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Kapitel 2 – Ein echter Flaschengeist

Er spürte, wie er sich den schmalen Hals hinaufwand. Die Monotonie schwand, sein Bewusstsein kehrte zurück. Wenn er sich in der Flasche befand, besaß er keine Gefühle, machte er sich keine Gedanken, alles war ihm egal. Doch wenn er seine körperliche Gestalt zurückerlangte, wollte er nie wieder dieses Stadium der Gleichgültigkeit annehmen, nie wieder zurück in dieses verdammte Gefängnis.

Sein Herz begann zu schlagen, die Lungen füllten sich, seine Sinne funktionierten. Er fühlte, hörte, roch … und schließlich sah er das Mädchen. Sie hatte ihn erneut befreit, dem Himmel sei Dank!

»Du bist also wirklich ein Flaschengeist«, sagte sie leise, während sie auf dem Bett saß und ihn mit ihren großen braunen Augen anstarrte.

Er nickte und überlegte fieberhaft was er machen konnte, damit sie ihn nicht wieder zurück befahl.

Möglichst unauffällig sah er sich um. Er war auf jeden Fall nicht mehr im Haus seines ehemaligen Herrn, wie er zuvor schon festgestellt hatte. Dazu war es hier zu sauber. Das Zimmer gefiel ihm: bunte Poster, ein wenig chaotisch und definitiv zu viel weiblicher Flair, aber gemütlich. Es gab einen großen Schrank, einen Schreibtisch, ein Bett … und es stank nicht.

Das Mädchen schien auch anders zu sein als Meister Solomon. Hoffentlich. Ein Schauder überlief ihn, gemischt mit Angst und Hass, wenn er an seinen alten Besitzer dachte, daher blieb er lieber am Boden hocken. Seine Knie würden vielleicht vor Aufregung nachgeben.

Jetzt nur nichts falsch machen! Er hatte keine Lust auf Schläge oder Demütigungen.

»Wie heißt du?«, fragte die junge Frau.

Diener hatte Meister Solomon ihn genannt, weshalb er seinen Namen fast vergessen hatte, daher überraschte es ihn, als er ihn wie selbstverständlich über die Lippen brachte. »Nick.«

Nicolas Tate … So hieß er doch? Er war sich nicht sicher, denn er konnte sich kaum an sein menschliches Dasein erinnern. »Und du?«

»Julie Reynolds.«

Julie … Er besah sich seine neue Herrin genauer. Sie schien in seinem Alter zu sein und hatte langes braunes Haar, das ihr offen über die Schultern fiel. Ihre Rehaugen und diese wunderschön geschwungenen Lippen machten ihn irgendwie nervös.

Er senkte den Kopf, was es nicht besser machte. Unter dem dunklen Rock spitzten ihre Knie hervor, gefolgt von schlanken Waden. Hübsche Beine …

Hastig richtete er den Blick wieder höher und blieb an den Ansätzen ihrer Brüste hängen. Verdammt, war ihr T-Shirt tief ausgeschnitten!

Er schluckte. Julie war eine ziemlich flotte Biene. Ein Engel … War sie gekommen, um ihn zu erlösen?

Kurz schloss er die Lider, als ein Bild von einem blonden Mädchen vor seinem inneren Auge aufflackerte. Es sah Julie ein wenig ähnlich. Wenn er die blonden Locken erblickte, die sich an das herzförmige Gesicht der Unbekannten schmiegten, spürte er ein seltsames Ziehen hinter dem Brustbein. Er kannte das Mädchen aus seinen Gedanken, doch ihr Name fiel ihm nicht ein.

»Wie alt bist du?«, wollte Julie wissen. »Viele hundert Jahre?«

Nick kratzte sich am Kopf. »Ich weiß nicht genau … Aber ich glaube nicht, dass ich so alt bin.« Weitere Bilder formten sich: wie er eine Straße entlangging und Autos hinterhersah. Er hatte sich, sobald er genügend Geld in der Tasche hatte, einen Shelby Mustang kaufen wollen … Die Erinnerung verblasste, war plötzlich nicht mehr greifbar, denn seine neue Herrin bombardierte ihn mit Fragen.

»Wie kamst du in Mr. Solomons Besitz?«

»Das weiß ich nicht mehr.« Aber das Wissen lag tief in ihm vergraben, da war er sich sicher. Meister Solomon hatte ihn verhext, damit er seine Vergangenheit vergaß. Jetzt, wo er tot war, müsste auch der Zauber an Wirkung verlieren.

