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Читать книгу: «Glutroter Mond», страница 2

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Wir dürfen erst aufstehen, wenn alle ihre Teller geleert haben, was wiederum mehr als eine Stunde dauert. Bezirksweise verlassen wir die Tische, um Chaos zu vermeiden. Erst, als wir aus dem Park heraus sind, wird die Stimmung wieder ausgelassener. Jetzt höre ich die Menschen wieder lachen. Neal legt erneut seinen Arm um mich.

Kapitel zwei

Holly

Vorsichtig steige ich über die Anhäufung von Metallrohren und Ziegelsteinen hinweg, dazwischen ragen ganze Brocken von Füllmaterial aus den Wänden der umliegenden Gebäude, von denen die meisten völlig zerstört sind. Von dem ehemals hoch in den Himmel aufragenden Haus neben uns fehlt das obere Drittel. In diesem Viertel unserer Stadt ist die Zerstörung am größten. Ich möchte mir nicht meinen frischen Anzug verschmutzen oder gar zerreißen, weshalb ich eher missmutig neben Neal herlaufe. Er hat darauf bestanden, mir etwas zeigen zu dürfen. Was genau, hat er nicht gesagt. Es sei eine Überraschung. Ich frage mich, weshalb wir dazu ausgerechnet ans Ostufer gegangen sind. Hier gibt es nichts als zerstörte Straßen, deren Asphaltschicht aufgeplatzt und weggebrochen ist, ganze Teile davon sind im Wasser versunken, denn das Ufer grenzt hier direkt an die Straße. Senkrecht dazu ragen fast fünfzig Yards lange schmale Stege ins Wasser hinein. Carl hat mir einmal erzählt, dass Menschen in der Vergangenheit Wasserfahrzeuge besessen hatten, die dort vertäut wurden.

Die Straße ist sehr breit, fünf weiße Linien unterteilen sie in Längsrichtung in mehrere Spuren. Ich weiß, dass es einst Fahrzeuge gegeben hat, für die diese Wege angelegt wurden, aber sie erscheinen mir dennoch viel zu breit. Die Obersten verfügen über Autos, aber ich sehe nicht oft welche. Es können doch niemals so viele gewesen sein, dass sie alle fünf Spuren benötigt haben, oder doch? Für gewöhnlich verlassen die Obersten mit ihren wenigen Fahrzeugen ihre Welt jenseits der Brücken nur, um uns mit Nahrung zu versorgen, um die medizinischen Stationen zu besetzen oder um die bewaffnete Polizei auf Streife zu schicken. Sie haben große schwarze Autos mit getönten Scheiben. Ich bin nie in einem mitgefahren, wünsche es mir jedoch.

Ich rutsche auf einem Haufen Glasscherben aus. Ich rudere mit den Armen und falle zur Seite, aber Neal fängt meinen Sturz ab. Ich hebe den Blick, er lächelt mich an. Schnell löse ich mich von ihm. Während der kurzen Dauer unserer Berührung habe ich den Duft seiner Haut aufgesogen. Er riecht nach der Seife, die wir im Badehaus von den Obersten bekommen, aber auch nach Staub. Und noch ein anderer Duft haftet seiner Haut an, etwas, was ich mit Worten nicht beschreiben kann.

»Hoppla, pass auf, dass du nicht fällst«, sagt er und grinst. Ich nicke nur, denn es ist mir peinlich, den Halt verloren zu haben. Ich bin sehr sportlich, ich habe weder Angst vor großer Höhe noch vor wackeligem Boden. Ich bin schon oft in den ausgehöhlten Ruinen der alten Häuser herumgeklettert. Von vielen steht nur noch die Stahlkonstruktion. Nun denkt Neal, ich sei zu dämlich, einen hüfthohen Schrotthaufen zu erklimmen. Ich mag es nicht, wenn andere bemerken, dass ich Fehler mache, deshalb erwidere ich nichts und gehe weiter, als sei nichts passiert.

»Möchtest du mir nicht endlich sagen, wohin wir gehen?« Es erscheint mir eine gute Frage, um vom Thema abzulenken.

