lesens vom Leser bzw. der Leserin nicht nur – emotional – nachvollzogen, sondern auch durch das Füllen der Leer- und Unbestimmtheitsstellen (re-)konstruiert werden muss. Dieses Berühren oder Verunsichern durch Literatur aber soll kein einsamer Akt beim Lesen sein, sondern stellt während des gemeinsamen Schreibens, des Planens, Entwerfens und Überarbeitens eine kulturelle Praxis her. Ziel ist es nicht, Künstler hervorzubringen, sondern dichterischen Ausdruck zu erfahren und aktiv über literarische Formen zu verfügen. Am Ende eines solchen Schreibprozesses soll ein authentisches Schreiben stehen.

Literaturpädagogik erreicht demnach ihre Ziele nicht mit Hilfe von Literatur. Sie ist vielmehr eine „auf Literatur als kulturelle Praxis gerichtete Pädagogik: Sie sorgt dafür, dass einerseits Literatur ihre Leser/innen findet, und andererseits diese ihre Literatur (…)“6. Gleichzeitig beinhaltet die Literaturpädagogik aber auch das Planen und Entwerfen und Diskutieren von Texten und damit das poetische Verstehen. Betrachtet man diese Definitionen, dann fällt auf, wie schwierig eine eindeutige Abgrenzung vom Kreativen Schreiben und vom handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht ist. So ist es der produktionsorientierten Literaturpädagogik eigen, dass sie davon ausgeht, dass Gattungswissen und Kontextualisierungsfähigkeiten Voraussetzung dafür sind, ein Werk zu rezipieren, infolgedessen zu bewerten und zur kulturellen Praxis werden zu lassen. Dem handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht hingegen geht es im Wesentlichen darum, durch schreibendes Erkunden sich dem literarischen Text und seinem Verständnis anzunähern sowie Kennzeichen von Gattungen, Epochen und Stilmerkmalen zu erarbeiten. Die ästhetische Tätigkeit wird somit unmittelbar mit den Prozessen der Rezeption und Interpretation verbunden.

Eine Schwierigkeit der Abgrenzung liegt auch in der Bewertung der Kreativität begründet. Abraham und Brendel-Perpina weisen darauf hin, dass der „seinerzeit etablierte Kreativitätsbegriff als Hochwertbegriff in sozialen, politischen und pädagogischen Diskursen (…) die Schreibdidaktik nicht nur bereichert, sondern auch belastet“7 hat. So ging zunächst vom Kreativen Schreiben eine große Wirkung v.a. in Bezug auf eine Emanzipation von der Hochkultur aus. Das Verhältnis zwischen dem literarischen Ausgangspunkt und dem entstandenen Produkt ist in der kreativen Schreibdidaktik jedoch nur von geringem Interesse gewesen. Daraus resultieren u.a. die Schwierigkeiten der Bewertung offenerer und vor allem kreativerer Aufgabentypen.

I.3.4.2 Die Rolle des HPU und des Kreativen Schreibens für das Aufgabenformat des materialgestützten Schreibens

Kann die Interpretation als eine Verständigung über das Verstehen eines Textes aufgefasst werden, dann haben die vorangegangenen Ausführungen gezeigt, wie notwendig eine Auseinandersetzung über kreative Schreibprozesse ist. Schüler:innen werden nur dann in der Lage sein, materialgestützt und adressatenbezogen zu schreiben, wenn sie auf Kompetenzen zugrückgreifen können, die über das Wiedergeben des Inhalts eines Textes und seine Analyse hinausreichen. Die zentralen Herausforderungen des Aufgabenformats des materialgestützten Schreibens betreffen dabei unterschiedliche Textformen: Erfordert die Positionierung zu einer strittigen Thematik ein erklärendes und argumentierendes Schreiben, so müssen die Schreibenden einen Informationstransfer vollziehen, um die Inhalte der Materialien nicht nur zu analysieren, sondern auch in die eigene Argumentation zu integrieren. Vor allem die kommunikativen Funktionen des Zieltextes aber und die damit verbundene Adressierung und Situierung erfordern ein gestaltendes, kreatives Schreiben. Das Nebeneinander der unterschiedlichen Textsorten erhöht die Komplexität des Aufgabenformats und die Anforderungen an die Flexibilität der Schreibenden.

