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13. Kapitel

Caitlin und Caleb standen zusammen auf der großen offenen Terrasse von The Cloisters und blickten in die Nacht hinaus. In der Ferne war der Hudson River zu erkennen, der zwischen den kahlen Bäumen hervorblitzte – sogar die winzigen Scheinwerfer der Autos auf der Brücke konnte sie erkennen. Die Nacht war absolut still.

»Du musst mir einige Fragen beantworten, Caleb«, sagte sie leise, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten.

»Ich weiß«, antwortete Caleb.

»Was mache ich hier? Was glaubst du, wer ich bin?«, fragte Caitlin. Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sie den Mut aufbrachte, ihre letzte Frage zu stellen: »Und warum hast du mich gerettet?«

Caleb starrte ziellos in die Ferne. Sie hatte keine Ahnung, was er dachte und ob er überhaupt antworten würde.

Schließlich wandte er ihr das Gesicht zu. Sie sahen sich in die Augen, und die Intensität seines Blicks war überwältigend. Sie hätte nicht wegsehen können, selbst wenn sie es versucht hätte.

»Ich bin ein Vampir«, erklärte er rundheraus. »Ich gehöre zum Whitetide Clan. Ich lebe seit mehr als dreitausend Jahren, und achthundert davon habe ich mit diesem Clan verbracht.«

»Warum bin ich hier?«

»Die Vampirclans und die verschiedenen Vampirrassen führen ständig Krieg gegeneinander. Ihr Revier ist ihnen sehr wichtig. Unglücklicherweise bist du mitten hineingestolpert.«

»Was meinst du?«, fragte sie. »Wie denn?«

Er sah sie verwirrt an. »Erinnerst du dich nicht mehr?«

Sie starrte ihn verständnislos an.

»Deine Beute. Du warst der Auslöser für alles.«

»Beute?«

Langsam schüttelte er den Kopf. »Du erinnerst dich wirklich nicht mehr. Das ist charakteristisch für die erste Tötung. Es läuft immer so ab.« Er sah ihr in die Augen. »Du hast letzte Nacht jemanden umgebracht. Einen Menschen. Du hast sein Blut getrunken. In der Carnegie Hall.«

Um Caitlin herum drehte sich alles. Sie konnte kaum glauben, dass sie fähig sein sollte, jemandem etwas zuleide zu tun, aber tief in ihrem Innern spürte sie, dass es wahr war. Doch sie hatte Angst zu fragen, wer das Opfer gewesen war. Konnte es Jonah gewesen sein?

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, fügte Caleb hinzu: »Der Opernsänger.«

Caitlin konnte das alles kaum begreifen. Es war zu unwirklich. Es war, als wäre sie gerade mit einem schwarzen Brandzeichen markiert worden, das sie nie wieder loswerden würde. Sie fühlte sich furchtbar. Und außer Kontrolle.

»Warum habe ich das getan?«, fragte sie.

»Du hattest Hunger«, erklärte er. »Warum du allerdings diesen Ort und diesen Zeitpunkt gewählt hast, weiß niemand. Damit hat dieser Krieg begonnen. Du hast dich im Revier eines anderen Clans befunden –. eines sehr mächtigen Clans.«

»Also war ich nur zur falschen Zeit am falschen Ort?«

Er seufzte. »Ich weiß es nicht. Vielleicht steckt auch mehr dahinter.«

»Was willst du damit sagen?«

»Vielleicht solltest du dort sein. Vielleicht war es deine Bestimmung.«

Sie überlegte. Sie fürchtete sich davor, die nächste Frage zu stellen. Doch schließlich überwand sie sich. »Bedeutet all das, dass … ich ein Vampir bin?«

Er wandte sich ab. Nach einer kurzen Pause erwiderte er: »Ich weiß es nicht.«

Dann sah er sie wieder an.

»Du bist kein richtiger Vampir, aber du bist auch kein richtiger Mensch. Du bist irgendwo dazwischen.«

»Ein Halbblut?«, hakte sie nach.