»Wir sind fast da. Dort hinten vor der Brücke zweigt eine Straße nach links ab. Dort befindet sich, was ich dir zeigen möchte.«

Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Ich hoffe sehr für dich, dass es sich lohnt. Der Weg hierher war ganz schön weit.«

Neal stößt mir mit dem Ellenbogen sanft in die Seite und zwinkert. »Glaub mir, das hast du sicher noch nicht gesehen.«

Ich bezweifle seine Worte, sage aber nichts. Ich glaube, die ganze Stadt bereits zu kennen. Und selbst, wenn ich eine neue Straße oder auch einen ganzen Häuserblock entdecke, erwartet mich dennoch nie etwas Neues. Überall ist es dasselbe Bild: Ruinen und aufgeplatzte Straßen.

Wir biegen in die Straße ein, die Neal mir zuvor genannt hat. Sie führt in das Viertel mit den bunten Fassaden. Chinatown. Neal greift meine Hand, sie ist warm und trocken. Eine Gänsehaut breitet sich auf meinen Armen aus. Er ist mein bester Freund, und mein einziger. Ich bin froh, dass ich ihn habe. Seine Berührungen fühlen sich stets vertraut und ehrlich an.

Er zieht mich hinter sich her in eine Einfahrt hinein. Dahinter liegt ein Hof. Er ist genauso trostlos wie alles in der Stadt. Graue Mauern umsäumen ihn an drei Seiten, der Boden weist tiefe Risse und Löcher auf. Auch hier finde ich die auf den Asphalt gemalten weißen Rechtecke wieder, die ich schon von dem Platz neben meinem Wohnhaus kenne. Im hinteren Teil des Hofes ist eine mannshohe Öffnung, aber es befindet sich keine verschließbare Tür davor. Neal führt mich geradewegs darauf zu. Es sieht aus wie ein Hintereingang, doch das Gebäude wirkt nicht bewohnt. Die Häuser, in denen Kommunen oder Familien leben, sind alle mit einem Scanner gesichert, der die Fingerabdrücke der Bewohner mit einer Datenbank vergleicht. Keiner kann ein fremdes Haus betreten, das er nicht bewohnt, es sei denn, er wird dazu eingeladen.

Bevor wir durch die Tür ins Gebäudeinnere eintauchen, sehe ich an der Wand entlang nach oben. Es gibt nur drei Stockwerke und ein flaches Dach. In den Fensterrahmen ragen noch die Reste von Glasscheiben wie spitze Zähne daraus hervor. Ein Bild, das sich einem an jeder Ecke bietet. Ich frage mich, was Neal mir zeigen möchte.

Im Inneren des Hauses ist es kühl. Es gibt nur einen einzigen Raum, aber der ist riesig. Auf der gegenüberliegenden Seite ist eine Fensterfront, durch das staubblinde Glas fällt aschfahles Licht. Meine Augen benötigen einige Sekunden, um sich daran zu gewöhnen. Der Boden unter meinen Füßen ist gefliest, fast wie der im Badehaus. Der Raum ist nicht leer so wie die meisten in der Stadt. Vor uns stehen nebeneinander drei seltsame blockförmige, abgeteilte hüfthohe Parzellen. An diese Parzellen schließt sich ein Tisch an, der mit einem schwarzen gummiartigen Band bespannt ist. Ein Laufband? Ich kenne so etwas aus den Büchern über das Paradies der Obersten, die auf solchen Geräten Sportübungen machen. Aber weshalb sollte jemand auf Tischhöhe auf ein Laufband steigen? rechts von uns stehen zwei seltsame silberfarbene Fahrzeuge mit vier kleinen Rädern. Sie haben keinen Motor und keinen Sitz. Sie sehen aus wie ein Kasten aus Drahtgeflecht mit Rädern und einem Griff am hinteren Ende. Was hat das zu bedeuten? Wozu benötigt man so etwas?

Hinter den drei Parzellen erstrecken sich mehrere Reihen von Regalen, sie reichen bis an das andere Ende des Raumes, den ich auf zwanzig Yards in der Länge sowie in der Breite schätze. Doch die Regale sind alle leer.

»Wo sind wir hier?«, frage ich. Meine Stimme hallt von den Wänden wider. »Was soll das sein?«

Neal zuckt mit den Achseln. Er hält noch immer meine Hand. »Ich weiß es nicht. Ich dachte, du könntest es mir vielleicht sagen, Fräulein Oberschlau.« Er lacht, während er das sagt, aber mir schießt schon wieder Blut in den Kopf. Ich mag es nicht, wenn er mich so nennt.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, was das für ein Raum ist. In meinen Büchern steht nichts dazu. Glaubst du, er ist noch ein Relikt aus der alten Welt?«

»Davon gehe ich fest aus. Ich habe bislang immer gedacht, alle Häuser in der Stadt, die nicht bewohnt werden, seien komplett leer. Aber dieses hier ist es nicht. Ich habe es zufällig entdeckt.«

Ich löse meine Hand aus der von Neal und gehe ein paar Schritte weiter, an den Parzellen mit den Laufbändern vorbei und auf die Regale zu. Sie weisen vier Ebenen auf und sind alle höher als ich groß bin, aber auf keinem der Regalbretter liegt irgendetwas. Sie sind komplett leer. Hinter mir höre ich Neals Schritte.