Hoffentlich …

Langsam stand er auf, um das Mädchen nicht zu erschrecken. Im Moment machte sie keine Anstalten, ihn zurück in die Flasche zu wünschen, und daran sollte sich nichts ändern. »Du bist anders als mein alter Meister. Dein Haus ist ganz anders. Du bist keine Hexe, oder?«

Sie schüttelte den Kopf, woraufhin er vor Erleichterung am liebsten in die Luft gesprungen wäre.

Nur nichts anmerken lassen, dachte er. Noch wusste er zu wenig über Julie.

»A-aber das ist nicht mein Haus. Es gehört meinen Eltern. Und mein Bruder lebt auch hier«, setzte sie hinzu, als ob sie ihn damit einschüchtern wollte.

Hier lebte also eine ganz normale Familie. Nick konnte sein Glück kaum fassen.

Das Mädchen schaute zu ihm auf, erst in sein Gesicht, dann auf seine Brust, die sie nun direkt vor Augen hatte, da sie immer noch saß.

Obwohl er eine Hose trug, fühlte er sich plötzlich nackt und verschränkte die Arme.

Julie räusperte sich und blickte ihm hastig in die Augen. »Mr. Solomon soll ein Hexer gewesen sein?«

»Ja.« Was für seltsame Sachen sie besaß. Ein schwarzes Fenster hing an der Wand vor ihrem Bett, das wie ein Fernseher aussah, doch dazu war er zu flach. Ihre Musikanlage war winzig, und überhaupt gab es hier Dinge, die Nick noch nie gesehen hatte.

Plötzlich blinkte auf ihrem Schreibtisch ein kleines Rechteck auf, das eine wilde Melodie spielte. Erschrocken zuckte er zusammen. »Was ist das?« Das Gesicht eines rothaarigen Jungen leuchtete ihm entgegen. »Martin Baker ruft an« stand darunter. War das ein Telefon?

»Das ist ein Junge aus meiner Klasse. Ein bisschen nervig, aber ansonsten okay.« Julie sprang auf, nahm das singende Gerät in die Hand und brachte es mit einem Fingerstrich zum Schweigen. Die Oberfläche war nun schwarz.

Entgeistert starrte Nick es an.

»Hast du noch nie ein Smartphone gesehen?«, fragte sie, als sie das Ding weglegte.

Er schüttelte den Kopf. »Ist das ein Telefon?«

Sie nickte. »Fast ein kleiner Computer. Du kannst damit sogar Musik hören und im Internet surfen.«

»Internet …« Das kam ihm bekannt vor. Meister Solomon hatte auch einen Computer gehabt, aber das war ein großer grauer Kasten mit einem dicken Monitor gewesen, der stets gebrummt hatte.

»Wow, du kommst wirklich aus einer anderen Zeit.« Julie ging um ihn herum und musterte ihn von oben bis unten. »Er konnte also richtig zaubern?«, fragte sie.

»Wer?«

»Na, Mr. Solomon.«

»Hm.« Ihr Rumgelaufe machte ihn ganz nervös, weil ihm dann ständig ihr lieblicher Duft in die Nase wehte. Und erst ihre Blicke! Sie brannten förmlich auf seiner Haut.

»Und du gehörst jetzt mir?«

»Ja«, erwiderte er und räusperte sich, weil seine Stimme belegt war.

Sie klang verwirrt, als könne sie das alles nicht begreifen. »Warum bist du eigentlich so schmutzig?«

»Ich musste manchmal Meister Solomons Dreck wegräumen.«

»Was für einen Dreck?«

Ein Stich durchfuhr seinen Kopf. Nick kniff die Augen zusammen und rieb sich über die Schläfen. Ja, was hatte er weggeräumt? Er wusste es nicht mehr. Meister Solomon hatte ihn viel vergessen lassen. Schwach konnte er sich an Feuer erinnern und an einen Zauber: Memoriam fugo … Nick wollte gar nicht wissen, was er getan hatte. Darüber nachzudenken, verursachte ein unangenehmes Gefühl in seinem Magen. »Ich glaube … ich musste seine Wohnung sauber halten, doch er hat mich nur selten für längere Zeit aus der Flasche gelassen.«

Hinter ihm blieb Julie stehen. »Hat er dich geschlagen?« Sie klang aufgebracht.