»So würden sie es nennen. Ich bin mir da nicht so sicher.«

»Was genau ist das eigentlich?«

»Ein Vampir, der bereits als Vampir geboren wurde. Es verstößt gegen unser Gesetz und unsere Lehre, Nachwuchs mit einem Menschen zu zeugen. Manchmal kommt es jedoch vor, dass ein ungehorsamer Vampir es trotzdem tut. Wenn die Menschenfrau sein Kind zur Welt bringt, ist es ein Halbblut. Nicht ganz Mensch, nicht ganz Vampir. Unsere Rasse sieht allerdings auf Halbblüter herab. Die Strafe für die Kreuzung mit einem Menschen ist der Tod. Da werden keine Ausnahmen gemacht. Und das Kind wird verstoßen.«

»Aber du hast doch gesagt, dass euer Messias ein Halbblut sein wird, oder nicht? Wie können sie denn auf sie herabsehen, wenn eines davon ihr Erlöser sein wird?«

»Das ist das Paradoxe an unserer Religion«, gab er zu.

»Erzähl mir mehr«, hakte sie nach. »Inwiefern unterscheidet sich ein Halbblut von einem Vampir?«

»Echte Vampire trinken von dem Augenblick ihrer Verwandlung an Blut. Halbblüter fangen gewöhnlich erst damit an, wenn sie erwachsen werden.«

Sie fürchtete sich bereits vor der Antwort auf ihre nächste Frage.

»Wann ist das?«

»Mit achtzehn.«

Caitlin überlegte angestrengt. Das ergab Sinn. Sie war vor Kurzem achtzehn geworden, und ihre Gelüste hatten gerade begonnen.

»Halbblüter sind sterblich«, fuhr Caleb fort. »Sie können sterben wie normale Menschen. Wir dagegen können das nicht.

»Um ein echter Vampir zu sein, muss man von einem echten Vampir verwandelt werden, und es muss gewollt sein. Es ist nicht erlaubt, einfach irgendjemanden zu verwandeln – sonst würde unsere Rasse sich zu stark vermehren. Daher muss man vorab die Erlaubnis des Rates einholen.«

Caitlin runzelte die Stirn und versuchte, all das zu begreifen.

»Du verfügst zwar über manche unserer Eigenschaften, aber nicht über alle. Und da du nicht reinrassig bist, werden die Vampire dich leider nicht akzeptieren. Jeder Vampir gehört zu einem Clan. Es ist zu gefährlich, keinen Clan zu haben. Normalerweise würde ich einen Antrag stellen, dich aufzunehmen. Aber angesichts der Tatsache, dass du ein Mischling bist … sie würden es nie erlauben. Kein Clan würde dich als Mitglied akzeptieren.«

Caitlin schluckte. Wenn es noch etwas Schlimmeres gab, als herauszufinden, dass sie nicht vollkommen menschlich war, dann war es, herauszufinden, dass sie gar nichts richtig war. Sie gehörte nirgendwo dazu, weder hier noch dort, sondern steckte zwischen zwei Welten.

»Was war denn das für ein Gerede über den Messias? Darüber, dass ich … die Auserwählte sein soll?«

»Gemäß unserer Lehre soll eines Tages ein Bote, ein Messias, kommen und uns zu dem verlorenen Schwert führen. Es heißt, dass irgendwann ein Krieg ausbrechen wird, ein letzter, ultimativer Krieg zwischen allen Vampirrassen, ein Krieg, der sogar auf die menschliche Rasse übergreifen wird. Das ist unsere Version der Apokalypse. Das Einzige, was sie aufhalten und uns alle retten kann, ist das verlorene Schwert. Und die einzige Person, die uns zu ihm führen kann, ist der Messias.

Als ich heute miterlebt habe, was mit dir geschehen ist, war ich überzeugt, dass du es bist. Ich habe noch nie gesehen, dass ein Vampir immun gegen Weihwasser ist.«

Sie sah zu ihm auf.

»Und jetzt?«, wollte sie wissen.

Er blickte in die Ferne.

»Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.«

Caitlin spürte, wie sich Verzweiflung in ihr breitmachte.