»Glaubst du, hier hat mal jemand gewohnt?«, fragt er mich.

Unwillkürlich muss ich kichern. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass man sich in einem so großen Raum wohl fühlt. Und so viele Regale! So viel Kleidung oder Bücher kann kein Mensch besitzen.«

»Vielleicht hat mehr als eine Person hier gelebt.«

Ich zucke mit den Achseln. Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich darüber nachdenke, dass sich die Menschen der alten Welt mit vielen anderen ein Zimmer geteilt haben könnten. Ich habe ein Einzelzimmer, wie alle anderen Menschen, die ich kenne.

Ich gehe ein paar Schritte weiter auf die Wand zu. Eine der Fensterscheiben ist noch unversehrt, was mich in Erstaunen versetzt. Sie ist so hoch wie die Decke und mindestens vier Yards breit. Darauf klebt ein Stück Papier, das dreißig Zoll breit und zwanzig Zoll lang ist. Es ist etwas darauf abgebildet, doch ich kann es nicht erkennen, weil die Farben verblasst sind. Ich gehe näher heran und erkenne jetzt zwei Menschen auf dem Bild, einen Mann und eine Frau. Sie lachen beide. Die Frau lehnt auf der Stange von einem der silbernen Kästen mit vier Rädern. In dem Kasten liegen Gegenstände, die mir allesamt unbekannt sind. Von der Hand des Mannes aus spannt sich eine Schnur bis zu einem ... Was ist denn das? Ich starre es an, kann es jedoch nicht benennen. Es ist dicht behaart und geht auf vier Füßen wie die Ratten, die sich manchmal in den Straßen herumtreiben. Aber dieses Vieh ist viel größer als eine Ratte! Ich schnappe nach Luft.

»Monster«, stoße ich atemlos hervor. Ich drehe mich um und suche den Blick von Neal, der ebenfalls ein wenig blass aussieht. »Hat es früher Monster gegeben?«

»Ich habe keine Ahnung.« Seine Stimme klingt dünner als sonst. Wenn es etwas gibt, das Neal verunsichert, macht mich das nervös. Ich kenne ihn nur als vorlauten Rabauken, der sich vor nichts fürchtet. »Vielleicht waren die Ratten von früher einfach größer als heute.«

»Und weshalb sollte man sie an eine Leine gelegt haben?« Noch einmal zwinge ich mich, das übergroße Bild anzusehen. Unter der Riesenratte steht ein verblasster Schriftzug. Minimarket - hier kaufe ich ein!

»Was ist denn ein Minimarket? Und was bedeutet kaufen?« Ich verstehe die Welt nicht mehr, mein Kopf schwirrt. Ich möchte diesen Ort verlassen.

Neal legt seine Hand auf meine Schulter und dreht mich behutsam herum. Ich bin froh, dass ich das Bild nicht mehr ansehen muss. Die Menschen darauf waren seltsam gekleidet, nicht in einteilige Anzüge. Sie waren mir nicht einmal wie echte Menschen vorgekommen. Wenn so die alte Welt ausgesehen hat, bin ich froh, dass sie nicht mehr existiert.

Wir gehen zurück an den Regalreihen entlang auf den Ausgang zu, doch Neal bleibt noch einmal stehen. Ich drehe mich zu ihm um. Er hockt auf dem Boden und zieht etwas unter einem Regal hervor, einen Gegenstand, so lang wie meine Hand. Er hat eine metallische Farbe, glänzt aber nicht. Ich erkenne einen Griff und eine Klinge. Ein Messer! Aber es sieht nicht aus wie die Messer, die ich vom Abendessen kenne. Dieses ist spitz. Ich schnappe erneut nach Luft.