Sowohl handlungs- und produktionsorientierte Verfahren als auch kreative Schreibphasen erfordern von den Schreibenden eine dezidierte Haltung gegenüber dem literarischen Text sowie dem Gegenstand, zu dem geschrieben wird. So wird der literarische Text zum Ausgangspunkt für den eigenen Schreibprozess. Das Schreiben wiederum führt im nächsten Schritt zu einem tieferen Verständnis der Literatur selbst, über die geschrieben wird. Der von der Interpretation ebenso wie von der Erörterung abweichende Zugang zur Literatur führt zu einem grundlegenden Wandel in der Einschätzung und Gewichtung von Literatur. Dass besonders Ansätze der angloamerikanischen Schreibforschung die Grundlage für die Konzeption von Schreibarrangements zum materialgestützten Schreiben sein können, wird in Kapitel II.4 theoretisch fundiert und in Kapitel III.5 empirisch erprobt und evaluiert.1 Das Ineinanderverwobensein von Schreib-, Lese- und Verstehensprozessen spiegelt sich auch in der Forderung führender amerikanischer wie deutscher Universitäten wider, eine „Gleichberechtigung handwerklicher Schreib-Methodik, rhetorisch-stilistischen Techniken und literaturwissenschaftlicher Theorie“2 herzustellen und damit die Kluft zwischen Theorie und Praxis zu verringern.

Obwohl weder das Kreative Schreiben noch das literarische Schreiben einen festen, in den Bildungsplänen verankerten Platz im Deutschunterricht haben und auch handlungs- und produktionsorientierte Methoden zwar in den letzten Jahrzehnten üblicher, aber in Bezug auf Intention, Auswertung und Bewertung noch sehr uneinheitlich gehandhabt werden,3 lassen sich Erkenntnisse und Konsequenzen aus diesen im Deutschunterricht praktizierten Schreibformen für das materialgestützte Schreiben ableiten: Je regelmäßiger Schüler:innen Schreibübungen durchführen, desto größer ist die Chance, dass sie Wert- und Qualitätsmaßstäbe von Literatur erkennen und diese auf die eigene Textproduktion übertragen können. Die Wahrnehmungsfähigkeit wird demnach durch regelgeleitetes Kreatives Schreiben geschult. Je sicherer sich die Schreibenden im Spannungsfeld zwischen kreativer und analytischer Tätigkeit bewegen und ermutigt werden, Texte zu planen, zu verbessern, zu diskutieren und zu redigieren und dabei erfahren, dass Schreiben gleichermaßen ein Prozess wie eine künstlerische Ausdrucksmöglichkeit ist, desto leichter wird es ihnen fallen, sich mit den vorgegebenen Materialien im Rahmen des materialgestützten Aufgabenformates auseinanderzusetzen. Die Schüler:innen werden die unterschiedlichen Positionen leichter erkennen und gegeneinander abwägen können und die Konstruktionsprinzipien der Texte für die eigene Textproduktion nutzen können. Kreative Schreibprozesse beinhalten dabei immer ein entdeckendes Lernen: Durch Perspektivübernahmen, Umschreiben eines Textes oder Paralleltexte werden kognitive Erfahrungen mit emotionalen gekoppelt. Diese Verbindung stellt eine elementare Voraussetzung für das Entwickeln eines eigenen Standpunktes dar. Es geht dabei weniger um das Nachahmen, denn um die Einsicht in das Gemachtsein von Texten. Je leichter und spielerischer Bauprinzipien – schreibend – erfahren werden, desto flexibler können Schüler:innen eigenständige, adressatenabhängige Texte formulieren.

II Didaktisches Konzept
II.1 Zur Theorie des Lesens und Schreibens im Rahmen materialgestützter Schreibaufgaben

Wenn im Rahmen materialgestützter Schreibaufgaben Essays, Kommentare, Reden oder Offene Briefe auf der Basis multitextueller Materialien verfasst werden sollen, so definieren Aufgabenstellung und der darin festgelegte Zieltext die Textproduktion. Doch auch die Situierung und Adressierung der Aufgabe beeinflussen die Sprachhandlungen, die dem Schreibprodukt zugrunde liegen. Durch das Zusammenspiel von Aufgabenstellung, Situierung und Adressierung wird die Komplexität des Aufgabenformates maßgeblich bestimmt. Die Anforderungen an ein Lese- und Schreibmodell in Bezug auf materialgestützte Schreibaufgaben sind demnach zunächst, die Besonderheiten des Aufgabenformats an die Textrezeption und -produktion darzustellen, eine Aufgabenanalyse zu ermöglichen und gleichzeitig ein Instrumentarium zur Verfügung zu stellen, um die Schreibschwierigkeiten zu antizipieren und davon abgeleitet Interventionen in Form von Schreibarrangements planen und abzubilden zu können.