»Also ist das der einzige Grund, warum du mich gerettet hast?«, fragte sie. Sie zögerte, weil sie Angst vor der Antwort hatte. »Weil du geglaubt hast, ich würde euch zu einem verlorenen Schwert führen?«

Caleb starrte sie verwirrt an.

»Was sollte es sonst für einen Grund geben?«, erwiderte er.

Die Antwort nahm Caitlin komplett den Wind aus den Segeln, als hätte er ihr einen heftigen Schlag versetzt. All die Liebe, die sie für ihn empfunden hatte, die beiderseitige Verbundenheit, die sie sich eingebildet hatte – all das löste sich in Luft auf. Am liebsten hätte sie geweint. Sie wollte weglaufen, aber sie wusste nicht, wohin. Sie schämte sich so sehr.

»Naja«, bemerkte sie und unterdrückte die Tränen, »zumindest wird es deine Frau freuen, dass du nur deinen Job erledigt hast und keine Gefühle für eine andere hegst – oder für irgendetwas anderes außer einem blöden Schwert.«

Dann drehte sie sich um und eilte davon. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie gehen sollte, aber sie musste auf jeden Fall weg von ihm. Ihre Gefühle waren übermächtig, und sie wurde nicht schlau aus ihnen.

Doch sie war erst wenige Schritte weit gekommen, als sie eine Hand auf ihrem Arm spürte. Er drehte sie zu sich um und sah ihr in die Augen.

»Sie ist nicht meine Frau«, erklärte er leise. »Wir waren einmal verheiratet, das stimmt, aber das ist siebenhundert Jahre her. Die Ehe hat nur ein Jahr gehalten. Leider vergessen Vampire nichts, also gibt es auch kein richtiges Ende.«

Caitlin schüttelte seine Hand ab. »Nun, was auch immer sie für dich ist, sie wird sich freuen, dich zurückzubekommen.«

Caitlin ging auf die Treppe zu.

Erneut hielt er sie auf, diesmal überholte er sie und stellte sich ihr in den Weg.

»Ich weiß nicht, wodurch ich dich verletzt habe«, sagte er, »aber was ich auch getan habe, es tut mir leid.«

Es ist eher das, was du nicht getan hast, hätte Caitlin gerne gesagt. Es ist, dass du mich nicht magst, dass du mich nicht liebst. Dass ich für dich nur eine Sache war, ein Mittel zum Zweck. So war es bisher mit jedem Jungen, den ich kennengelernt habe. Aber ich hatte geglaubt, dass es diesmal vielleicht anders wäre.

Doch sie sprach ihre Gedanken nicht aus, sondern senkte nur den Kopf und gab sich große Mühe, nicht zu weinen. Leider gelang es ihr nicht. Heiße Tränen liefen ihr Gesicht hinunter. Da berührte plötzlich eine Hand ihr Kinn und hob es an. Er zwang sie, ihn anzusehen.

»Es tut mir leid«, sagte er noch einmal. Es klang aufrichtig. »Du hattest recht. Es war nicht der einzige Grund, warum ich dich gerettet habe.« Er holte tief Luft. »Ich empfinde etwas für dich.«

Caitlins Herz schlug schneller.

»Aber du musst verstehen: Es ist verboten. Die Gesetze sind diesbezüglich äußerst streng. Ein Vampir kann niemals mit einem Menschen, einem Halbblut oder sonst jemandem zusammen sein, der kein echter Vampir ist. Die Strafe wäre der Tod. Daran führt kein Weg vorbei.«

Caleb senkte den Blick.

»Verstehst du das?«, fuhr er schließlich fort. »Wenn ich Gefühle für dich hätte und nicht nur um das Allgemeinwohl besorgt wäre, hätte das meinen Tod zur Folge.«

»Und was soll jetzt aus mir werden?«, fragte sie. Sie sah sich um. »Hier bin ich eindeutig nicht willkommen. Wohin soll ich gehen?«

Caleb schüttelte den Kopf.

