promo_banner

Реклама

Читать книгу: «DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL», страница 2

Шрифт:

Sie legte das Buch auf die Kommode und griff nach dem Korb zu ihren Füßen. „Außerdem bin ich nicht hier, um mich mit dir über Bücher zu unterhalten, sondern um zu schauen, was mein kleiner Bruder so treibt.“

„Ich arbeite, Marie. Und ich esse. Manchmal schlafe ich sogar.“ Er folgte ihr in die Küche.

„Wie kommst du mit deinem aktuellen Projekt voran? Ist es immer noch so langweilig?“ Nach und nach packte sie Konservendosen aus dem Korb, eine Flasche Sirup, ein paar Äpfel.

„Du musst mich nicht mit Lebensmitteln versorgen. Der Supermarkt ist gleich um die Ecke. Bist du etwa deshalb zwei Stunden hergefahren?“

„Ich wollte dich sehen, Simon.“ Sie ließ sich auf einen der Stühle fallen. „Die Lebensmittel sind lediglich ein Mitbringsel für den Fall, dass du noch nicht zum Einkaufen gekommen bist.“

Er nahm einen der Äpfel und lehnte sich an den Kühlschrank. „Ich meine es ernst, Marie. Mit diesem Buch stimmt etwas nicht. Diese Frau –,“ er suchte nach Worten, „diese Frau scheint meinen Schmerz zu kennen, dasselbe durchzumachen wie ich. Wer auch immer sie ist.“

Ihr Blick verlor nicht an Skepsis, dennoch schien sie bemüht, seine Eindrücke nicht sofort vom Tisch zu wischen. „Vielleicht schildert die Autorin einfach nur persönliche Erlebnisse. Oder die Geschichte handelt ganz einfach davon. Solche Bücher gibt es nun mal. Und manchen Menschen helfen sie ja vielleicht auch.“

„Das ist es ja gerade. Die Geschichte handelt von etwas völlig anderem. Es geht um einen Mann und eine Frau, die auf der Suche nach einem skrupellosen Betrüger sind, um ihrer eigenen Vergangenheit auf die Schliche zu kommen. Ich habe im Klappentext nachgelesen, und auch die restlichen Seiten deuten darauf hin.“

„Die restlichen Seiten?“

„Alle Seiten außer der Seite 139.“

Er warf ihr einen eindringlichen Blick zu, den sie fragend erwiderte.

„Verstehst du nicht, Marie? Seite 139. Der 13.9. Der Tag, an dem ...“

„Findest du nicht, dass du da etwas zu viel hineininterpretierst?“ Sie schob den Korb zur Seite.

„Hineininterpretierst? Marie, ich bin doch nicht verrückt. Ich weiß, was ich gesehen habe. Es ist der dritte Tag und der dritte Eintrag. Jedes Mal ein anderer. Und ich bin mir sicher, wenn ich morgen hineinschaue ...“

„Morgen wirst du aber nicht wieder hineinschauen“, fiel sie ihm ins Wort. „Morgen wirst du dich wieder voll und ganz auf deine Arbeit konzentrieren. Vielleicht ein Spaziergang im Park. Oder du nimmst eine der netten Einladungen von Frau Jäger zum Kaffee an.“

„Der Park. Genau darüber hat sie auch geschrieben. Von einem Park, in dem sie früher mit ihm gemeinsam war und den sie jetzt nur noch allein besuchen kann. Als ich heute früh nachlesen wollte, konnte ich aber nichts mehr darüber finden. Die Worte waren wie ausgelöscht – und durch neue ersetzt worden.“

„Das ist doch albern.“

Er legte den Apfel zurück auf den Tisch und nahm auf dem Stuhl neben ihr Platz.