Als er plötzlich ihre Finger spürte, die zärtlich über seinen Rücken glitten, kribbelte seine Haut. »Ich …« Nick schluckte. Wenn sie das noch länger machte, könnte das peinlich werden. Das Gefühl schoss direkt in tiefere Regionen. Schnell drehte er sich zu ihr um. »Er hatte oft schlechte Laune und die hat er manchmal an mir ausgelassen.«

»Was für ein Schwein!« Schwungvoll setzte sie sich vor dem Schreibtisch auf den Drehstuhl, sodass er ein Stück wegrollte. »Wenn er nicht schon tot wäre, würde ich ihn anzeigen!« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ins Leere, als würde sie nachdenken.

Nick war wirklich erleichtert, dass sie kein bisschen nach seinem alten Meister kam. Ich glaube, mit Julie kann ich es aushalten, dachte er und trat ans Fenster. »Wo bin ich hier eigentlich?«

»Ramona Avenue fünfzehn«, murmelte sie. »Mr. Solomon hat auch in der Straße gewohnt.«

Ja, er kannte den Straßennamen. Nick war selbst zu Meister Solomon gegangen. Vage erinnerte er sich an einen heißen Sommertag, als er eine längere Strecke mit dem Bus gefahren war. Bis hierher. Doch wieso?

Summer of Love … spukte ihm durch den Kopf. »Welches Jahr haben wir?«

»2013.«

Nick hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er wusste nur, dass Mr. Solomon sein erster Meister gewesen war. Hatte er ihn in die Flasche gebannt?

Unzählige Fragen stürzten auf ihn ein. Ob das an dem schwindenden Vergessenszauber lag?

Da sprang Julie erneut auf. »Du kannst unmöglich bei mir bleiben! Wenn meine Eltern dich sehen. Oder Connor!«

Wer war Connor? Wahrscheinlich der Bruder, den sie zuvor erwähnt hatte.

Unruhig wanderte sie im Zimmer auf und ab und gestikulierte wild mit den Händen, während sie mehr zu sich sprach als zu ihm. »Vielleicht hab ich ja noch Chancen bei Josh.«

Wen meinte sie denn jetzt?

»Was, wenn er vorbeikommt? Was wird er wohl denken, wenn ich einen Jungen bei mir habe?« Abrupt blieb sie stehen und fragte mit ernster Stimme: »Kann ich dich eigentlich weiterschenken?«

»Was?« Sein Herz begann zu rasen. Er wollte nicht von hier weg! Was, wenn er wieder zu solch einem Tyrannen kam?

Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Jetzt schau doch nicht so geschockt. War nur rein theoretisch gemeint.«

Nicks Kehle war ganz trocken. »Klar kannst du mich herschenken«, krächzte er. »Du bist meine Besitzerin. Du kannst alles mit mir machen.« Er hasste es, ihr das sagen zu müssen, aber als Flaschengeist war er automatisch dazu gezwungen, sie über alles aufzuklären, was mit dem Besitz seiner Flasche zusammenhing.

Ihre Brauen hoben sich. »Alles?« Als sie scheinbar das Ausmaß dieses Wortes begriff, röteten sich ihre Wangen und sie schaute schnell weg.

»Alles«, wiederholte er in einem möglichst beiläufigen Tonfall, doch dann änderte er seine Taktik. Offensichtlich gefiel ihr, was sie sah, denn sie schielte auf seinen nackten Oberkörper. Wenn er bei ihr seinen Charme spielen ließ, hätte er gute Karten. Nick versuchte, ein verschmitztes Lächeln aufzusetzen, machte eine sanfte Verbeugung und raunte: »Ich bin dein ergebener Diener.«

»Hör auf, mich so anzusehen!« Kichernd gab sie ihm einen Klaps auf den Arm. »Ich schicke dich nicht weg, wo ich doch drei Wünsche übrig habe. Meinst du, die schenke ich so einfach her?«

»Ach, und ich dachte, du magst mich vielleicht ein wenig«, sagte er gespielt beleidigt.

»Abwarten, ich muss dich schließlich erst kennenlernen.«

Dazu hatten sie viel Zeit. Julie war jung. Nick würde Jahrzehnte bei ihr bleiben können, er musste nur aufpassen, dass ihr nichts zustieß. Allein deshalb durfte sie ihn nie wieder zurück in die Flasche befehlen.

Julie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Wir haben noch ein wenig Zeit, bevor es Essen gibt. Setz dich.« Sie ließ sich auf ihr Bett nieder und klopfte neben sich auf die Matratze.