Ziel einer Auseinandersetzung mit Modellen sollte demnach die Klärung der Frage sein, „wie der Schreib- und Aufsatzunterricht an unseren Schulen verbessert, reformiert oder gar neu konzipiert werden kann“.1 Definieren Marx und Steinhoff unterrichtsbezogene Interventionen als jenes Handeln, das „die Erwerbsprozesse der Lernenden“ beeinflusst, so konstatieren sie, dass die Unterrichtspraxis in der Regel auf „subjektiven Theorien“ beruht.2 Empirische Untersuchungen aber benötigen nicht nur Gütekriterien, sondern auch theoretische Modelle, die die Grundlage der Konstruktion der Interventionen ebenso wie ihrer Auswertung darstellen. Dabei sollen beim Schreiben die Dimensionen in den Blick genommen werden, die sich mit den übergeordneten Fragen der Planung und Überarbeitung, also mit der Textproduktion, beschäftigen. In diesem Zusammenhang versteht Molitor-Lübbert das Schreiben als mentalen und sprachlichen Prozess.3 Wenn im Folgenden Schreibmodelle dargestellt werden, so beziehen sich diese nicht auf graphomotorische Prozesse, sondern auf die der Textproduktion.

Da dem Schreibprozess materialgestützter Schreibaufgaben in der Regel das Lesen der Aufgabe und der Materialien vorausgeht und das Schreiben auf der Basis des reading-to-write4-Ansatzes erfolgt, soll zunächst auf die Rolle des Lesens sowie auf Modellierungsmöglichkeiten dieser Prozesse eingegangen werden. So bestimmen die Aufgabenkonzeption, Adressierung und Situierung maßgelblich den Leseprozess. Dies betrifft beispielsweise die Festlegung der Reihenfolge der zu lesenden Texte, die Auswahl der Texte und die Art der Lektüre.

Die Darstellung der zentralen Lese- und Schreibmodelle wird anhand der bereits in der Einleitung angeführten Beispielaufgabe des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) zum materialgestützten Schreiben erläutert, konkretisiert und kritisch diskutiert. Es wird deutlich, dass nicht nur eine „Vernachlässigung sprachlicher Wissensbestände“5 ein entscheidendes Problem der Modelle ist. Wenig berücksichtigt wird auch die literarisch-ästhetische Dimension des Aufgabenformates in Bezug auf die Rezeption literarischer Texte und die Produktion der jeweiligen Zieltexte: So haben beispielsweise ein Essay oder ein Kommentar andere Kriterien in Bezug auf den Inhalt, Aufbau und die sprachliche Gestaltung zu erfüllen als eine Erörterung. Ebenso erfordern literarische Texte, die als Materialien präsentiert werden, andere transitorische Kompetenzen als Sachtexte.6

II.1.1 Die Rolle des Lesens im Rahmen materialgestützter Schreibaufgaben

Die Komplexität materialgestützter Schreibaufgaben erfordert Modelle, die nicht nur die Multitextualität, sondern auch die Interaktion von Lese- und Schreibprozessen abbilden. Lisa Schüler verweist in ihren Ausführungen darauf, dass zwar ausreichend Modellierungen für den Schreib- und den Leseprozess existieren. Modelle jedoch, die die Synthese in den Blick nehmen und untersuchen, wie die Textrezeption den Schreibprozess bedingt und welche Einflüsse die Textproduktion auf das Lesen haben, stehen noch aus.1 Da besonders beim materialgestützten Schreiben diese Prozesse jedoch nicht nur nacheinander ablaufen, sondern ineinandergreifen, und man nicht davon ausgehen kann, dass das Bearbeiten der Aufgabe eine bloße Verbindung von Rezeptions- und Produktionsprozessen darstellt, ist eine Integration erforderlich. Diese Notwendigkeit belegen auch die Ergebnisse der empirischen Untersuchungen in der Mittel- und Oberstufe.2 Obwohl die Lektüre von Sachtexten und literarischen Texten den Schülerinnen und Schülern durch die Aufgabenformate der Analyse, Interpretation und Erörterung bekannt ist und auch das Verfassen des Zieltextes in der Regel die Schreibenden nicht vor eine unbekannte Herausforderung stellt, zeigen die entstandenen Schüler:innentexte, dass das Aufgabenformat zusätzliche Anforderungen enthält, die sich nicht aus einer bloßen Addition der Lese- und Schreibprozesse ergeben.

