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Spätfolgen

Wolf Hetzers Sohn, Oberkommissar Niklas Müller, und seine Kollegin Nadine Michels waren auf der Dienststelle geblieben. Auch wenn Niklas kaum noch etwas von der Organtransplantation spürte, war er doch empfindlich, was die momentane Kälte anging. Niemand hatte nach den letzten milden Wintern schon Ende November mit Schnee und Minusgraden gerechnet. Und er hatte nur noch diese eine Niere, die, wenn man es genau nahm, bis vor Kurzem nicht einmal ihm gehört hatte. Sie war ein Geschenk, das es zu bewahren galt, wenn er noch ein paar Jahre leben wollte.

Wahrscheinlich wäre Niklas aus reiner Neugier trotzdem mit zum Fundort der Leiche gefahren, aber Nadine hatte ihn nur einmal schräg von der Seite angesehen, um ihn von solchen Gedanken abzubringen. Sie war seine gute Fee. Nachdem er erkannt hatte, dass die Rechtsmedizinerin Anke Seiler keine Frau war, mit der er seine restliche Lebenszeit verbringen wollte, war ihm endlich aufgefallen, dass jemand anders um ihn herum ständig dafür sorgte, dass es ihm gut ging. Tagelang hatte Nadine an seinem Bett gesessen, nachdem man ihn aus der kalten Grube gefischt und mühsam am Leben erhalten hatte. Wenn sie als Spenderin von Niere und Leberteil infrage gekommen wäre, hätte sie sich sofort dazu bereit erklärt, aber sie passte nicht. Zum Glück war Wolf aufgrund seiner engen genetischen Verwandtschaft geeignet gewesen, auch wenn die unvorhersehbaren Folgen ihn schwer gezeichnet hatten. Nadine wusste genau, er hätte es auch in dem Wissen getan, was er würde erleiden müssen. Nichtsdestotrotz: So ein Schlaganfall während der Operation und das anschließende Koma waren nicht leicht zu verkraften.

Beide freuten sich wie alle hier, dass Wolf überhaupt wieder aufgewacht war. Und das meinten sie nicht nur körperlich. Sein Lebenswille schien ebenso mit neuer Kraft ans Licht zu dringen wie Schneeglöckchen aus dem winterfahlen Boden. Sie hatten direkt schmunzeln müssen, dass ausgerechnet Wolf im Herminenpark auf eine Tote gestoßen war. Es hätte jeden treffen können. Jetzt jedoch würde er sich verantwortlich fühlen, an der Aufklärung mitzuwirken. Und das konnte ihm nur guttun – in jeder Hinsicht!

Alles sehr merkwürdig!

Wieder schüttelte die Rechtsmedizinerin Doktor Nadja Serafin den Kopf. So etwas hatte sie in der Tat noch nicht gesehen.

Die Leiche sah irgendwie komisch aus, und damit meinte sie nicht nur die blutleere Blässe, die dem „Engel“ eine überirdische Ausstrahlung verlieh. Sie wirkte zu wächsern, was den Eindruck des Rauschgoldengels unterstrich, den sie wohl darstellen sollte. Zumindest vermutete Nadja das.

Es war eine fast schon perfekte Inszenierung dort im Schnee. Jede Falte des Hemdchens, jede Extremität, die Haare – alles war von einem morbiden „Regisseur“ gestaltet worden. Und genau diese Perfektion gruselte Nadja, die sonst hartgesotten war. Hier hatte der Tod etwas Schönes und stand damit in grausamem Widerspruch zu seiner eigentlichen Eigenschaft. Kein Verfallen und Vergehen, keine Autolyse konnte man von der Toten erwarten.

Die Abwesenheit ihres Geistes und ihrer Seele paarte sich mit der Unvergänglichkeit ihres Körpers. Sie war gleichzeitig da und auch nicht – wie ein dreidimensionales Abbild der Vergangenheit anstatt eines Fotos. Wie lange die zurückliegen mochte, konnte sie nicht sagen. Zu einer möglichen Totenstarre war aufgrund des Frostes rein gar nichts zu sagen. Nadja vermutete aber, dass diese sich nicht erst kürzlich aufgelöst hatte und dass die junge Frau schon viel länger tot, wenn nicht gar tiefgekühlt gewesen war.