Seufzend schaute er an sich herunter. »Meine Hose ist schmutzig.«

»Hast du in deiner Flasche was zum Wechseln?«

Nick hob eine Braue. »Leider nein, und da gibt es auch keine kleine gemütliche rosa Couch wie in Jeannies Flasche.«

Ihr Gesicht hellte sich auf. »Du kennst die Serie Bezaubernde Jeannie

Er stutzte und erwiderte verwundert: »Ja.« Doch woher? Es war ihm einfach in den Sinn gekommen.

Lächelnd schüttelte sie den Kopf, wobei ihr Haar um ihren Nacken schwang. »Du bist ein seltsamer Flaschengeist.«

»Möglich«, sagte er schulterzuckend. »Ich hab leider keine Vergleichsmöglichkeit.«

»Außer Jeannie.« Julie grinste so frech, dass sein Herzschlag für eine Sekunde aus dem Takt geriet. An wen erinnerte sie ihn nur?

»Außer Jeannie«, wiederholte er, »aber die war ja nicht echt.«

Julie deutete auf ihren Drehstuhl und bat Nick darauf Platz zu nehmen. Zögerlich setzte er sich. Solomon war nie so höflich gewesen.

»Was würdest du dir wünschen, wenn du an meiner Stelle wärst?« Erwartungsvoll schaute sie ihn an.

Diese Frage hatte ihm noch nie jemand gestellt, doch die Antwort fiel ihm nicht schwer. »Wieder ein richtiger Mensch zu sein.«

»Dann wünsche ich mir das für dich«, sagte sie hastig.

»Damit du mich los hast?« Er lächelte unsicher und kratzte sich am Kopf. »Das geht leider nicht, und es gibt ein paar weitere Ausnahmen, was das Wünschen betrifft.«

»Lass mich raten.« Belehrend hob sie den Zeigefinger. »Du kannst niemanden töten oder von den Toten auferstehen lassen, niemanden dazu bringen, sich in mich zu verlieben, und das Wünschen weiterer Wünsche ist nicht wünschenswert.«

Für einen Moment verschlug es ihm die Sprache. Kannte sie sich doch mit Flaschengeistern aus? »Woher weißt du das?«

»Ich habe Aladdin gesehen.«

»Wen?« Er hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.

Julie lachte. »Vergiss es.«

»Nein, das will ich jetzt wissen!«

»Es ist ein Zitat aus einem Film.«

»Ich liebe Filme!« Er war gern ins Kino gegangen.

»Ein Flaschengeist, der Filme mag und Barbara Eden kennt. Ich glaube, ich behalte dich, dann können wir uns durch meine ganze DVD-Sammlung gucken.« Sie schaute zu der dunklen Scheibe an der gegenüberliegenden Wand.

Hatte er doch gewusst, wozu die gut war!

»Was wäre dein zweitgrößter Wunsch?«, wollte sie wissen.

»Hmm.« Er tippte sich ans Kinn und bemerkte, wie lang seine Barthaare waren. Das Gestrüpp musste furchtbar aussehen! Er schämte sich vor Julie.

Intensiv starrte sie ihn an und wartete auf eine Antwort.

»Wieder in die Schule gehen zu dürfen, am Leben teilzunehmen«, sagte er hastig. Ihre Blicke gingen ihm durch und durch.

»Ist nicht dein Ernst! Ich kann es kaum erwarten, dass das Jahr endlich zu Ende ist.«

»Ich würde sofort mit dir tauschen.«

»Du meinst das wirklich.« Sie klang tatsächlich erstaunt.

Was war denn so schlimm daran, lernen zu wollen? »Wissen ist Macht«, erwiderte Nick grinsend. Er interessierte sich für Naturwissenschaften und Mathematik. Wenn er sich in Julies Zimmer umsah, erkannte er, wie sich die Dinge verändert hatten. Technische Errungenschaften, wie dieses flache Telefon, konnten jetzt so viel mehr als zu seiner Zeit. Dunkel erinnerte er sich an große Telefonapparate mit Wählscheibe, Fernseher mit dicken Röhren oder klobige Radios, und heute war das alles in einem Gerät vereint!

Julie erhob sich und holte ein Buch aus ihrem Rucksack, das sie in der Mitte aufschlug. »Überleg dir das gut.« Nun grinste sie, als sie ihm die Seite unter die Nase hielt. Mathematische Formeln befanden sich darauf und ließen Nicks Herz schneller schlagen. Die kamen ihm nicht alle bekannt vor! Zu gerne wollte er wissen, wozu sie gut waren.