»Nach Hause kann ich auch nicht«, fügte sie hinzu. »Ich habe kein Zuhause mehr. Die Polizei sucht nach mir. Diese bösen Vampire suchen nach mir. Was soll ich bloß tun? Soll ich alleine da hinausgehen? Ich weiß doch nicht einmal mehr, was ich bin.«

»Ich wünschte, ich wüsste eine Antwort. Ich habe es versucht. Ich habe es wirklich versucht. Aber mehr kann ich nicht tun. Man kann sich dem Rat nicht widersetzen. Das würde für uns beide das Todesurteil bedeuten. Ich bin zu fünfzig Jahren Haft verurteilt worden und kann dieses Gelände nicht verlassen. Wenn ich es täte, würde mein Clan mich für immer verbannen. Das musst du verstehen.«

Caitlin wandte sich zum Gehen, aber er hielt sie erneut auf.

»Du musst es einfach verstehen! Du bist nur ein Mensch. Dein Leben wird in spätestens achtzig Jahren vorbei sein. Aber ich habe noch Tausende von Jahren vor mir. Dein Leiden ist kurz; meins ist endlos. Ich kann es nicht riskieren, für immer aus meinem Clan verstoßen zu werden. Der Clan ist alles, was ich habe. Ich liebe dich. Ich hege starke Gefühle für dich, obwohl ich das selbst nicht richtig verstehe. In all den Jahren habe ich so etwas noch nie erlebt. Aber ich kann es einfach nicht riskieren, diese Mauern zu verlassen.«

»Ich frage dich noch einmal«, unterbrach sie ihn. »Was soll aus mir werden?«

Er schaute nur zu Boden.

»Ich verstehe. Das ist nicht mehr dein Problem.«

Caleb wollte noch etwas erwidern, aber diesmal war sie verschwunden. Wirklich weg.

Schnell überquerte sie die Terrasse und stieg die Steintreppe hinunter. Dann steuerte sie auf die Bronx zu und verschwand in der dunklen New Yorker Nacht. Noch nie hatte sie sich so einsam gefühlt.

14. Kapitel

Begleitet von einer kleinen Gruppe Vampire marschierte Kyle den Gang entlang. Ihre Schritte hallten von den Steinwänden wider. Einer seiner Helfer leuchtete ihnen mit einer Fackel den Weg.

Sie näherten sich der Kommandozentrale, einer unterirdischen Kammer, die nur von solchen Vampiren betreten wurde, die eine ausdrückliche Erlaubnis erhalten hatten. Kyle war noch nie hier gewesen. Aber an diesem Tag war er vom obersten Meister höchstpersönlich herzitiert worden. Die Angelegenheit musste also ernst sein. In viertausend Jahren war Kyle noch nie hierher bestellt worden. Aber er hatte von anderen gehört, denen das widerfahren war. Sie waren gekommen und nie wieder zurückgekehrt.

Kyle schluckte schwer und beschleunigte seinen Schritt. Er war immer schon der Meinung gewesen, dass man unangenehme Dinge am besten schnell hinter sich brachte.

Schließlich kamen sie an eine große Tür. Sie stand offen, wurde aber von mehreren Vampiren bewacht. Kalt erwiderten sie seinen Blick. Doch dann traten sie zur Seite und machten den Weg frei. Nachdem Kyle durch die Tür getreten war, streckten sie ihre Stäbe aus und hinderten die anderen daran, ihm zu folgen. Die Tür schlug hinter Kyle zu.

Drinnen standen Dutzende von Vampiren in strammer Haltung an beiden Seiten des Raumes. Vorne in der Mitte entdeckte er einen mächtigen Marmorthron, und darin saß Rexus, der oberste Meister.

Kyle trat mehrere Schritte vor, neigte den Kopf und wartete darauf, dass Rexus das Wort an ihn richtete.

Der Meister starrte ihm aus seinen kalten, harten eisblauen Augen an.

»Erzähl mir alles über diesen Menschen oder das Halbblut … oder was auch immer sie ist. Alles, was du weißt«, forderte Rexus Kyle auf. »Und über diesen Spion. Wie konnte er sich einschleusen?«

Kyle holte tief Luft und begann zu berichten.