„Ich weiß doch selbst, dass es albern ist. Und wenn es irgendein Buch wäre, könnte ich es vielleicht ignorieren.“ Zögernd griff er nach ihrer Hand. „Aber es ist ihr Buch, Marie. Das letzte Buch, das sie vor ihrem Tod gelesen hat.“

Noch während er auf eine Antwort von ihr wartete, wurde ihm die eigene Beharrlichkeit bewusst, mit der er sie zu überzeugen versuchte. Das Fehlen jeder für ihn sonst so typischen Skepsis. Die Priorität, die die Aufgabe innerhalb weniger Stunden eingenommen hatte, einem noch unbekannten Ziel zu folgen. Ein Ziel, das er noch nicht einordnen konnte und das ihn doch auf eine merkwürdige Art fesselte.

„Seite 139, sagst du?“

„Ja.“ Er umfasste ihre Hand ein wenig fester. „Seite 139.“

Kapitel 3

„Das Glück im Augenwinkel, sagten Sie?“ Der Mann mit dem strengen Blick und dem ebenfalls ein gewisses Maß an Strenge ausstrahlenden Namensschild L. Reichardt tippte den Titel in die Tastatur, als täte er den lieben langen Tag nichts anderes. „Ah, da haben wir es ja. Das Glück im Augenwinkel von Nancy Salchow.“

„Nancy Salchow. Ja richtig.“

Noch bevor Simon über seine Schulter hinweg einen Blick auf den Bildschirm werfen konnte, begab sich der Mann zu einem der Regale, fuhr mit dem Finger über die Buchrücken, um schließlich ein Exemplar herauszuziehen.

„Da ist es ja schon“, sagte er und reichte es Simon, um sich kurz darauf dem nächsten Kunden zuzuwenden, der mit einem Lexikon in der Hand um Auskunft bat.

Simon setzte sich auf einen der Lesesessel zwischen den Regalen und begann, in dem Buch zu blättern. Wie von selbst suchten seine Finger die Seite 139. Und tatsächlich. So wie er vermutet hatte. Rose. Adam. Das Cabriolet. Die Geschichte über den skrupellosen Schwindler.

Er legte das Buch auf den kleinen Tisch der Leseecke und verließ die Bibliothek, ohne sich noch einmal umzudrehen. Vor dem Gebäude stürmte er hastig in seinen parkenden Wagen und griff nach dem Buch auf dem Beifahrersitz, noch bevor er den Schlüssel in das Zündschloss stecken konnte.

Claudia fragt mich ständig, wann ich endlich ihren Cousin treffen will. Detlef heißt er. Kannst du dir das vorstellen? Sie will mich ernsthaft verkuppeln. Aber sie versteht nicht, wie lächerlich der Gedanke ist, dich durch einen Anderen zu ersetzen. Und ich will ihr nicht wehtun, indem ich es ihr so direkt sage. Immerhin ist sie die einzige Freundin, die mir geblieben ist. Alle anderen haben sich abgewandt, nachdem ich monatelang jeden Annäherungsversuch abgeblockt habe. Nur sie hat sich nicht abschrecken lassen, hat mich immer wieder in irgendein Bistro geschleppt, und sei es nur für einen lauwarmen Kaffee. Einmal hat sie mich sogar dazu gebracht, mit ihr ins Kino zu gehen. Worum es in dem Film ging, habe ich bereits vergessen. Nett fand ich es trotzdem. Sie bemüht sich. Sie bemüht sich wirklich.

„Nita“, sagt sie immer. „Nita, das Leben kann scheiße sein. Aber es ist noch nicht vorbei. Du bist jung und du bist schön. Und es wird Zeit, dass wir das der Welt da draußen zeigen.“ Und irgendwie muss ich lachen, wenn sie das sagt. Auch wenn ich natürlich noch lange nicht bereit bin, „mich der Welt zu zeigen“. Meine Welt bist du, Patrick. Und das wird sich auch nicht ändern.

Und wenn er doch verrückt wurde? Wenn ihm die Trauer um Emma den Verstand vernebelte und jeglichen Bezug zur Realität verlieren ließ?