»Meine Güte!« Lachend schlug sie das Buch zu und stopfte es zurück in die Tasche. »Du bist ja total wild darauf. Mein Flaschengeist ist ein Streber!«

»Meister Solomon hat mir verboten zu lesen. Ich durfte nur seine Aufträge erledigen und dann hat er mich wieder in die Flasche gesperrt.« Sein Magen zog sich zusammen und er setzte leise hinzu: »Ich möchte endlich wieder leben, auch wenn ich kein Mensch mehr bin.«

Das freche Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. Nick erschrak. Er wollte sie nicht traurig sehen. Er war ihr Diener, er musste dafür sorgen, dass es ihr gut ging, sie sich wohlfühlte, es ihr an nichts fehlte. Als er sich für sein erbärmliches Benehmen entschuldigen wollte, sagte sie ernst: »Ich wünsche mir, dass du das Leben eines jungen Mannes führen kannst, soweit das als Flaschengeist möglich ist. Du sollst in die Schule gehen und lernen dürfen.« Sie nickte andächtig. »Ja, das wünsche ich mir für dich.«

Plötzlich rumpelte es und Julie zuckte zusammen. »Was war das?«

Er deutete auf einen dunkelblauen Rucksack, der auf einmal neben dem von Julie aufgetaucht war.

Vorsichtig näherte sie sich der Tasche und öffnete den Reißverschluss. Nick blieb dicht an ihrer Seite stehen. »Sei vorsichtig.«

»Da sind Schulsachen drin!« Sie zog dasselbe Mathematikbuch heraus, das sie ihm zuvor gezeigt hatte. Es folgten weitere Bücher, Mappen, Schreibsachen, Blöcke … »Du bist in denselben Kursen wie ich!« Erstaunt sah sie ihn an. »Wie hast du das gemacht?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Der Meister spricht den Wunsch und dann erfüllt er sich einfach.« Nick wusste wirklich nicht, wie das genau funktionierte mit dem Wünschen. Solomon hatte ihm das nie erklärt, doch Nick vermutete, dass der Flaschengeist eine Art Katalysator dafür war. Er spürte auf jeden Fall keine Veränderung.

»Ist sonst noch was drin?«, fragte er und kniete sich neben sie.

»Ja.« Sie zog einige Dokumente hervor. »Ein Schülerausweis von meiner Schule und ein Pass!«

»Was steht drin?« Ihm klopfte das Herz bis zum Hals. Mit zitternden Fingern nahm er den dunkelblauen Ausweis entgegen und klappte ihn auf.

Julie schaute ihm über die Schulter. »Nicolas Tate, geboren in New York. Stimmt das?«

»Ich glaube schon.« Schwach erinnerte er sich an New York. Dort hatte er gelebt.

»Du bist fast ein Jahr älter als ich. Bald wirst du achtzehn!«

Nick starrte auf das Datum. Er fühlte instinktiv, dass das Geburtsjahr nicht stimmen konnte, doch der Tag … »Sechzehnter Juni.«

Während er nur in den Pass starren konnte, redete sie unaufhaltsam weiter.

»Du besitzt sogar eine Sozialversicherungskarte! Mann, hoffentlich bekommen sie uns nicht wegen Urkundenfälschung dran.«

»Die Dokumente sehen verdammt echt aus«, murmelte Nick. Er konnte noch gar nicht begreifen, was sich eben abspielte.

»Einen Führerschein hast du auch!« Sie sprang auf. »Fehlt nur noch das Auto. Vielleicht steht es vor der Tür?« Sie rannte zum Fenster, während Nick auf dem Boden hocken blieb, zu überrascht, um irgendetwas zu tun.

Julie hatte einen Wunsch für ihn geopfert. Träumte er auch nicht? Was, wenn er in Wahrheit immer noch bei Solomon war?

»Ich sehe kein Auto. Schade«, sagte sie und kehrte zu ihm zurück. »Das wäre wirklich cool gewesen. Wir hätten zusammen fahren können. Oder vielleicht hättest du mich ja mal fahren lassen. Ich hab auch einen Führerschein, aber Dad sagt, wenn ich ein Auto möchte, muss ich mir das erst verdienen. Mit kleinen Diensten, für ältere Leute einkaufen oder Zeitungen austragen. Er ist so verdammt streng!«

Vorsichtig packte er alles in den Rucksack und schloss den Reißverschluss, wobei er nur mit halbem Ohr zuhörte, wie sie sich über ihren Vater beschwerte. »Heißt das, ich darf morgen mit dir zur Schule gehen?«

»Am Montag. Morgen ist Samstag. Mann, wie werden die anderen reagieren, wenn du einfach in die Schule spazierst?«