Neal richtet sich auf und dreht den Gegenstand in der Hand. »Ein Messer.«

Nun, das hatte ich selbst auch schon erkannt. »Wie kommt es hierher? Wir dürfen so etwas nicht besitzen.«

Ich erkenne ein Funkeln in Neals blauen Augen, das mir nicht gefällt. Er sieht aus, als heckte er einen Streich aus. Ein seltsames Lächeln umspielt seinen Mund.

»Ich denke, es ist eine Waffe aus der alten Welt. Weshalb sonst sollte jemand ein Messer anspitzen, wenn er damit nicht verletzen will?«

Ein Schreck fährt mir in die Glieder. Waffen dürfen nur die obersten Staatsmänner tragen. »Das kann nicht sein. Glaubst du, die Regierung hat den Zivilisten früher erlaubt, so etwas zu besitzen? Nie und nimmer.«

Ich sehe mich über die Schulter hinweg um, weil ich Angst habe, jemand könnte uns gefolgt sein, auch wenn das Quatsch ist. Die Stadt ist riesig. Ich fühle mich wie eine Verbrecherin und möchte schnellstmöglich nach Hause.

»Vielleicht ist das der Grund, weshalb die alte Welt nicht mehr existiert.« Neals Stirn legt sich in Falten, als müsste er nachdenken.

»Jeder weiß, dass die Stadt so kaputt ist, weil die Erde gebebt hat und weil die Menschen krank geworden sind. Sie können nicht so dumm gewesen sein, ihren Einwohnern das Tragen von Waffen erlaubt zu haben. Das glaube ich nicht. Und jetzt leg bitte das Ding weg und lass uns gehen.«

In mir breitet sich Unruhe aus. Ich möchte nicht bei etwas Verbotenem erwischt zu werden. Ich werfe Neal einen flehenden Blick zu. Er seufzt und legt das Messer in eines der Regale. »Dann lass uns gehen.«

»Wir dürfen niemandem erzählen, dass wir einen Minimarket gefunden haben, abgemacht?«

»Abgemacht.« Neal legt wieder seinen Arm um meine Schulter und gemeinsam treten wir auf die Straße zurück.

Den gesamtem Rückweg über schweigen wir, jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. Mir läuft ein kalter Schauder über den Rücken, wenn ich zu lange darüber nachdenke, wie die Menschen früher gelebt haben. Ich weiß nicht genau, wie lange die Katastrophe zurückliegt, die unsere Stadt verwüstet hat. Ich bin aber froh, dass niemand mehr lebt, der sich daran erinnert. Es scheint ein schrecklicher Ort gewesen zu sein, in denen sich viele Menschen einen Raum geteilt haben und man von haarigen Monstern umgeben war.

Als wir in den neunzehnten Bezirk einbiegen, begegnet uns auf der Straße eine Frau, die die Hand eines etwa vierjährigen kleinen Jungen hält. Ich habe sie schon einmal gesehen, sie wohnt mit ihrer Familie zwei Blocks südlich von uns. Ich kenne ihren Namen nicht. Ihre Haare sind rot, weshalb ich sie überall wiedererkennen würde. Sie ist der einzige Mensch mit roten Haaren, den ich je gesehen habe. Die Haare des Kindes sind eher braun. Ich bin dem Vater des Jungen nie begegnet, immer ist die Frau mit dem Jungen allein unterwegs. Als wir auf gleicher Höhe aneinander vorbeigehen, treffen sich für einen kurzen Moment unsere Blicke. In ihrem Gesicht lese ich Misstrauen. Rasch geht sie weiter und zieht den Jungen hinter sich her. Ein wenig tut sie mir leid. Sie ist noch jung, nur ein paar Jahre älter als ich. Vielleicht haben die Obersten den Vater des Kindes zu sich gerufen. Das ist eine große Ehre, aber die Frau ist sicherlich oft einsam. Ich versuche, nicht mehr an sie zu denken, aber es will mir nicht gelingen. Sie erinnert mich an meine eigene Vergangenheit. Ich kenne meine Eltern nicht. Sie wurden beide in die Reihen der Obersten rekrutiert, als ich noch ein Baby war. Carl hat mich aufgezogen. Manchmal wünsche ich mir, meine Eltern wären noch bei mir, doch dann habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich so egoistisch bin. Ihnen geht es heute besser als mir, ich sollte glücklich darüber sein. Ich sehne mich selbst danach, einst in die andere Welt jenseits der Brücken zu gehen, es ist mein größter Wunsch. Dann würde ich meine Eltern wiedersehen. Am besten wäre es, wenn Neal mitkommen könnte. Ich möchte ihn nicht allein zurücklassen, denn er hat auch keine Eltern mehr. Sie sind bei einem Raubüberfall auf offener Straße umgekommen. Da war Neal erst zehn Jahre alt. Obwohl niemand in der Stadt mehr besitzen sollte als ein anderer, kommt es dennoch manchmal vor. Neal hat mir erzählt, es gibt Treffpunkte für Schmuggler, die Dinge aus der Welt der Obersten in unsere Stadt schaffen und sie gegen andere Dinge tauschen. Ich bin nie mit solchen Leuten in Kontakt gekommen, und ich bin froh darüber. Neals Eltern hatten irgendetwas besessen, für das es sich gelohnt haben muss, sie zu töten. Flüchtig denke ich an die Konservendose. Hätte mein Verfolger mich deshalb auch getötet? Wegen einem wertlosen Ding, dessen Inhalt man nicht mehr essen konnte? Ein schauerlicher Gedanke.