»Über das Mädchen wissen wir nicht viel«, gab er zu. »Wir haben keine Ahnung, warum das Weihwasser keine Wirkung auf sie hatte. Aber wir wissen, dass sie es war, die über den Opernsänger hergefallen ist. Er befindet sich inzwischen in unserer Obhut, und wir erwarten, dass er uns zu ihr führen wird, sobald er sich erholt hat. Er wurde von ihr verwandelt. Ihr Geruch ist in seinem Blut.«

»Welchem Clan gehört sie an?«, fragte Rexus.

Kyle bewegte sich unruhig hin und her. Er wählte seine Worte sehr sorgfältig.

»Wir glauben, dass sie ein aus der Art geschlagener Vampir ist, eine Einzelgängerin.«

»Glauben!? Weißt du denn gar nichts?«

Die Zurechtweisung ließ Kyle das Blut in die Wangen schießen.

»Also hast du sie in unsere Mitte gebracht, ohne etwas über sie zu wissen«, stellte Rexus fest. »Du hast unseren gesamten Clan in Gefahr gebracht.«

»Ich habe sie hergebracht, um sie zu vernehmen. Ich hatte keine Ahnung, dass sie immun …«

»Und was ist mit dem Spion?«, fiel Rexus ihm ins Wort.

Kyle schluckte.

»Caleb. Wir haben ihn vor zweihundert Jahren aufgenommen. Er hat seine Loyalität viele Male unter Beweis gestellt. Wir hatten nie einen Grund, ihm zu misstrauen.«

»Wer hat ihn rekrutiert?«, wollte Rexus wissen.

Kyle machte eine Pause und schluckte erneut.

»Ich.«

»Aha«, meinte Rexus. »Also hast du gleich zweimal eine Bedrohung in unsere Reihen geholt.«

Rexus blitzte ihn an. Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Eine Feststellung voller Verachtung.

»Es tut mir leid, Meister«, antwortete Kyle und neigte den Kopf. »Aber zu meiner Verteidigung möchte ich anmerken, dass niemand hier, kein einziger Vampir, je einen Verdacht gegen Caleb gehegt hat. Bei vielen Gelegenheiten …«

Rexus hob die Hand.

Kyle brach ab.

»Du hast mich gezwungen, den Krieg zu beginnen. Jetzt muss ich unsere ganzen Ressourcen umverteilen. Unser Masterplan muss erst einmal auf Eis gelegt werden.«

»Es tut mir leid, Meister. Ich werde alles tun, um sie zu finden, und dann wird sie dafür büßen.«

»Ich fürchte, dafür ist es zu spät.«

Kyle schluckte erneut und wappnete sich gegen das, was als Nächstes kommen würde. Falls es der Tod war, so war er bereit.

»Du musst dich nicht länger vor mir verantworten. Ich selbst bin ebenfalls vorgeladen worden. Und zwar vor den Obersten Rat.«

Kyle riss die Augen auf. Sein ganzes Leben lang hatte er Gerüchte über diesen Obersten Rat gehört, das oberste Gremium der Vampire, vor dem sich sogar der oberste Meister zu verantworten hatte. Doch jetzt erst wusste er mit Sicherheit, dass dieser Oberste Rat tatsächlich existierte und dass er vorgeladen werden würde.

»Sie sind äußerst unzufrieden mit den heutigen Ereignissen und fordern Antworten. Du wirst ihnen die Fehler erklären, die du begangen hast – warum sie entkommen ist, wie sich ein Spion einschleusen konnte … Außerdem wirst du Pläne zur Ausmerzung anderer Spione vorlegen. Und dann wirst du ihr Urteil akzeptieren.«

Kyle nickte langsam. Angesichts der Dinge, die auf ihn zukamen, erfüllte ihn Entsetzen. Das alles hörte sich gar nicht gut an.

»Wir kommen in der nächsten Neumondnacht zusammen. Das verschafft dir Zeit. Ich schlage vor, dass du unterdessen dieses Halbblut findest. Wenn es dir gelingt, könnte es dir das Leben retten.«

»Meister, ich verspreche, dass ich alles dafür tun werde. Ich selbst werde die Suchaktion leiten. Wir werden sie finden. Und wir werden sie büßen lassen.«

15. Kapitel

Jonah saß auf der Polizeiwache und hatte große Angst. Auf der einen Seite saß sein Dad, der nervöser wirkte, als Jonah ihn je erlebt hatte, und auf der anderen sein frisch angeheuerter Anwalt. Ihnen gegenüber in dem kleinen, hell erleuchteten Verhörraum hatten fünf Polizeibeamte Platz genommen. Hinter ihnen befanden sich fünf weitere Polizisten, die alle nervös auf und abgingen.

Es war die Schlagzeile des Tages: Ein international gefeierter Opernsänger war ermordet worden – während seines ersten Auftritts auf amerikanischem Boden, mitten in der Carnegie Hall –, und zwar unter äußerst seltsamen Umständen. Aber das war noch nicht alles! Als die Polizei ihrer einzigen Spur nachgegangen und das Apartment der einzigen verdächtigen Person – einer jungen Frau – aufgesucht hatte, waren vier Polizisten ums Leben gekommen. Die Situation war völlig eskaliert.

Nun waren sie nicht nur hinter der „Beethoven-Schlächterin“ her (manche Zeitungen bezeichneten die verdächtige Frau auch als „Carnegie-Hall-Mörderin“), sondern jagten zudem auch noch einen Polizistenmörder – einen vierfachen Polizistenmörder, um genau zu sein! Jeder Polizist in der Stadt war auf die Morde angesetzt, und keiner von ihnen würde ruhen, bis der Fall gelöst war.

Doch die einzige Spur, die sie momentan hatten, saß ihnen gegenüber. Jonah. Die Person, die den Abend mit ihr verbracht hatte.

Jonah spürte, wie sich erneut Schweißtropfen auf seiner Stirn bildeten. Inzwischen saß er seit mehr als sechs Stunden in diesem Raum. In den ersten drei Stunden hatte er sich ständig den Schweiß vom Haaransatz gewischt, doch jetzt ließ er die Tropfen einfach herunterlaufen. Er war bereits auf seinem Stuhl zusammengesackt und völlig am Ende.

Tatsächlich wusste er nicht, was er noch hinzufügen sollte. Ein Polizist nach dem anderen war ins Zimmer gekommen, und sie alle hatten ihm dieselben Fragen gestellt, immer wieder. Wie lange kennst du sie schon? Warum hast du sie in dieses Konzert mitgenommen? Warum ist sie in der Pause gegangen? Warum bist du ihr nicht gefolgt?

Wie war es nur so weit gekommen? Als sie kam, war sie so hübsch gewesen. Und so süß. Er hatte sich in ihrer Gegenwart wohl gefühlt und es geliebt, sich mit ihr zu unterhalten. Er war davon überzeugt gewesen, dass es ein traumhaftes Date werden würde.

Doch dann hatte sie angefangen, sich irgendwie seltsam zu benehmen. Kurz nach Beginn des Konzerts war sie immer unruhiger geworden. Sie hatte … krank war nicht das richtige Wort … Sie hatte … zappelig gewirkt. Er hatte das Gefühl gehabt, sie würde gleich platzen. Als müsste sie dringend irgendwohin, und zwar schnell.

Zuerst hatte er geglaubt, das Konzert gefiele ihr nicht. Er fragte sich, ob es doch keine gute Idee gewesen war, sie einzuladen. Dann hatte er überlegt, ob sie ihn vielleicht nicht mochte. Aber allmählich war ihre Rastlosigkeit immer auffälliger geworden, und er hatte die Hitze, die sie ausstrahlte, förmlich spüren können. Inzwischen machte er sich Gedanken, ob sie nicht vielleicht doch krank war – vielleicht litt sie ja an einer Lebensmittelvergiftung.