»Es wird alles klappen.« Langsam stand Nick auf. Tränen trübten seine Sicht. »Julie …« Voller Dankbarkeit schloss er sie in die Arme, genoss ihre Wärme, ihren lieblichen Duft. Sie fühlte sich so echt an, und er hätte vor Glück platzen können. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Lachend wirbelte er sie herum und setzte sie erst ab, als sie sagte: »Mir wird schwindlig.«

»Ich werde mich irgendwie dafür revanchieren. Versprochen.« Bestimmt schaute er, berauscht von so viel Glück, dämlich drein, aber das war ihm im Moment egal. »Jetzt hast du einen Wunsch verwirkt und nicht mal für dich.« Er freute sich, dass sie so selbstlos war. Was für ein Glück er mit ihr hatte!

Rein instinktiv zog er sie erneut in die Arme. »Danke!« Er versenkte die Nase in ihrem weichen Haar und fuhr mit den Fingern darunter. Diese Nähe tat gut. Zu lange hatte er darauf verzichten müssen. Wenn er Julie spürte, fühlte er sich lebendig. Nicht als Geist.

Erst als ihre Hände über seinen nackten Rücken wanderten, wurde er sich bewusst, dass er kein Hemd trug. Diese Nähe gehörte sich nicht zwischen Herrin und Dschinn!

Hastig wich er zurück.

Grinsend rieb sich Julie über die Schläfe, die genauso gerötet war wie ihr restliches Gesicht. »Dein Bart kratzt.«

»Tut mir leid.« Er sollte das Gestrüpp loswerden. Es juckte ihn ohnehin nur. Je länger er aus der Flasche war, desto mehr erinnerte er sich, desto lebendiger fühlte er sich.

»Und du könntest eine Dusche vertragen.« Julies Gesichtsfarbe wechselte von Rosa zu Dunkelrot. Räuspernd wandte sie sich von ihm ab und deutete auf die Wand, an der ihr Bett stand. »Dort ist das Zimmer meines Bruders. Ich werde mal sehen, ob ich was für dich zum Anziehen finde.«

Möglichst unauffällig schnupperte Nick an einer Achsel. Er roch wirklich alles andere als angenehm. »Eine Dusche und frische Kleidung wären fantastisch.« Solomon hatte ihm das nur selten erlaubt.

»Wieso hast du einen Wunsch für mich geopfert?«, fragte er.

»Ich hab nicht geglaubt, dass das tatsächlich klappt!«, erwiderte sie hastig und wurde erneut rot. Sie mochte ihn, ganz gewiss! Und falls nicht, brauchte er keine Angst vor ihr zu haben und grausame Konsequenzen fürchten, falls er sich weigerte, ihr einen Wunsch zu erfüllen, der ihm nicht gefiel. Julie war ein gewöhnlicher Mensch und konnte nicht zaubern. Sie würde ihn nicht zwingen können, gewisse Dinge zu erledigen, wie Solomon, der zu gerne seine magische Peitsche auf Nicks Rücken hatte tanzen lassen oder ihn auf andere Art gedemütigt hatte.

Julie deutete auf die zweite Tür in ihrem Zimmer. »Dort ist das Badezimmer. Am besten, du gehst gleich duschen, solange mein Bruder noch nicht da ist und keiner deine Anwesenheit mitbekommt.«

Bevor sie den Raum verließ, drehte sie sich noch einmal um und fragte: »Wie lange kann ich meine Wünsche aufheben?«

»So lange du willst.«

»Und was ist, wenn die Wünsche aufgebraucht sind?«

»D-das weiß ich nicht.« Was, wenn er dann gehen musste? Sich auflöste?

Hoffentlich hob sie sich ihre Wünsche lange auf. Immerhin würde er von nun an auf Ewig ihr gehören, außer, sie schenkte ihn weiter. Doch das würde Nick nicht zulassen. Mit seinem Charme konnte er bei Julie bestimmt weit kommen, wenn er wollte, und er würde alles geben, damit er für immer bei ihr blieb.

***

Julie zog die Zimmertür ihres Bruders hinter sich zu und lehnte sich dagegen. Ihr kam es noch immer unwirklich vor, einen Flaschengeist zu besitzen und einen so attraktiven dazu. Und ihr Wunsch hatte tatsächlich funktioniert, unglaublich! In Zukunft musste sie sich gut überlegen, was sie für sich wollte, und durfte keinen Wunsch mehr verschwenden. Wobei sie es nicht als Verschwendung sah, Nick einen Traum erfüllt zu haben. Außerdem hatte sie ja noch zwei Wünsche frei. Doch zuerst brauchte ihr Dschinn neue Klamotten.