Er schlug das Buch zu, warf es ins Handschuhfach und presste seine Hand ruckartig dagegen. Warum tat er sich das an? Warum interessierte es ihn überhaupt, was es mit diesem Buch auf sich hatte? Es konnte ihm doch egal sein. Vollkommen egal. Wer auch immer diese Frau war, was auch immer sie durchmachte: Sie erinnerte ihn nur umso schmerzhafter an seinen eigenen Verlust, an all die schönen Momente, die von Tag zu Tag immer mehr verblassten. Was war es, das ihn diesen Schmerz dennoch immer wieder suchen ließ? Und warum gelang es ihm so schlecht, sich der Bindung, die zwischen ihm und der Frau zu bestehen schien, zu entziehen?

Wütend kurbelte er das Fenster seines alten Vans herunter, startete den Motor und verließ den Parkplatz. Es war an der Zeit, dass er einen klaren Kopf bekam, sich in die Arbeit stürzte und all die Dinge tat, die ihm in den vergangenen Monaten während seines Aufenthaltes bei Marie geholfen hatten, nicht verrückt zu werden.

Doch schon auf den ersten Kilometern seiner Rückfahrt dachte er wieder an das eigenartige Buch, als er einen Buchladen am Rande der Straße passierte. Ein Geschäft, dem er nie zuvor sonderlich Beachtung geschenkt hatte. Unweigerlich drängten sich ihm unzusammenhängende Sätze der fremden Frau ins Bewusstsein. Im Buchladen interessiert es niemanden, ob ich heiser bin. Ich spiele mit dem Gedanken, Herrn Volkmann anzubieten, täglich eine Stunde länger zu arbeiten.

Er trat auf die Bremse und parkte den Wagen neben dem Bürgersteig. Ehe er sich der Absurdität seiner Idee, oder vielmehr: seines Drangs, bewusst werden konnte, schlug er die Wagentür zu und betrat den kleinen Laden.

Hinter dem Tresen bemerkte er eine unscheinbare Frau, leicht untersetzt, vielleicht in den Fünfzigern. Ein junges Pärchen stand kichernd neben einem der Regale, in ihren Händen ein Buch, das scheinbar für große Erheiterung sorgte. Ansonsten war der Laden leer.

„Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“ Die Angestellte schien seine Verunsicherung bemerkt zu haben.

„Ich –“ Er trat einen Schritt näher, während er ihr Namensschild musterte. Tessa Unger.

„Ja?“ Ihr Lächeln war freundlich. Erwartend, aber unaufdringlich.

„Ich –“, begann er erneut. „Ich suche jemanden.“

„Von wem ist denn das Buch?“

„Oh, kein Buch“, verbesserte er. „Eine Angestellte. Nita ist ihr Name.“

Im selben Augenblick bereute er seine Frage. Unabhängig von der Wahrscheinlichkeit, Nita irgendwo, geschweige denn hier anzutreffen: Wie sollte er die Suche nach ihr begründen?

„Tut mir leid. Eine Nita arbeitet nicht bei uns.“

„Und ein Herr Volkmann vielleicht?“

„Auch kein Herr Volkmann.“

Sie fügte keine weitere Antwort hinzu, und auch sonst blieb ihr Lächeln unverändert. Beinahe nichts sagend.

„Es tut mir leid, Sie gestört zu haben“, antwortete er schließlich, sich seines Übermutes bewusst werdend, während er sich der Tür zuwandte und den Laden so schnell verließ, wie er ihn betreten hatte.

„Vielleicht finden Sie in einem anderen Geschäft, was Sie suchen“, hörte er sie hinter sich sagen, bevor die Tür ins Schloss fiel.