Wir erreichen unser Wohnhaus. Neal drückt seinen Daumen auf den Scanner und die Tür lässt sich aufdrücken. Im Untergeschoss befindet sich sein Zimmer und das von Carl, oben sind der Gemeinschaftsraum und die drei Zimmer der Frauen. Wir gehen in stillem Einverständnis die Treppe hinauf und steuern auf den Gemeinschaftsraum zu. Carl sitzt allein auf seinem Platz, sein Kopf ist zur Seite gedreht. Er sieht aus dem Fenster. Als er uns bemerkt, fährt er herum.

»Wo seid ihr beiden schon wieder gewesen?« Sein Tonfall ist nicht anklagend, eher belustigt.

Neal und ich tauschen einen kurzen Blick. Wir haben geschworen, niemandem von dem Minimarket zu erzählen.

»Wir sind nur spazieren gegangen«, sagt Neal und klingt dabei sehr überzeugend. Ich entscheide mich, zur Bestätigung nur zu nicken, einmal und gewichtig. Carl lächelt breit, wobei sich die Falten noch tiefer in sein Gesicht graben. Er deutet auf die Tischplatte vor sich. Erst jetzt fällt mir auf, dass ein Blatt Papier darauf liegt.

»Es ist jemand vorbei gekommen und hat jeweils einen Brief für Holly und Suzie abgegeben. Du warst leider nicht daheim, also musste ich schwören, dass ich ihn dir gebe. Ich glaube, er hat sich nur darauf eingelassen, weil ich schon so lange in der Kommune lebe.«

Ich starre auf das strahlend weiße Blatt auf dem Tisch. Es ist zusammen gefaltet, sodass ich nicht sehen kann, was darauf steht.

»Es hat jemand einen Brief für mich abgegeben? Einer von den Obersten?«

»Ja, natürlich, wer sonst? Suzie und du, ihr könnt beide lesen. Die anderen Jugendlichen werden persönlich abgeholt.«

Aufregung macht sich in mir breit, mein Herz schlägt schneller. Flüchtig sehe ich zu Neal herüber, um seine Reaktion einzuschätzen, doch er sieht eher missmutig als erfreut aus. Seine Stirn liegt in Falten.

Mit zitternden Hände greife ich nach dem Blatt. Ich kann mir denken, was darauf steht, und es macht mich so nervös, dass ich glaube, jemand würde in meinem Magen tanzen. Suzie und ich sind beide dieses Jahr sechzehn geworden. Das kann nur eines bedeuten.

Ich entfalte das Blatt, meine Augen zucken zunächst darüber hinweg, ohne ein Wort zu erfassen. Dann zwinge ich mich, ihn endlich zu lesen, und zwar so, dass ich auch die Bedeutung verstehe.

Individuennummer 4-19 steht ganz oben. Das bin ich!

Sie werden gebeten, sich am Freitag vor dem Frühmahl an der medizinischen Station links der großen Brücke einzufinden, um sich der Erstuntersuchung des diesjährigen Jahrgangs der Sechzehnjährigen zu unterziehen. Bei dieser Gelegenheit wird ihnen Blut aus der Armvene entnommen. Die Untersuchung wird zwecks einer Überprüfung zur Eignung zum Rekruten des Volkes V23 durchgeführt. Desweiteren wird ihr allgemeiner Gesundheitszustand erfasst, damit ggf. eine Medikamentengabe festgesetzt werden kann.