Julie blickte sich in Connors Zimmer um. Sie betrat es nicht oft, und ihr Bruder würde sie wohl köpfen, wenn er sie hier vorfand, denn sein Zimmer war sein Heiligtum, genau wie alles, was sich darin befand. Es war genauso geräumig wie ihres, nur dass es nicht so vollgestopft aussah. Connor war penibel, der Raum wirkte beinahe spießig. Der Schreibtisch und das TV-Rack waren ordentlich aufgeräumt, sämtliche Kleinteile in irgendwelchen Schubladen oder Schränken verstaut. Das breite Bett zierte eine rotkarierte Tagesdecke, die den einzigen Farbklecks in dem Zimmer bildete, da ansonsten alles aus Beigetönen zu bestehen schien: der helle Parkettboden, die Möbel … sogar die Wände waren in einem zarten Braun gestrichen. Hier wurde deutlich, dass definitiv nicht dasselbe Blut in ihnen floss.

Während Julie auf den Kleiderschrank zusteuerte, lief ihr Gehirn auf Hochtouren. Was sollte sie sich wünschen? Sie musste sorgsam darüber nachdenken, denn einmal verwirkt, gab es kein Zurück. Und wie würden diese Wünsche ihr Leben und das von anderen beeinflussen? Himmel, sie könnte eine Kettenreaktion in Gang setzen, eine, die sich negativ auf alles auswirken könnte. Und was war, wenn sie alle Wünsche verbraucht hatte? Würde Nick dann verschwinden? Wollte sie überhaupt, dass er verschwand?

Wünschen war eine weitaus verzwicktere Angelegenheit als gedacht. In Filmen sah das immer so einfach aus! Die meisten wollten Reichtum, ein ewiges Leben, Macht … Aber was wollte sie?

Ein Auto wäre für den Anfang toll, nur wie sollte sie ihren Eltern erklären, woher sie das Geld hatte? Sie müsste lügen, ihnen etwas verheimlichen, was sie ohnehin schon tun musste, wenn Nick tatsächlich bei ihr blieb, und das verursachte ihr Magenschmerzen. Ein Flaschengeist in ihrem Zimmer, noch dazu einer, der verdammt gut aussah … Ach, war das Leben auf einmal kompliziert und aufregend!

Eins nach dem anderen, schalt sie sich. Zuerst musste ihr Dschinn neu eingekleidet werden, doch Connor würde ausflippen, wenn etwas fehlte! Daher wählte sie die Kleidungsstücke sorgfältig aus. Am besten, sie nahm nur Sachen, die sich weit hinten und ganz unten im Schrank befanden, die würde ihr Bruder vielleicht nicht vermissen.

Hastig entschied sie sich für ein weißes T-Shirt mit regenbogenfarbenem Logo-Aufdruck einer bekannten Sportmarke. Von diesen Hemden besaß Connor mehrere, also schienen sie weit verbreitet zu sein. Dazu schnappte sie sich schwarze Socken und einen dunkelblauen Slip, was bei der Anzahl ebenfalls kein Problem war, aber bei der Hose wurde es brisant. Zuerst stellte sich Julie die Frage: kurz oder lang? Bei den Temperaturen wären Shorts wohl angebrachter, doch davon hatte Connor nicht so viele hier, die meisten hatte er fürs College eingepackt. Daher blieben bloß drei Jeans.

Während sie überlegte, lauschte sie dem Prasseln der Dusche. Connors und ihr Raum verband ein Badezimmer, das sie gemeinsam nutzten, daher war Julie froh, dass ihr Bruder nur noch an den Wochenenden heimkam. Er brauchte darin nämlich länger als jede Frau. Früher hatten sie sich deshalb oft in die Haare bekommen, wenn es morgens eng wurde.

Und jetzt stand Nick darin. Nackt.

Spontan entschied sie sich für die mittlere Hose und hoffte inständig, dass Connor sie nicht vermisste, und wollte eben an der Badezimmertür klopfen, als sie Mom rufen hörte.

»Julie, dein Bruder ist da!«

Shit!

Hastig warf sie die Kleidung in Cons Raum vor die geschlossene Badezimmertür und eilte auf den Flur. Gerade rechtzeitig, denn Mom kam die Treppen nach oben. Sie brauchte nicht zu sehen, dass sie in Connors Zimmer gewesen war.