Als sie schließlich aufgesprungen und hinausgestürmt war, hatte er gedacht, sie würde zur Damentoilette rennen. Er war zwar verwirrt gewesen, hatte aber geduldig vor der Tür gewartet. Er war davon ausgegangen, dass sie nach der Pause wiederkommen würde. Erst nach fünfzehn Minuten – nach dem letzten Pausengong – war er allein an seinen Platz zurückgekehrt.

Und nach weiteren fünfzehn Minuten waren plötzlich im ganzen Saal die Lichter aufgeflammt. Ein Mann war auf die Bühne getreten und hatte verkündet, dass das Konzert nicht fortgesetzt werden würde. Das für die Konzertkarten bezahlte Geld werde zurückerstattet. Doch einen Grund hatte er nicht genannt. Die Menschen waren verblüfft und verärgert gewesen, aber hauptsächlich verwundert. Jonah besuchte schon sein ganzes Leben lang Konzerte, aber er hatte noch nie einen Abbruch nach der Pause erlebt. War der Sänger krank geworden?

»Jonah?«, blaffte die Polizistin ihn an.

Jonah schreckte auf.

Die Polizistin starrte ihn wütend an. Detective Grace war ihr Name. Sie wirkte ausgesprochen tough. Und sie war unerbittlich.

»Hast du nicht gehört, was ich dich gerade gefragt habe?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich möchte, dass du mir noch einmal alles erzählst, was du über sie weißt«, forderte sie. »Wiederhole, wie du sie kennengelernt hast.«

»Diese Frage habe ich bestimmt schon tausend Mal beantwortet«, erwiderte Jonah frustriert.

»Ich will es noch einmal hören.«

»Ich habe sie in der Schule kennengelernt. Sie war neu. Ich habe ihr meinen Sitzplatz angeboten.«

»Was geschah dann?«

»Wir sind ins Gespräch gekommen, haben uns später zufällig in der Cafeteria getroffen. Dann habe ich sie ins Konzert eingeladen, und sie hat Ja gesagt.«

»Das war alles?«, hakte Detective Grace nach. »Sonst gibt es keine weiteren Einzelheiten, gar nichts?«

Jonah überlegte, wie viel er ihnen verraten sollte. Natürlich gab es noch mehr. Er war von diesen Schlägern vermöbelt worden, und danach hatte Caitlins Tagebuch unerklärlicherweise neben ihm gelegen. Deshalb hatte er vermutet, dass sie da gewesen war – und dass sie ihm geholfen hatte. Vielleicht hatte sie sogar diese Typen verprügelt. Wie sie das gemacht haben sollte, konnte er sich allerdings nicht vorstellen.

Aber sollte er das den Bullen erzählen? Die Geschichte von den Schlägern? Dass er glaubte, er habe sie dort gesehen? Dass er glaubte, sich daran zu erinnern, dass sie vier Typen verdroschen hatte, die doppelt so groß waren wie sie selbst? Nichts davon ergab einen Sinn, nicht einmal für ihn. Ganz gewiss könnten auch sie sich keinen Reim darauf machen. Sie würden bloß annehmen, dass er log und sich irgendetwas ausdachte. Nein, sie waren hinter ihr her. Und er würde ihnen nicht helfen.

Trotz allem wollte er sie immer noch beschützen. Doch er verstand nicht, was da passiert war. Und ein Teil von ihm glaubte es einfach nicht, wollte es nicht glauben. Hatte sie wirklich diesen Opernsänger umgebracht? Warum? Und hatte er wirklich zwei Löcher im Hals, wie die Zeitungen schrieben? Hatte sie ihn etwa gebissen? War sie vielleicht eine Art …

»Jonah!«, rief Grace ungeduldig. »Ich habe gefragt, ob da sonst noch etwas ist?«

Die Polizistin starrte ihn an.

»Nein«, antwortete er schließlich. Er hoffte, dass sie nicht merkte, dass er log.

Ein anderer Detective trat vor. Er beugte sich zu Jonah hinunter und sah ihm in die Augen. »Hat irgendetwas von dem, was sie an dem Abend gesagt hat, darauf hingedeutet, dass sie psychisch labil sein könnte?«

Jonah runzelte die Stirn.