*

„Du siehst gut aus, Alter.“

Rico begrüßte ihn mit einem kräftigen Schlag auf die Schulter, der Simon für einen Moment aus der Lethargie riss. Wie lange hatte er ihn nicht gesehen? Dreizehn Monate? Vierzehn? Das letzte gemeinsame Abendessen hatte am vierten Hochzeitstag von Rico und Laura stattgefunden. Simon erinnerte sich so genau daran, weil er am Tag zuvor eine heftige Diskussion mit Emma darüber geführt hatte, ob ein Geschenk zusätzlich zu den Blumen übertrieben war. Er fand es übertrieben. Sie fand es unerhört, dass er es übertrieben fand.

„Danke, du hast dich auch gut gehalten“, antwortete er, während er das Haus betrat. Rico. Sein ehemals bester Freund. Und eigentlich auch heute noch, wenn eine Freundschaft selbst nach einem Jahr Abstinenz noch als solche gezählt werden durfte.

„Es gibt einen Hühnchenauflauf. Oder so was Ähnliches. Laura wird es sicher besser erklären können als ich.“ Er legte die Hände von hinten auf seine Schultern und schob ihn mit freundschaftlicher Bestimmtheit ins Esszimmer.

Simon musterte den rustikalen Tisch, das akkurat plazierte Geschirr, die Kristallgläser und die bordeauxroten Stoffservietten zwischen dem blitzenden Besteck.

„Hier scheint sich nicht viel verändert zu haben“, sagte er. „Dasselbe geschickte Händchen beim Dekorieren.“

„Du kennst Laura“, antwortete Rico und zog einen der Stühle zurück. „Bei ihr muss immer alles perfekt sein.“

Simon setzte sich auf einen der Plätze an der gegenüberliegenden Seite. Für einen kurzen Moment wurde er sich der neuen Situation bewusst, des leeren Platzes neben sich und der ungleichmäßigen Verteilung der Personen am Tisch, die mit Lauras Betreten des Esszimmers entstehen würde. Bilder von fröhlichen Abenden zu viert, lange Gespräche, die sich nicht selten bis in die Nacht hingezogen hatten, wurden in ihm wach. Doch im selben Augenblick verdrängte er die aufkeimende Erinnerung wieder. Eine Taktik, die er mittlerweile wie das An- und Ausknipsen von zu grellem Licht beherrschte.

„Erzähl schon, wie geht’s dir?“ Rico warf ihm einen neugierigen Blick zu. Eine Neugier, die Simon unangenehm war und die die Taktik des An- und Ausknipsens erschwerte.

„Ich schlage mich durch“, antwortete Simon.

„Es wurde ja auch Zeit, dass du wieder nach Hause kommst. Wir haben dich vermisst.“

Simon wollte antworten, doch keine Antwort schien ihm angebracht. Sollte er sagen, dass er ihn und Laura auch vermisst hatte? Dass er ebenfalls froh war, wieder hier zu sein? Die Wahrheit war, dass er nicht einen Moment an die beiden gedacht hatte, sich noch dazu alles andere als wohl in seiner alten Heimat fühlte.

„Stimmt. Es wurde Zeit, dass ich zurückkomme“, antwortete er diplomatisch und griff nach dem Wasserglas neben seinem Teller.

„Heeey!“ Laura betrat mit einer übergroßen Auflaufform in den Händen den Raum. „Da ist ja unser Ehrengast.“ Ihr Lächeln war aufrichtig, und Simon bemerkte seine ebenfalls aufrichtige Freude, sie zu sehen. So sehr er sich hin und wieder an Ricos schroffer Art störte, so sehr wusste er die ehrliche Herzlichkeit seiner Frau zu schätzen.

Sie stellte die Form auf einer Wärmplatte ab und fiel ihm um den Hals. Ein flüchtiger Kuss auf die Wange, eine etwas zu lange Umarmung. Fast hatte er den Eindruck, ein Schluchzen wahrzunehmen. Doch als sie sich wieder von ihm löste und einen Schritt zurücktrat, lächelte sie ihn mit dem aufbauenden Blick an, den er erwartet hatte.

„Es ist so schön, dass du da bist“, sagte sie leise, und er spürte, dass sie es meinte.