»Kommst du dann zum Essen?«, fragte Mom und legte den Kopf schief. »Ist die Dusche an?«

»Die Dusche?« Julies Stimme überschlug sich und das Herz klopfte ihr bis in den Hals. »Nö.«

Mom drückte sich an ihr vorbei. »Aber ich höre Wasser rauschen.«

Verdammt, verdammt, verdammt!

Sie eilte ihrer Mutter hinterher, die den Weg durch ihr Zimmer nahm, und überlegte fieberhaft, wie sie ihr erklären sollte, dass ein junger Mann unter der Dusche stand.

Mom, es ist nicht so, wie es aussieht. Da steht zwar ein nackter Junge unter der Dusche, doch das ist bloß mein Flaschengeist. Alles im grünen Bereich.

Bevor Mom die Badezimmertür erreichte, stellte sich Julie davor. »Geh nur runter, ich mach die Dusche aus.«

»Aber warum ist sie an?«

»Ich …« Mist, Mom ließ sich einfach nicht abschütteln! Sie schob Julie kurzerhand auf die Seite und betrat den kleinen Raum, in dem warmer Dampf bis unter die Decke waberte. Julie folgte ihr auf den Fersen, ließ hastig Nicks schmutzige Jeans, die über dem Waschbecken hingen, hinter ihrem Rücken verschwinden und stellte sich vor den hellblauen Duschvorhang. »D-da war eine Spinne, die wollte ich wegspülen!«, rief sie.

Oh nein, gleich würde Mom Nick sehen! Sie hatte die Hand bereits am Vorhang.

»Jetzt lass mich mal vorbei!«

Stöhnend drehte sich Julie um. Fuck, was mach ich denn jetzt?

Sie wartete auf einen Schrei – oder mehrere –, doch die blieben aus. Stattdessen wurde das Wasser abgedreht und Mom sagte sarkastisch: »Da ist keine Spinne. Du hast sie erfolgreich eliminiert. Gratuliere.«

»Was?« Julie wirbelte herum und starrte in die leere Duschkabine. Wo war Nick?

Theatralisch seufzend rollte Mom mit den Augen. »Keine Spinne.« Murmelnd verließ sie das Badezimmer, aber Julie hörte genau, was sie von sich gab: »Pubertät gehört verboten … macht die Birne weich.«

Nicht die Birne, sondern die Knie! Ihre Beine zitterten. Hastig schloss sie die Tür und schaute sich um.

»Nick?«, wisperte sie. »Wo bist du?«

»Ich bin hier«, vernahm sie ein piepsendes Stimmchen, das so gar nicht nach ihrem Flaschengeist klang. Schwach, leise und mindestens zwei Oktaven höher.

Sie drehte sich im Kreis. Es gab nichts, wo er sich verstecken konnte, nur die Dusche, ein Waschbecken, die Toilette, einen Hocker und einen schmalen Hochschrank, der voller Regale war. »Wo denn?«

»Hinter dem Shampoo.«

Als ein kleiner Kopf hinter der XXL-Flasche im Duschregal hervorschaute, musste Julie mehrmals blinzeln. Nick war nicht größer als eine Barbiepuppe! Eher kleiner.

»Wie hast du das gemacht? Ich dachte, du kannst nicht zaubern?«

»Keine Ahnung. Solomon hat behauptet, ich könne nur die obligatorischen Wünsche erfüllen, nicht zaubern. Aber als deine Mutter plötzlich kam, hab ich einfach nur gewollt, dass du keinen Ärger bekommst. Ich hab versucht, mich in der Shampooflasche zu verstecken, auch wenn ich nicht wusste, ob ich in anderen Flaschen verschwinden kann, doch die war verschlossen, also habe ich gehofft, ich könne mich dahinter verstecken und es klappte!«

»Wow!« Atemlos starrte sie auf den kleinen nassen Haarschopf. »Hast du denn nie probiert, ob weitere Fähigkeiten in dir schlummern?«

»Solomon hat mich gewarnt, das zu tun. Er hätte mich gewiss bestraft.«

Nick musste wirklich große Angst vor dem alten Hexer gehabt haben. Was hatte der ihm alles angetan? Zum Glück war der Mistkerl tot.

Nick räusperte sich. »Und … Julie?«

»Hm?«

»Hast du vielleicht ein Handtuch für mich?«

»Ähm, klar!« Schnell holte sie ein frisches aus dem Hochschrank, und als sie sich wieder umdrehte, stand Nick in voller Lebensgröße in der Dusche, ihr den Rücken zugekehrt.

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140 стр. 1 иллюстрация
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9783847636588
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