»Sie meinen, ob ich denke, dass sie verrückt ist? Warum sollte ich das? Wir haben uns gut verstanden. Ich mag sie. Sie ist klug und nett. Ich unterhalte mich gerne mit ihr.«

»Worüber genau habt ihr gesprochen?« Das war wieder der weibliche Detective.

»Über Beethoven«, entgegnete Jonah.

Die Polizisten tauschten Blicke. Sie sahen so verwirrt und angewidert aus, als hätte er Pornografie gesagt.

»Beethoven?«, fragte einer der Polizisten – ein untersetzter Typ in den Fünfzigern – spöttisch. Jonah war erschöpft und wollte ihm seinen Spott heimzahlen.

»Er war ein Komponist.«

»Ich weiß, wer Beethoven war, du kleiner Mistkerl!«, schnauzte er Jonah an.

Nun mischte sich noch ein anderer Polizist ein. Er war über sechzig und hatte ein rotes Gesicht. Er stützte sich mit seinen großen Händen auf den Tisch und beugte sich dann so weit vor, dass Jonah seinen schlechten Atem riechen konnte. »Hör mal, Kumpel, das ist kein Spiel. Wegen deiner kleinen Freundin mussten vier Polizisten sterben«, erinnerte er ihn. »Und wir wissen, dass du weißt, wo sie sich versteckt. Du solltest besser den Mund aufmachen und …«

Jonahs Anwalt hob die Hand. »Das ist reine Spekulation, Detective. Sie können meinen Mandanten nicht beschuldigen …«

»Ihr Mandant ist mir scheißegal!«, brüllte der Detective.

Angespanntes Schweigen erfüllte den Raum.

Plötzlich ging die Tür auf, und ein weiterer Polizist kam herein. Er trug Latexhandschuhe und hatte Jonahs Handy dabei. Er legte es vor Jonah auf den Tisch. Jonah freute sich, es zurückzubekommen.

»Habt ihr etwas gefunden?«, fragte einer der Polizisten.

Der Kollege mit dem Handy streifte die Handschuhe ab und warf sie in den Mülleimer. Er schüttelte den Kopf.

»Nichts. Das Handy ist sauber. Vor dem Konzert hat er ein paar Kurzmitteilungen von ihr bekommen, das ist alles. Wir haben ihre Nummer angerufen, aber das Handy ist ausgeschaltet. Jetzt überprüfen wir sämtliche Verbindungen. Übrigens sagt er die Wahrheit: Vor dem gestrigen Tag hat sie ihn noch nie angerufen und ihm auch keine Nachrichten geschickt.«

»Das habe ich Ihnen doch gesagt«, warf Jonah ein.

»Meine Damen und Herren Polizisten, sind wir jetzt fertig?«, fragte Jonahs Anwalt.

Die Polizisten wechselten rasch einen Blick.

»Mein Mandant hat kein Verbrechen begangen. Er hat kooperiert und sämtliche Fragen beantwortet. Außerdem hat er nicht die Absicht, den Staat New York oder auch nur die Stadt zu verlassen. Auch weiterhin steht er Ihnen jederzeit für Fragen zur Verfügung. Ich bitte also darum, dass er jetzt gehen kann. Schließlich ist er noch Schüler und muss morgen früh in die Schule.« Der Anwalt sah auf seine Uhr. »Gentlemen, es ist fast ein Uhr nachts.«

Genau in diesem Moment klingelte und vibrierte es laut. Alle Blicke richteten sich auf Jonahs Handy, das vor ihm auf dem Metalltisch lag. Dann vibrierte es erneut und leuchtete auf. Noch bevor Jonah danach greifen konnte, sah er bereits, von wem die SMS stammte – und alle anderen im Raum sahen es ebenfalls.

Sie war von Caitlin.

Sie wollte wissen, wo er war.

Возрастное ограничение:
16+
Дата выхода на Литрес:
09 сентября 2019
Объем:
153 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9781632910486
Правообладатель:
Lukeman Literary Management Ltd
Формат скачивания:
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