Sie setzte sich, entgegen Simons Vermutung, nicht neben Rico, sondern an die Kopfseite des Tisches und hob die übliche Sitzordnung auf. Eine Geste, von der sich Simon sicher war, dass sie ihr bewusst war. Und er war dankbar für ihr Feingefühl, die Parallelen zur Vergangenheit zumindest für den Moment auszublenden.

„Und sonst so? Was macht das Berufsleben? Alles im Griff, Kumpel?“, fragte Rico, während er sich etwas vom Tomatensalat nahm.

„Man tut, was man kann. Im Moment arbeite ich an der Übersetzung des neuen Romans von Clara Haiges.“

Laura griff nach Simons Teller, um ihn zu befüllen.

„Das klingt doch prima“, sagte sie. „Ich bin mir sicher, dass dir die Arbeit guttut.“

Simon nickte.

„Und wie sieht’s sonst so aus? Irgendwelche Neuigkeiten?“, fragte Rico.

Simon überlegte, welche Art von Neuigkeiten er meinen könnte. Die einsetzende Stille begann, peinlich zu werden.

„Na ja“, fuhr Rico fort, als eine Antwort ausblieb. „Gehst du unter Leute? Hast du irgendwen kennengelernt? Triffst du dich mit jemandem?“

Laura warf ihrem Mann einen entsetzten Blick zu.

„Ob ich mich mit jemandem treffe?“, wiederholte Simon ungläubig.

„Na ja. Frauen vorzugsweise.“ Rico grinste, scheinbar immun gegen Lauras warnende Blicke, und streckte den Arm nach einer der Bierflaschen auf der Mitte des Tisches aus.

Simon legte die Serviette neben seinen Teller und schob den Stuhl ein kleines Stück zurück, als müsste er sich für die richtige Antwort ausreichend Platz verschaffen.

„Es ist gerade mal ein Jahr her, Rico. Ich weiß nicht, wie deine Vorstellungen von angemessener Verarbeitungsphase aussehen, aber ich kann nicht einfach so vom Witwer- in den Junggesellenstatus übergehen.“

„Das war es auch sicher nicht, was Rico gemeint hat“, sagte Laura, und Simon war sich sicher, das Geräusch eines Fußtrittes gegen ein Schienbein wahrzunehmen.

„Er wollte einfach nur wissen, ob du es irgendwie schaffst, dich abzulenken“, fuhr sie fort. „Vielleicht durch den Kontakt zu Kollegen, Meetings oder Dinge dieser Art.“

„Ich lese“, antwortete Simon.

„Du liest?“ Ihr Blick war fragend und verständnisvoll zugleich.

„Ja. Ich lese.“

Kapitel 4

Der weiche Stoff umschloss ihren Körper wie eine zweite Haut. Fast kam es ihr so vor, als würde das Lavendelblau des Kleides schimmern, geradezu strahlen.

„Also, ich weiß nicht“, brummte sie skeptisch. „Ist das nicht etwas übertrieben? Wir gehen schließlich nur essen und nicht in die Oper.“

„Es ist genau richtig.“ Claudia zupfte eine imaginäre Fussel vom Kleid, während sich Nita missmutig im Spiegel betrachtete. „Immerhin ist es deine erste Verabredung seit langem. Da solltest du dich wie eine Königin fühlen.“

„Wie eine Presswurst trifft es wohl eher.“

„Sei nicht albern, Nita. Du siehst wunderschön aus. Und Detlef sieht das ganz sicher genauso.“

Sie musterte ihr Spiegelbild mit hochgezogenen Augenbrauen. Das dunkle Haar fiel fließend, beinahe wie der Stoff ihres Kleides, auf ihre Schultern herab. Trotz Claudias ständiger Beteuerungen, ihren blonden Kurzhaarschopf ohne Zögern sofort gegen ihr langes Haar eintauschen zu wollen, hatte sich Nita, solange sie denken konnte, stets Locken gewünscht. Oder zumindest schwungvolle Lippen. Irgendetwas Spektakuläres. Das grünliche Blau ihrer Augen war das Einzige, das sie selbst als Attraktion ihres eigenen Äußeren durchgehen lassen würde.