„Sind die Haare echt?“, riss Peter seine Frau aus den Gedanken. „Die wirken irgendwie künstlich.“

Nadja zuckte mit den Schultern. „Das kann ich erst nach einer Analyse genau sagen. Beneidenswert auf jeden Fall, wenn das Naturhaar ist“, sagte sie und dachte an ihr wirres Gestrüpp auf dem Kopf, von dem Peter immer behauptete, sie müsse eher im Frühling eine Mütze tragen als im Winter, sonst würden die Vögel darin nisten wollen. Sie überlegte. „Komisch auch die Haut, möchte ich sagen. Theoretisch sieht die Frau aus, als sei sie eingefroren gewesen, aber dann wäre die Haut nicht so glatt. Ich kann auch nirgendwo Gefrierbrand entdecken.“

Jetzt war Hauptkommissar Wolf Hetzer hellhörig geworden. „Zu schön?“, fragte er. „Zu perfekt und so?“

„Ja, so könnte man es nennen“, gab Nadja zu. „Eigentlich eher wie mumifiziert, aber da ist das äußere Erscheinungsbild trotzdem ein ganz anders. Ehrlich gesagt bin ich etwas ratlos, aber ich finde das richtig klasse, denn so ist es total spannend.“

„Mir wäre wohler, wenn einfach mal einer dem anderen was über die Omme haut und gut is“, stöhnte Peter. „So eine schöne, klassische Schädelfraktur, wo man gleich weiß, woran man ist.“

„Und ich fände es besser, wenn überhaupt keiner umgebracht würde“, wandte Wolf aus dem Rollstuhl heraus ein.

„Du wirst alt“, konterte Peter, „aber wer weiß es besser als du, dass wir nicht auf einem Ponyhof leben. Hättest eben nicht hier so herumrollen sollen.“

„Du Depp“, schimpfte Wolf, „dann wäre sie doch trotzdem tot.“

„Schon“, erwiderte Peter, „aber du würdest davon nichts mitgekriegt haben, und deine Welt wäre noch in Ordnung.“ Er biss sich auf die Lippen, nachdem er das gesagt hatte. Nichts in Wolfs Welt war derzeit in Ordnung – bis auf seine Beziehung zu Moni und Niklas.

Glücklicherweise kam Detlef wieder und rettete die Situation. Über seiner Schulter trug er eine große Trittleiter aus Aluminium.

„Ja los, schwing dich hoch“, schlug Peter seinem Kollegen vor.

Detlef schüttelte den Kopf. Er war schwer höhenkrank und konnte nicht mal auf einen Stuhl steigen.

„Der kleine Zwockel?“, lachte Nadja und handelte sich von Detlef einen strengen Blick ein. „Wohl kaum! Das wirst du schön selbst machen. Du siehst mit deinen zwei Metern viel mehr oder soll ich etwa?“ Sie war nur rund fünf Zentimeter kleiner als er.

„Untersteh dich“, drohte Peter und nahm die erste Stufe.

„Kindsköppe“, sagte Detlef kopfschüttelnd zu Wolf, doch der reagierte nicht. Sein Fokus war ganz auf den Fundort ausgerichtet. Er war gespannt, ob jemand wirklich etwas mit Blut in den Schnee geschrieben hatte.

Seppi konnte bestätigen, dass es sich tatsächlich um Blut handelte. Er hatte bereits von einer Stelle am Rand eine Probe genommen.

Diffuses Knistern lag in der Luft, und das hatte nichts mit Weihnachtsstimmung oder -vorfreude zu tun. Selbst Wolf, der das nie zugegeben hätte, spürte es: Der Jagdinstinkt des Teams war erwacht.

Mittlerweile war Peter oben angekommen, lehnte sich auf der Leiter nach vorne wie über eine Balkonbrüstung und kniff die Augen zusammen.

„Ja, da steht tatsächlich was“, sagte er. „Ist irgendwie Schrift, aber man kann nix damit anfangen.“

„Also, was denn nun?“, wollte Detlef wissen. „Steht da was geschrieben oder nicht?“

„Buchstaben schon, nur ohne Sinn. Ich glaube, der Kerl ist nicht fertig geworden“, überlegte Peter laut.

„Könntest du uns denn jetzt bitte vorlesen, was du siehst?“, fragte Wolf mit mühsam beherrschter Stimme. Er musste sich zusammenreißen. Normalerweise dürfte er gar nicht mehr hier sein. Im Grunde hätten sie ihn wegschicken müssen.

Peter drehte sich um 180 Grad und grinste Wolf an. „Das willste wohl wissen, was? Freut mich! So, hier steht: ALDRIG MOR. Und jetzt könnt ihr euch auch vorstellen, dass da noch ein winzig kleiner Buchstabe fehlen muss, wenn ihr das vor eurem inneren, geistigen Auge ausschreibt.“

„Du denkst, das letzte Wort hätte MORD heißen sollen?“, hakte Seppi nach.