Zudem kann ein einzelner zu lesender Text eine textinterne Relevanz aufweisen, die jedoch in Bezug auf die konkrete Schreibaufgabe nur bedingt von Bedeutung ist. Damit verschiebt sich die Bedeutung zugunsten des Schreibprozesses. Welche speziellen Elemente des Textes eine Relevanz haben, ist demnach nicht – wie beispielsweise bei einer Interpretation – textimmanent, sondern aufgabenspezifisch zu beurteilen. Obwohl Parallelen zwischen Schreib- und Leseprozessen bestehen, die beispielsweise die Phasen der Planung, des prozeduralen Wissens und der metakognitiven Prozesse betreffen,3 lässt sich festhalten, dass „anspruchsvolle Lese- und Schreibfähigkeiten wegen des Schriftsprachbezugs zwar theoretisch verwandte, empirisch aber unterschiedliche Kompetenzen bilden“.4

Welche Schwierigkeiten für die Bearbeitenden einer materialgestützten Aufgabe darin bestehen, beständig zwischen der Rolle der Lesenden und der Schreibenden zu wechseln, verdeutlicht eine Analyse der im Rahmen der empirischen Untersuchungen entstehenden Schreibprodukte: So verweisen beispielsweise Schüler:innen in den Zieltexten des Redemanuskripts oder des Kommentars auf Materialien, die den Adressat:innen nicht zur Verfügung stehen und die diese demzufolge nicht kennen.5 In diesem Moment beanspruchen das Lesen und das Verstehen der Materialien ein solches Maß an kognitiven Kapazitäten, sodass die Adressierung des Zieltextes nicht mehr berücksichtigt wird. Die inhaltliche Ebene des Textes steht im Vordergrund.

Im Gegensatz zum Interpretieren, bei dem die Rezeption des Textes eine in der Regel vollständige Analyse impliziert, erfüllt das Lesen multipler Materialien im Rahmen materialgestützter Aufgaben andere Funktionen. So können die Informationen der Materialien konsistent, sich gegenseitig ergänzend oder widersprüchlich sein; die entscheidende Aufgabe aber ist die Integration der Materialien in einem kohärenten mentalen Modell. Die Materialien dienen dem Schreibenden zur eigenen Positionierung, als Informations- und Argumentationspool, als Muster für Textsorten – so kann beispielsweise das Anführen eines Kommentars oder Features als Grundlage des eigenen Schreibprozesses dienen – und ebenso, um die vom Zieltext geforderten kommunikativen Funktionen – beispielsweise des Unterhaltens oder des Appellierens – zu erfüllen. Die Materialfülle spiegelt diese unterschiedlichen Anforderungen wider. Gleichzeitig soll sie den Schülerinnen und Schülern ermöglichen, sich möglichst ergebnisoffen zu der Fragestellung positionieren zu können. Dies setzt voraus, dass in den Materialien divergierende Positionen vertreten sind. Das bedeutet für den Leseprozess, dass zum einen der propositionale Gehalt der Materialien extrahiert und analysiert werden muss. Gleichzeitig müssen die Lesenden jedoch auch die sich widersprechenden Aussagen zu einer für die eigene Positionierung kohärenten Aussage integrieren. Dabei ist entscheidend: „Integrations- und Konstruktionsprozesse laufen übrigens nicht starr nacheinander und separiert ab, sondern sind hochgradig dynamisch.“6 Im Folgenden findet eine Konzentration auf das Lesen der Materialien statt. Der Text, der im Rahmen des Schreibprozesses entsteht und der immer wieder neu ge- und erlesen wird, soll nicht weiter berücksichtigt werden.

Als Basis der folgenden Überlegungen wird mit einer Definition des Textverstehens gearbeitet, die dieses als „eine kognitiv-aktive (Re)Konstruktion von Informationen darstellt, in der die im Text enthaltene ‚Botschaft‘ aktiv mit dem Vor- und Weltwissen der Rezipienten/innen verbunden wird.“7 Lesen stellt somit keine ausschließlich rezeptive Tätigkeit dar, sondern einen aktiven Akt der Bedeutungskonstruktion, der zielgerichtet und funktional ausgerichtet erfolgt. Die daraus resultierende Text-Leser:in-Interaktion bildet die Voraussetzung für einen aktiven Schreibprozess. Für das materialgestützte Schreiben bedeutet dies, dass die gelesenen Materialien zunächst mit dem eigenen Vorwissen in Verbindung gebracht werden müssen. Im Fall der vorliegenden Aufgabe benötigen die Schüler:innen Kenntnisse über den Inhalt des Dramas sowie über zentrale, überzeitlich relevante Konflikte. Weiterhin ist ein Wissen über die Entstehungszeit, den Autor, die literaturwissenschaftliche Bedeutung seines Werks sowie Epochen- und Gattungswissen notwendig, um das Werk vor dem Hintergrund seiner Bedeutung für das 21. Jahrhundert beurteilen zu können. Diese Beurteilung impliziert zudem Hintergrundkenntnisse zum Theater des 20. und 21. Jahrhunderts sowie Inszenierungspraktiken und -möglichkeiten. Diese Informationen werden in den zur Verfügung gestellten Materialien nicht bzw. nur ansatzweise präsentiert. Aufgrund dieses Vorwissens müssen die Aufgabenstellung und die Materialien bewertet und eine Selektion der Informationen in Bezug auf die Aufgabenstellung vorgenommen werden. Im Rahmen der ersten empirischen Untersuchung, die sich mit der Frage beschäftiget, ob Gewaltdarstellungen in den Medien die Gewaltbereitschaft erhöhen, wird gezeigt werden, dass nicht nur die Nutzung der Materialien die Schreibenden vor eine Herausforderung stellt, sondern auch der konkrete Bezug auf das Thema selbst. So haben zahlreiche Schüler:innen8 zwar Bezug auf die Materialien genommen, aber sehr allgemein über die Folgen einer Mediennutzung geschrieben. Eine Aufgabenrepräsentation, die den eigentlichen Aufgabenkern identifiziert und einen Bezug zu den Materialien herstellt, wurde nicht geleistet.

Eine zusätzliche Herausforderung beim materialgestützten Schreiben ist in dem Umstand begründet, dass den Lesenden unterschiedliche – kontinuierliche wie diskontinuierliche – Texte zur Bearbeitung vorliegen. Bei der Beispielsaufgabe handelt es sich um elf Materialien mit insgesamt 1659 Wörtern. Davon sind acht lineare pragmatische Texte, zusätzlich liegen zwei Abbildungen und eine Tabelle vor. Texte von und über Schiller wechseln sich mit Theaterkritiken, Inszenierungszahlen sowie einer Information über den Zieltext des Offenen Briefs ab; ausschnitthafte Informationen zum veränderten Theaterverständnis und zum Regietheater finden sich neben einer Polemik über die zeitgenössische Stückauswahl und essayistischen Ausführungen zum Deutschen Idealismus.9 Um die unterschiedlichen Quellen in Bezug auf ihre Tauglichkeit für die Textproduktion bewerten und den anschließenden Leseprozess einleiten zu können, muss ein Sprachwissen aktiviert werden, das zur Einordnung der Materialien in Bezug auf den Informationsgehalt, die kommunikative Funktion sowie die Glaubwürdigkeit herangezogen werden kann. Dieses Wissen steht den Lesenden in der Regel in Form von Textsortenkenntnissen zur Verfügung.10 Inwieweit Materialien die Basis eines Textverständnisses darstellen, erläutern van Dijk und Kintsch im Rahmen ihres kognitiven Modells:

First of all, it provides the reader with a basis for interpreting the text. A coherent textbase is obtained by binding the semantic units derived from the textual input to the conceptual skeleton provided by the knowledge schema. Textbases are the result of this marriage between schema knowledge and text.11

Schemata stellen in diesem Zusammenhang eine Art Verstehensrahmen für die semantische Ebene des Textes und die Basis von Top-down-Prozessen dar. Damit aber greifen beim Lesen beständig Bottom-up-Prozesse, die vom Inhalt oder der Struktur des Textes selbst ausgehen, und wissensgeleitete Top-down-Prozesse ineinander.12 Dass dieses Interaktionsverhältnis bei der Rezeption literarischer Texte besonders stark ausgeprägt ist, wird in der Forschung nicht bestritten, da gerade der Rezeption literarischer Texte

diese Interaktionsstruktur seit Jahrhunderten durch die sog. Methode des ‚hermeneutischen Zirkels‘ (als immer erneut wiederholte Rückkopplungsschleife zwischen dem Verstehen von Textteilen und Textganzem, zwischen Erwartungen an den Text und Erfüllung bzw. Veränderung dieser Erwartungen durch den Text)13

unterstellt wird. Obwohl beim materialgestützten Schreiben der Einsatz von Sachtexten in der Regel überwiegt, muss auch bei diesen Texten von einer kognitiv-konstruktiven Interaktion ausgegangen werden: Dies liegt zum einen an den unterschiedlichen Positionen und Perspektiven, die in den Materialien vertreten und von den Rezipient:innen integriert werden müssen. Ebenso aber sorgen die unterschiedlichen Textsorten dafür, dass die Bottom-up- und Top-down-Prozesse immer wieder neu bei jedem der einzelnen Materialien durchlaufen werden müssen. Dies stellt besonders für Lese- und Schreibnovizen14 eine große Herausforderung dar und erfordert ein hohes Maß an Flexibilität.

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