„Du siehst gut aus“, wiederholte Claudia, als hätte sie ihre Gedanken gelesen.

„Warum muss er auch Detlef heißen?“

„Du willst mir nicht ernsthaft einreden, dass du dich aufgrund seines Namens nicht mit ihm treffen willst.“

„Die ganze Verabredung ist eine blöde Idee.“ Nita ließ sich auf das Bett fallen. „Egal, wie er heißt.“

Claudia setzte sich neben sie. „Du kannst dich aber nicht länger vor der Welt verstecken, Engelchen.“

„Und wenn es genau das ist, was ich möchte? Wenn ich mich verstecken will?“

„Willst du nicht. Abgesehen davon solltest du die Sache mit Detlef nicht allzu ernst nehmen. Was ist schon dabei? Ihr geht essen, habt ?nen netten Abend und hinterher ...“

Nita puffte ihr entsetzt in die Hüfte. „Hinterher? Sag mal, was denkst du von mir? Dass ich mir nichts dir nichts mit ihm in die Kiste springe?“

„Warum nicht? Es würde dich zumindest auf andere Gedanken bringen.“

„Also, wenn das deine Pläne für meinen Abend mit deinem Cousin sind, lassen wir es lieber gleich bleiben.“

Claudia lachte. „Ach, Nita. Du siehst das viel zu verbissen. Es geht lediglich um das Testen deines Marktwertes, sich wieder begehrenswert zu fühlen, von Detlef und sicher auch vielen anderen Männern, die im Restaurant anwesend sind, bewundert zu werden.“ Sie streichelte ihr schwesterlich über die Wange. „Du wirst sehen, das wird dir guttun und dich endlich aus deinem grauen Alltag herausholen.“

„Mein Alltag ist nicht grau.“

Claudia rückte ein Stückchen näher und legt den Arm um sie. „Es ist ja nicht so, dass ich dich nicht verstehe. Du hast ein paar schlimme Monate hinter dir, und es wird auch sicher noch eine Weile dauern, bis ...“

„Falls du darauf hinaus willst, dass ich Patrick mit der Zeit schon vergessen werde, muss ich dich leider enttäuschen“, fiel Nita ihr ins Wort.

„Natürlich wirst du ihn nicht vergessen“, sagte sie. „Und das sollst du ja auch gar nicht. Aber du darfst auch dein eigenes Leben nicht vergessen, Nita. Ich meine, willst du wirklich den Rest deiner Tage zwischen eingestaubten Bücherregalen verbringen und abends dann über deinem Tagebuch sitzen, bis du wieder mal mit dem Kopf auf dem Schreibtisch eingeschlafen bist?“

Nita senkte den Blick. „Es ist kein gewöhnliches Tagebuch. Ich schreibe ihm. Und ich brauche das. Egal, was du davon hältst.“

„Das ist ja auch in Ordnung, Süße. Ich wäre die Letzte, die das verurteilen würde. Du darfst nur bei all den Gedanken an ihn nicht den Blick auf die Außenwelt verlieren. Er kommt nicht zurück. So schmerzhaft das auch ist. Und du wirst lernen müssen, das endlich zu verinnerlichen.“

Sie war Claudias direkte Art gewohnt. Und sie wusste, dass sie es gut meinte. Dennoch fühlte sie sich in Momenten wie diesen missverstanden. Wie konnte irgendjemand erwarten, dass sie ihr Leben mit Patrick einfach hinter sich lassen, einfach nach vorne schauen würde? Es war zwölf Monate her. Nur ein Wimpernschlag in der Zeit.