„Gut möglich, er könnte gestört worden sein“, überlegte Detlef.

„Klingt sinnvoll, aber was soll das erste Wort heißen?“, fragte Nadja. „Hat da jemand von euch eine Idee?“

„Vielleicht ein Name?“, kam es aus dem Rollstuhl. „Möglicherweise heißt die Tote so. Der Mörder wird mit Sicherheit kaum so dumm gewesen sein und seine Visitenkarte dagelassen haben.“

„Unwahrscheinlich“, erwiderte Detlef. „Wer eine Tote so virtuos inszeniert, kann nicht ganz blöd sein. Dazu gehört schon eine gewisse Raffinesse und Planung.“

Nadja reichte Peter die Kamera nach oben.

„Machst du bitte ein paar aussagekräftige Bilder? Mal mit Blitz, mal ohne“, bat sie. „Dann kann die Frau eingepackt werden. Alles Weitere mache ich im Institut, wenn ich meine Finger wieder bewegen kann.“ Sie rieb sich die Hände, die in den Latexhandschuhen ganz kalt geworden waren.

„Okay“, sagte Peter und nickte den Bestattern zu, die sich dezent zurückgehalten hatten und ein paar Meter weiter weg warteten. „Macht auch keinen Sinn, sie hier weiter zu untersuchen, wenn sie länger tot ist, aber vielleicht solltest du Enno anrufen, damit er den Sektionstisch runterkühlt oder willst du, dass sie sofort auftaut?“

„Keinesfalls“, erwiderte Nadja, „aber zuerst muss ich sie so haben, wie sie jetzt ist, sonst kann ich einige spezifische Dinge nicht mehr richtig beurteilen.“

„Dachte ich mir“, sagte Peter und zwinkerte ihr zu. „Wir rücken dann ab, Detlef. Bis später!“

„Wann denn später?“, fragte Wolf. „Kommst du mich mal besuchen?“

„Nee“, antwortete Peter frech, „du wirst dich schön in der Ulmenallee einfinden und mit an unseren Ermittlungen teilnehmen – natürlich inoffiziell und eher als Berater, aber wir wollen nicht auf dich verzichten.“ Er blickte in die Runde. Alle nickten. „Gibt wegen der neuen Rampe auch keine Ausrede hinsichtlich deines neuen Fortbewegungsmittels.“

„Okay“, sagte Wolf gerührt. Sie hatten ihn noch nicht abgeschrieben. Wahrscheinlich glaubten sie mehr an ihn als er an sich selbst.

„Treffen wir uns doch mit den ersten Ergebnissen am frühen Nachmittag“, schlug Peter vor. „Sagen wir halb vier? Schaffst du das, Nadja?“

„Ich denke schon. Schaltet mich dann einfach per Skype zu, einverstanden?“, bat sie.

„Perfekt“, sagte Peter und winkte zum Abschied.

Wolf beschloss, noch einen Moment zu bleiben, denn Seppi würde jetzt den Bereich unter der Leiche untersuchen. Dabei wollte er ihm Gesellschaft leisten, bevor er wieder in sein Zimmer zurückrollen würde.

Im Herminenhof

Eines hatten all diese Einrichtungen gemein, seien es Krankenhäuser, Reha- oder Kurkliniken sowie Seniorenheime: Alle Mahlzeiten gab es wahnsinnig früh. Das Morgengedeck kam zwischen sechs und halb sieben, zu Mittag gegessen wurde spätestens um halb zwölf und das Abendbrot stand schon kurz nach fünf auf dem Tisch. Da tranken manche Leute noch Kaffee, überlegte Wolf, als er sich um 11:27 Uhr im Speisesaal einfand. Heute, wo er vom aufregenden Morgen im Park ganz durchgefroren war, kam ihm die lauwarme Hühnersuppe zu dieser Uhrzeit allerdings wie eine Erlösung vor. Selbst den halb garen Blumenkohl neben einem Kartoffelpüree aus der Tüte verschmähte er nicht, denn er hatte Hunger. Kälte und Anspannung hatten seinen Kreislauf in Schwung gebracht. Seit Langem hatte er sich nicht mehr so lebendig gefühlt.

Das Essen hier war in der Tat keine Offenbarung, aber gelegentlich brachte ihm seine Moni etwas richtig Leckeres mit. Doch er hatte den Aufenthalt hier gewollt, um ihr in der ersten Zeit nicht zu sehr zur Last zu fallen und natürlich, um körperlich durch die Turbo-Physiotherapie einen enormen Schritt nach vorn zu machen. Wenigstens hoffte er das. Sie würde morgen endlich beginnen. Das war für ihn eine große Erleichterung. Trotzdem freute er sich mehr als alles andere wieder auf sein Zuhause.

Nach dem Essen legte er sich hin. Richtig schlafen konnte er nicht, dafür war der Vormittag zu aufregend gewesen, aber er döste so vor sich hin. Im Halbdämmerzustand kamen die Erinnerungen der nahen Vergangenheit zurück. Gespräche, die er vor der Organtransplantation geführt hatte, Blicke und Gesten von Ärzten und Schwestern, die sorgenvollen Gesichter seiner Angehörigen und Freunde.

All das hatte er dem Mörder seines letzten Falles zu „verdanken“. Er war es gewesen, der seinen Sohn in einen tiefen Regenschacht im Höppenfeld angekettet und sie alle nur mit einem Rätsel zurückgelassen hatte. Wäre Moni Kahlert, seine Nachbarin und Verlobte, nicht gewesen, hätte er die Todesangst um Niklas verwinden können? Ihrer beider Liebe, die vielen Gespräche hatten ihn durch diese schwere Zeit getragen. Obwohl er seinen Sohn erst als Erwachsenen kennengelernt hatte, war er ihm mehr als er ahnte ans Herz gewachsen. In den schlimmsten Stunden war er sich dessen erst wirklich bewusst geworden.

Als er nach Niklas’ Bergung aus dem Schacht mit Seppi von der Spurensicherung dort hinuntergestiegen war, hatte ihn das Grauen gepackt. Man konnte sagen, dass er hinterher nicht mehr derselbe gewesen war. Die Kratzer, das Blut, die Hautreste an den Betonwänden hatte selbst der hartgesottene Techniker schwer ertragen. Es war etwas anderes, wenn man den Menschen kannte, der dort gelitten hatte. Man fühlte die Verzweiflung fast greifbar, mit der der junge Mann versucht hatte, sein Leben zu retten. Wäre das Gitter im Schacht nicht gewesen, hätte er sich in die Beeke spülen lassen können. Die Röhre wäre vom Durchmesser wohl groß genug. Doch er hatte die Stäbe nicht lösen können – nicht mit Steinen, nicht mit bloßen Fingern. Wolf seufzte. Vielleicht auch ein Glück, denn wenn er in dem Betonrohr stecken geblieben wäre, hätte man ihn niemals gefunden. Auch so war es allerhöchste Eisenbahn gewesen. Kurz vor dem Multiorganversagen hatte man ihn geborgen und sofort intensivmedizinisch versorgt. Was folgte, waren quälende Wochen des Hoffens. Jetzt konnte man sagen, dass Niklas dem Tod durch die Leberteillappenspende von Wolf, die beide gut überstehen sollten, von der Schippe gesprungen war. Zumindest hatte es so ausgesehen. Aber Niklas war immer noch sehr schwach. Eine Niereninsuffizienz war das zweite Übel. Da es zu gefährlich gewesen war, mit dem Leberfragment gleichzeitig eine Niere zu transplantieren, verschob man diese zweite, schwere Operation auf unbestimmte Zeit, was regelmäßige Blutwäschen mittels Dialyse zur Folge hatte. So konnte man sich ein paar Monate behelfen, aber im Herbst wurde man sich bewusst, dass eine zügige Lösung gefunden werden musste. Zwar stand Niklas schon seit seiner Einlieferung ins Krankenhaus auf der Liste von Eurotransplant, aber bisher hatte sich kein Spenderorgan finden lassen. Vater und Sohn wussten, dass eine erneute Lebendspende für Niklas unvermeidbar, ja seine einzige Chance war. Wer hätte ahnen können, dass der Eingriff Wolfs Leben erneut und auf andere Weise verändern würde? Selbst wenn man über die möglichen Risiken aufgeklärt wird, glaubt man doch kaum, dass sie eintreten werden. Man hält die Beschreibungen des Arztes, was eventuell passieren könnte, für eine Absicherung der Krankenhausleitung und vergisst das Ganze schnell, nachdem man unterzeichnet hat. Wer zieht schon gerne „Worst Case“ in Betracht, wenn er sich dazu entschlossen hat, einem anderen Menschen das Leben zu retten, vor allem, wenn es sich dabei um den eigenen Sohn handelt?

Im Dämmerschlaf sah er Doktor Till Niederegger vor sich. Er sah blöd aus mit seiner Eulenspiegelkappe anstatt der OP-Haube. Wolf schüttelte sich. Als Mundschutz hatte er eine grinsende Zahnreihe getragen. Aus dem Fernsehen wusste er, dass es die Dinger tatsächlich gab. Was ihm das Unterbewusstsein aufgrund eines Vornamens vorgaukelte … Beinahe schämte er sich. Der Spezialist für Transplantationsmedizin, den Nadja extra aus dem Klinikum Neuperlach bei München organisiert hatte, hatte etwas Besseres verdient, als so in seinen Träumen zu erscheinen. Er war ein früherer Studienkollege der Rechtsmedizinerin und hatte hervorragende Arbeit geleistet. In Kooperation mit der Medizinischen Hochschule Hannover war der Eingriff durchgeführt worden. Dass Wolf dabei einen Schlaganfall erlitten hatte, war ihm nicht zuzuschreiben. In der MHH hatte er so einen guten Eindruck hinterlassen, dass ihn der Chef der Abteilung für Transplantationschirurgie, Professor Doktor Severin Pichlmayr, vom Fleck weg abgeworben hatte. Gegen eine nicht unerhebliche Summe, wie es in Fachkreisen geheißen hatte. Und da das Transplantationszentrum in Hannover deutschlandweit den besten Ruf genoss, war Niederegger nicht abgeneigt gewesen, dem Locken des Professors Folge zu leisten. Es war quasi eine Art Ritterschlag. Viele Ärzte bewarben sich dort tagtäglich ohne Erfolg.

Niederegger hatte die Nierentransplantation auf Bitten und Drängen von Rechtsmedizinerin Nadja und dem Leiter der Operativen Fallanalyse des LKA Niedersachsen, Thorsten Büthe, in der MHH durchführen dürfen. Allerdings nur unter den strengen Augen des Oberarztes. Pichlmayr und Büthe kannten sich seit Jahren, nachdem der ebenfalls als Hochzeitsfotograf tätige Hauptkommissar den Professor und dessen zweite Braut an ihrem schönsten Tag abgelichtet hatte.

Wolf seufzte im Halbschlaf. Operation gelungen, Spender ein Wrack – eigentlich nur noch zum weiteren Ausschlachten gut, überlegte er und rief sich sofort zur Räson, denn solche Gedanken wollte er überhaupt nicht mehr zulassen. Was immer nun aus ihm werden mochte, auf etwas in seinem Dasein konnte er stolz zurückblicken: Er hatte seinem Sohn das Leben gerettet. Niklas konnte ohne Einschränkungen alt und glücklich werden. Ein warmes Gefühl durchströmte ihn. Ja, auch glücklich, denn Nadine war die Richtige für ihn – warmherzig, klug und ein echter Kumpel. Darüber hinaus war sie hübsch anzusehen, was Wolf in waghalsigen Momenten auf niedliche Enkel hoffen ließ. So weit war es also schon. Er dachte daran, Opa zu werden.

Als Wolf wieder auf die Uhr sah, war es kurz vor drei. Potzblitz! Da musste er doch tatsächlich bei seinen wirren Gedanken noch eingeschlafen sein. Zum Kaffeetrinken brauchte er nun nicht mehr zu gehen. Die räumten bestimmt ohnehin längst ab. Aber er sollte sich fertig machen. Bis er sich restauriert hatte und auf die Dienststelle gerollt war, würde es seine Zeit dauern. Und just in dem Moment, als er am schlechtesten abheben konnte, klingelte sein Smartphone.

Unglaubliches

Während Wolf seinen Gedanken und dem Schlaf nachgejagt hatte, war Nadja in der Rechtsmedizin des Schaumburger Großklinikums mit der Sektion der Frauenleiche beschäftigt gewesen.

Zeitgleich beriet sich die SoKo „Engel“ zu den bisher bekannten Einzelheiten. Man trug zusammen, was man hatte und rätselte über die Schrift oder die Buchstaben. Nadine war davon überzeugt, dass sie es mit den Anfangsbuchstaben eines Satzes oder einer Phrase zu tun hatten. Dass es ein Name sein könnte, diese Idee war schnell verworfen worden. Dann schon eher die Theorie, dass das letzte Wort hätte „MOR…D“ heißen sollen, aber der Täter gestört worden war, weswegen das D fehlte. Machte denn dann das erste Wort „ALDRIG“ überhaupt Sinn?

„Ein Eigenname?“, schlug Detlef vor. „Das könnte doch möglich sein.“

Niklas schüttelte den Kopf. „Hab ich gerade mal deutschlandweit bei ,Das Örtliche’ eingegeben. Es gibt niemanden, der so heißt.“

„Was? In ganz Deutschland nicht?“, wunderte sich Peter. „Dann gib das doch mal so ein, das bescheuerte Wort.“

„Hab ich schon. Kommt nur was Dänisches oder Schwedisches, und das macht ja wohl keinen Sinn“, fand Niklas.

„Na, und was heißt es nun?“, hakte Detlef nach. „Jetzt wollen wir es wenigstens wissen.“

„Ganz einfach, es heißt ,Nie’ und da gibt es herrliche Schnulzen auf YouTube. Liebeslieder wahrscheinlich. Habt ihr Bock, dass ich euch das vorspiele? Schmonzetten auf Dänisch oder Schwedisch?“

„Untersteh dich“, drohte Nadine. „Sonst schläfst du heute draußen.“

Peter grübelte. „NIE MORD?“ Er rieb sich das Kinn. „Vielleicht eine Erklärung, dass der Tod der Dame nicht gewollt war. Und darum auch die engelsgleiche Inszenierung. Das ergäbe doch einen Sinn.“

Detlef schlug sich die Hände vor den Kopf. „Man kann sich eine Erklärung auch zurechtbasteln, wenn einem nichts Gescheites einfällt.“

„Was fällt euch nicht ein?“, fragte Wolf und bog mit seinem Rolli um die Ecke.

Nadja, die vorhin versucht hatte ihn anzurufen, war hinterher nicht mehr zu erreichen gewesen. Vielleicht hatten die Kollegen schon etwas gehört. Er stutzte. Durfte er das eigentlich noch sagen? Nach dem langen Krankenstand?

„Komm erst mal richtig rein, Alter“, sagte Peter und klopfte Wolf auf die Schulter. „Tut gut, dass du mit von der Partie bist.“

Die anderen nickten.

„Ohne dich ist das Team unvollständig“, bekräftigte Detlef.

Wolf war gerührt. Sie meinten das wirklich ernst und hatten ihn nicht nur aus Mitleid dazugebeten.

„Wir kommen nicht weiter, weil wir komische Buchstaben oder Worte haben, mit denen wir nichts anfangen können“, erklärte Nadine. „Vielleicht hast du eine Idee?“

Nach und nach ließ sich Wolf berichten, worüber sie eben schon gesprochen hatten.

„Ihr müsst alle Gedanken zulassen“, erinnerte Wolf seine Kollegen, „und zusammentragen. Macht nicht den Fehler, eure Eingebungen gegenseitig zu verwerfen. Das blockiert euch sonst. Alles ist immer möglich. Vergesst das nicht.“

„Okay, machen wir eine Liste“, schlug Nadine vor.

Plötzlich klingelte Peters Smartphone. Er hielt den Zeigefinger vor seine Lippen. „Es ist Nadja. Gleich wissen wir mehr!“ Dann ging er ran. „Grüß dich, wir sitzen hier alle zusammen. Wolf ist auch dabei. Ich stelle mal auf laut.“

„Ja, Hallo an alle! Schön, Wolf, dass du mit von der Partie bist. Seid ihr schon neugierig, was es mit eurem Engel auf sich hat? Ich habe ein paar spektakuläre Erkenntnisse. Welche Schlüsse ihr daraus ziehen werdet, da bin ich gespannt. Für mich reimt sich da erst mal nichts zusammen.“

„Schieß los, und spann uns nicht auf die Folter“, bat Peter eindringlich. „Wir kommen hier nämlich nicht so recht weiter. Vielleicht kannst du unsere grauen Zellen erleuchten.“

„Gut, dann also kein höfliches Geschwafel, sondern gleich zu den Fakten“, begann Nadja. „Folgende Dinge waren besonders auffällig. In der Frau befand sich überhaupt kein Blut. Man muss es entfernt haben. Vermutlich war es das Blut, mit dem die ominöse Botschaft geschrieben worden ist. Stattdessen habe ich eine chemische Substanz gefunden. Die Analyse läuft noch. Was mich am Fundort schon gewundert hat, war, dass die Haut so unversehrt schien. Deshalb habe ich ein paar Zellproben unter das Mikroskop gelegt.“

„Ja, und?“, hakte Wolf nach. Er war vollkommen in seinem Element, als sei er nie weg gewesen. In diesem Moment hatte er total vergessen, dass er eigentlich nur Gast war.

„Sie hätten durch den Frost oder das Gefrieren, so ganz genau wissen wir das noch nicht, in größerem Ausmaß geplatzt sein müssen.“

„Aha, ja stimmt“, fiel Nadine wieder ein. „Wasser dehnt sich ja beim Gefrieren aus, und der Körper besteht zum Großteil aus Wasser.“

„Und wenn man ihrem Körper vor dem Einfrieren das Wasser entzogen hat?“, überlegte Detlef.

„Glaubst du, sie war in Salz eingelegt?“, lachte Peter. „Ich denke nicht. Beim Pökeln wäre sie doch weggeschrumpelt.“

„So ganz unrecht hat Detlef nicht“, wandte Nadja ein. „Wobei ich der Ansicht bin, dass man den Zellen nur insoweit das Wasser entzogen hat, damit sie nicht platzen. Wie das gehen kann, ist mir schleierhaft.“

„Ja, so was hatten wir noch nicht, wenn wir auch schon mit vielem konfrontiert worden sind“, stimmte Wolf zu. „Aber es muss ja seinen Grund haben, warum das so gemacht worden ist. Der Mörder wollte sich die Frau erhalten und zwar so, wie sie war.“

„Und warum hat er sie dann doch irgendwo abgelegt und der Verwesung preisgegeben?“, bohrte Peter nach. „Das passt wohl kaum zusammen.“

„Nun“, antwortete Nadja, „Vorlieben oder Bedürfnisse können sich ändern. Vielleicht brauchte er die Frau nicht mehr, weil er sich neu orientiert hatte.“

„Hoffentlich diesmal eine lebendige Partnerin“, orakelte Nadine, „sonst werden wir bald wieder fündig.“

„Wie kommst du darauf, dass er sich neu orientiert haben könnte?“, wollte Wolf wissen. „Gibt es dafür einen Anhaltspunkt?“

„Wie man’s nimmt“, gab Nadja Auskunft, „ihr fehlt noch was Entscheidendes. Jemand hat ihr die Gebärmutter entfernt …“

Nadine musste schlucken.

„Okay“, sagte Wolf, „das ist nicht uninteressant. Vermutest du sexuelle Motive?“

„Moment. Ich war noch nicht fertig“, erklärte Nadja. „Also der Uterus wurde herausgetrennt, aber an Ort und Stelle im Unterbauch belassen.“

„Puh“, seufzte Nadine, und Niklas verdrehte die Augen.

„Was soll das denn für einen Sinn machen?“, fragte er. „Wenn schon rausschneiden, warum dann nicht entfernen? Und wenn man das Organ eben nicht herausnimmt, warum dann die Schnippelei?“

„Da wollte wohl mal einer gucken, wie es dahinter aussieht oder probieren, wie es funktioniert, wenn man so was macht“, fiel Peter ein. „Könnte das sein?“

„Du weißt doch, es kann immer alles sein, denk an Wolfs Worte“, erinnerte ihn Detlef. „Er könnte auch dabei gestört worden sein.“

„Ein Detail solltet ihr noch wissen“, berichtete Nadja. „Ist was Kurioses, was ich mir auch nicht erklären kann. Ich mache bei Frauen im gebärfähigen Alter immer einen Schwangerschaftstest. Ist so eine Marotte von mir. Ich hätte es in diesem Fall sicher weggelassen, wenn ich das mit dem Uterus vorher festgestellt hätte.“

„Ja, und?“, erkundigte sich Wolf aufgeregt. „Jetzt sag nicht, dass sie schwanger war?“

„Doch, der HCG-Wert war extrem erhöht. Das spricht eindeutig für eine Gravidität“, erklärte Nadja. „Ich hab aber dann sicherheitshalber im Uterus nachgesehen, und da war kein Braten in der Röhre.“

Hier und dort hörte man erleichtertes Aufatmen.

„Jetzt fragt ihr euch sicher, wie es zu dem falsch positiven Ergebnis kommen kann. Stimmt’s?“

Nadja machte eine Pause, der allgemeines Gemurmel folgte.

„Ehrlich gesagt, weiß ich es selbst nicht“, gab sie zu. „Ich muss erst weitere Untersuchungen vornehmen und kann nur sagen, dass die Gebärmutterschleimhaut nicht verdickt war oder Ähnliches oder gar eine Vergrößerung des Organs vorlag. Das spricht eindeutig gegen eine Schwangerschaft.“

„Trotzdem mysteriös“, fand Peter.

„Sehr“, pflichtete Niklas ihm bei. „Ich bin gespannt, was da dahintersteckt. Keine Ahnung, was wir mit diesen merkwürdigen Informationen anfangen sollen. Sorry, Nadja, damit meine ich nicht dich, nur die Sachlage.“

„Schon klar“, erwiderte die Angesprochene. „Mir kommt das ja selbst ziemlich verrückt vor. Alles in allem, meine ich: Ihr Aussehen, ihr Zustand, die Befunde, ihre Auffindesituation. Nichts davon ist normal oder gewöhnlich. Vieles erscheint direkt paradox. Wäre da im Unterleib nicht dieser riesige Schnitt gewesen, hätte ich überhaupt nicht weiter im Unterbauch nachgesehen. Wisst ihr, er sah aus wie von einem der historischen Kaiserschnitte, als man noch senkrecht zur Schambeingrenze bis zum Bauchnabel eröffnete.“

Peter stöhnte. Ihm schwante Übles. „Kommst du dann heute Nacht überhaupt nach Hause?“

„Keine Bange, einige Untersuchungen laufen noch. Da kann ich gar nichts beschleunigen. Über manche Details muss ich mir erst mal Gedanken machen“, erklärte die Rechtsmedizinerin. „Zum Beispiel, warum der Uterus einfach so im Bauchraum lag und keinen Fötus aufwies, man aber die oberen Hautschichten wieder fachmännisch vernäht hatte. Könnte also sein, dass ich sogar früher daheim bin.“ Sie zögerte. „Genau, und so mache ich das jetzt auch“, beschloss sie. „Meine Arbeit hier vor Ort ist erledigt oder angeschoben. Ich muss nachdenken. Ihr sicher auch. Also, bis dann! Wo ihr mich notfalls erreichen könnt, wisst ihr ja.“ Sie schwieg einen kurzen Moment. „Notfalls, sagte ich! Nicht, dass ihr mir prompt ein weiteres Opfer präsentiert.“

„Haben wir nicht vor“, versprach Niklas.

„Bis später“, sagte Peter und wollte gerade auflegen, als Nadja noch „Tschüss, Wolf, bis bald!“ rief.

„Ja, vielen Dank, wir sehen uns“, antwortete Wolf und lehnte sich mit seinen Händen auf Peters Schreibtisch, um ihn zu fixieren.

„Was?“, fragte Peter leicht genervt, als er Wolfs undefinierbare Miene sah.

„Da kommt verdammt noch mal was auf euch zu“, seufzte Wolf.

„Wie soll ich das verstehen?“, brummte Peter. „Willst du dich jetzt wieder in dein Heim verziehen und uns alleine machen lassen?“

„So in etwa“, grummelte Wolf zurück. „Ich habe Anwendungen, Therapie. Du verstehst? Es geht um meine Gesundheit. Ich will nicht ewig ein Krüppel bleiben, der im Rollstuhl sitzt.“

„Danke, das war deutlich“, sagte Niklas und verließ den Raum. Nadine folgte ihm kopfschüttelnd mit bösem Blick auf Wolf.

Der biss sich auf die Zunge. So ein Mist, das hätte er nicht sagen dürfen.

„Niemand sagt, dass du diese Stunden nicht wahrnehmen sollst“, versuchte Detlef zu beschwichtigen, „aber vielleicht können wir uns darauf einigen, dass du definitiv mit im Team bist und uns deine Unterstützung zusicherst, soweit es dir möglich ist. Wir brauchen deine Erfahrung und Besonnenheit.“

Peter lachte. „Besonnen war das jetzt nicht gerade, sondern beschissen. Aber wir haben auch leicht reden. Niemand steckt in deiner Haut. Uns allen geht es mehr oder weniger gut. Wir können normal leben. Trotzdem solltest du Detlefs Vorschlag, der uns allen aus dem Herzen spricht, überdenken. Dafür rede ich mit Niklas. Wenn sein Blutdruck wieder gesunken ist, wird er Verständnis für dich haben. Vielleicht trinkt ihr gelegentlich ein Bier zusammen, so von Mann zu Mann, nicht von Vater zu Sohn.“

„Wenn ich ihn aus Nadines Armen loseisen kann“, sagte Wolf und zwinkerte den beiden Kollegen zu. „Die hätte mich am liebsten eben gefressen. Sprich lieber mit ihr. Und ja: Natürlich unterstütze ich euch. Das habe ich eben nicht so gemeint. Falsche Wortwahl sozusagen. Klar bin ich mit dabei. Was denkt ihr? Ich stecke schon viel zu tief drin. Es würde mich sowieso beschäftigen.“

„Offiziell geht es natürlich nicht“, erinnerte Peter ihn und zwinkerte ihm zu. „Müssen wir vor der ollen Kukla geheim halten.“

„Unsere Staatsanwältin wird doch hoffentlich nach ihrer Weltreise immer noch gute Laune haben und über solche nichtigen Kleinigkeiten hinwegsehen“, witzelte Detlef.

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25 мая 2021
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