Der Brief ist nicht unterzeichnet, aber ein Stempel befindet sich darunter, der das Symbol der Obersten zeigt - einen siebenzackigen Stern.

Die Obersten nennen sich selbst das Volk V23, das weiß ich aus meinen Büchern, doch die Bezeichnung erscheint mir fremd. Leider wird in keinem Buch erklärt, weshalb sie sich so nennen. In der Stadt nennt sie jeder nur die Obersten.

Ich lege den Brief zurück auf den Tisch. Meine Hände sind ganz verschwitzt.

»Weiß Suzie es schon?«

Carl nickt. »Sie ist in ihrem Zimmer. Sie war ebenso aufgeregt wie du.«

Ich glaube, einen Hauch von Traurigkeit aus seiner Stimme herauszuhören, obwohl er sich offensichtlich Mühe gibt zu lächeln. Die Erstuntersuchung der Sechzehnjährigen! Das ist alles so aufregend! Vielleicht bedeutet dies endlich den Beginn eines neuen Lebensabschnittes. Wenn ich die Kommune verlassen muss, kann ich Carls Traurigkeit ein wenig nachvollziehen. Ich sehe zu Neal, doch er hält den Kopf gesenkt. Er sieht überhaupt nicht so aus, als würde er sich für mich freuen. Es ärgert mich.

»Ich werde mich am Freitag jedenfalls von meiner besten Seite zeigen«, sage ich trotzig. »Ich kann lesen und bin sehr gebildet. Es könnte mir einen Vorteil verschaffen.«

Jetzt hebt Neal seinen Kopf doch noch, aber sein Blick beschert mir einen Stich in der Brust. Er sieht nicht so traurig aus wie Carl, eher wütend, was mir einen Schreck einjagt.

»Du scheinst es ziemlich eilig haben, uns loszuwerden.« Die Kälte in seiner Stimme lässt mich zusammenfahren.

Ich fühle mich bedrängt. Natürlich möchte ich ihn nicht verletzen, aber er muss doch verstehen, dass ich ein solches Angebot nicht ablehnen könnte! Das Leben in der Welt der Obersten in ein Paradies. Es gibt nur diese zerstörte Stadt und den Bezirk jenseits der Brücke, den noch niemand von uns gesehen hat. Dahinter ist die Weltscheibe zu Ende. Wer würde freiwillig hier bleiben wollen, wenn er ins Paradies einziehen kann? Sollten sie mir das Angebot machen, werde ich es jedenfalls nicht ausschlagen.

»Du bist doch nur neidisch, weil sie dich damals nach deiner Untersuchung nicht benachrichtigt haben.«

Ich weiß, wie verletzend meine Worte klingen, aber immerhin hat er mir auch weh getan. Neal ist ein Jahr älter als ich. Als er im letzten Jahr zur Untersuchung gerufen wurde, bin ich auch traurig gewesen. Ich kann ihn verstehen. Lange habe ich mich schlecht gefühlt, weil ich froh darüber gewesen bin, dass Neal nicht rekrutiert wurde. Natürlich bedeutet das nicht, dass er für immer in der Stadt bleiben muss. Manchmal rufen die Obersten auch ältere Menschen zu sich, aber aus welchem Grund, wissen wir nicht. Keinen von ihnen haben wir je wiedergesehen. Die jungen, die gerufen werden, arbeiten später manchmal in der Stadt bei der Essenausgabe oder in den medizinischen Stationen. Sie tragen dann schwarze Anzüge anstatt gelbe oder blaue. Aber geredet haben sie nie wieder mit uns.

»Ich soll neidisch sein?«, empört Neal sich. »Glaube mir, ich wäre damals nicht gegangen, wenn sie mich gerufen hätten. Deinetwegen.«

»Das glaubst du doch wohl selbst nicht.« Meine Euphorie von gerade wandelt sich in Wut. »Außerdem hätten sie dir gar keine Wahl gelassen. Ich glaube nicht, dass man gefragt wird, ob man gehen möchte oder nicht.«

Tatsächlich weiß ich das nicht. Es kommt mir auch seltsam vor, dass jemand das Angebot freiwillig ablehnen könnte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Fall je eingetreten ist.

Neal funkelt mich böse an und stampft mit festen Schritten aus dem Gemeinschaftsraum. Die Tür hinter ihm fällt donnernd ins Schloss. Ich fühle mich schlecht und sehe Carl Hilfe suchend an, doch der lächelt nur traurig.

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311 стр. 2 иллюстрации
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9783742793713
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