„Er ist nicht fort“, antwortete Nita leise. „Nicht wirklich.“

*

„Du siehst wirklich reizend aus.“

Er prostete ihr mit aufforderndem Lächeln zu. Das Wasserglas neben ihrem Teller wollte nicht so recht zu der Extravaganz seines teuren Rotweins passen. Und auch sonst schienen ihre Prioritäten wenig vereinbar mit seinen Vorlieben.

„Danke“, antwortete sie knapp und stocherte in ihrem Salat, ohne seinen Blick zu erwidern. Sie war sich der Unhöflichkeit ihres Verhaltens bewusst, dennoch schaffte sie es nicht, ihr Desinteresse zu verbergen.

„Claudia sagt, du arbeitest in einem Bücherladen. In welchem denn, wenn ich fragen darf?“

„Drüben am Dierkower Damm“, antwortete sie. „Wir arbeiten zu dritt in dem Laden.“

„Das klingt toll. Und er gefällt dir, dein Job?“

„Sicher. Sonst würde ich ihn nicht schon neun Jahre lang machen, oder?“

Sie erschrak über ihre eigene Kaltschnäuzigkeit. Wenigstens für zwei Stunden könnte sie sich doch zusammenreißen! Selbst wenn sie ihn danach weder anrufen noch wieder treffen würde.

„Ich mag Bücher halt sehr gerne“, fuhr sie fort und warf ein dezentes Lächeln hinterher.

„Schön zu hören, dass es noch Menschen gibt, die ihren Job wirklich lieben.“

„Und du?“, fragte sie. „Ich habe gehört, du machst irgendwas mit Steuern?“

Er lachte. „Irgendwas mit Steuern. Das klingt aber sehr – pauschal.“

„Dann habe ich vermutlich etwas falsch verstanden.“

„Ich arbeite als Angebots- und Präsentationsdesigner in einer Gesellschaft für Unternehmens- und Managementberatung“, stellte er richtig.

„Verstehe“, log sie und merkte, dass es sie ebenso wenig interessierte wie der Jahrgang seines Weins. Worauf hatte sie sich nur eingelassen? Sie war nicht mal in der Lage, sein Aussehen wahrzunehmen, geschweige denn, ihn als gut oder nicht gut aussehend zu benennen. Er saß einfach da. In einem hellgrünen Hemd, unter dem sich die Abdrücke seines Unterhemdes abzeichneten. Das Einzige, das sie wahrnahm. Und das Einzige, das sie Claudia nach diesem Abend erzählen können würde. Ich habe die Abdrücke seines Unterhemdes gesehen.

„Na ja, man schlägt sich so durch“, antwortete er. „Jeder hat halt so sein Steckenpferd, nicht wahr?“

Sie nickte. Steckenpferd. Unterhemd.

„Außerdem lerne ich auf diesem Wege sehr viele neue Menschen kennen“, fuhr er fort. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie unterschiedlich die Anforderungen der einzelnen Kunden sind und wie vielschichtig die Kriterien, die auf die verschiedenen Arbeitsabläufe einwirken.“

Steckenpferd. Unterhemd. Arbeitsabläufe.

Sie wurde müde.

„Würdest du mich für einen Augenblick entschuldigen?“

„Aber natürlich. Lass dir Zeit.“

Sie verließ den Tisch und durchquerte den Raum in Richtung Damentoilette. Für ein paar Sekunden ließ sie ihren Blick durch das Restaurant schweifen, auf der Suche nach den von Claudia prophezeiten bewundernden Blicken der anwesenden Männer. Doch im selben Augenblick musste sie erkennen, dass sie gar nicht in der Lage wäre, Bewunderung von Wahrnehmung zu unterscheiden. Genauso wenig wie sie in der Lage war, Claudias Cousin als langweilig, selbstverliebt oder sehr aufmerksam einzuordnen. Er war ihr egal. Schlichtweg egal.

Vielleicht würde ihr auf der Toilette eine geeignete Ausrede einfallen, den Abend vorzeitig abzubrechen.

Бесплатный фрагмент закончился.

102,61 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
150 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783847601371
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip