Читать книгу: «Seelensplitter», страница 3

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Alruna war zornig. Am Anfang war alles noch gutgegangen, der Unmensch war tot. Sein Kopf war auf dem harten Boden zerschellt, sein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Er war der Erste. Weitere würden folgen. Doch dann hatte diese Sekretärin, diese nichtsnutzige Vogelscheuche, eine Frau angeheuert, den Mörder zu finden. Den Mörder! Als wäre Alrunas Tat ein Verbrechen! Eine heilige Handlung war es gewesen. Ein Gebot der Grossen Göttin, die nach Vergeltung lechzte. Nach Blut, nach Menschenopfern. Alruna war ihrem Ruf gefolgt, hatte sie besänftigt. Und jetzt das. Eine Person, die ihre Nase in Dinge steckte, von denen sie nichts verstand, ein Eindringling. Alruna war mehr als zornig. Sie loderte vor Wut.

Sie kniete in der Erde und konnte ihr Zittern nur schwer unterdrücken. Sie durfte sich nicht in diesen Gefühlen verlieren, musste ihrer Aufgabe treu bleiben. Langsam gelang es ihr, sich zu beruhigen. Ihre Hände gruben sich in den krümeligen Boden des Gartens, fühlten das millionenfache Leben darin. Unzählige kleinste Lebewesen tummelten sich in einer einzigen Handvoll Erde, das wusste sie. Sie konnte sie beinah riechen, sehen, hören. Es waren Wesen, die sich nicht gegen den Lauf der Natur sträubten, gesegnete Wesen, deren Unschuld niemals angetastet würde.

Alruna betrachtete die Landschaft, die im Abendlicht überirdisch wirkte. Die Sonne war zur Hälfte hinter den Bergen verschwunden, die letzten Strahlen hüllten die Hügel, die Wiesen und ihren Garten in einen goldenen Schein. In gepflegten Reihen wuchsen die magischen Pflanzen. Etwas Unkraut durfte zwischen ihnen gedeihen. Auch Gewächse, die die Menschen wertlos nannten, waren schliesslich Geschöpfe der Natur. Nur hatten sie nicht das Recht, die Zauberkräftigen zu überwuchern. Dieses Jahr waren sie früh dran, der warme März hatte ihr Wachstum beschleunigt.

Alruna lockerte mit einem Handrechen den Boden rings um eine der Alraunen. Deren dunkelgrüne Blätter hatten sich nach allen Seiten entfaltet, offen und hingebungsvoll. Aus dem Kern in der Mitte sprossen aus den verwelkten Blüten die ersten Beeren. Alruna vergrub ihre Nase tief im feuchten Grün der Pflanze. Sie sog den Duft ein, eine Mischung aus Herbe und Wildheit.

Inzwischen war die Sonne ganz untergegangen. Der Himmel, durchzogen von weissen Wolkenstreifen, verfärbte sich erst orange, dann rosa. Alruna betrachtete das Schauspiel eine Weile, dann wandte sie sich wieder ihren Alraunen zu. Das Gift war dabei, sich zu sammeln. Am meisten Wirkstoffe waren in den Wurzeln enthalten. Doch auch von den Blättern und Beeren konnte man ernten.

Mit einem Kännchen goss sie jede Pflanze einzeln, liess sie trinken und sich laben. Vom Dorf her waren entfernte Geräusche zu hören. Die unsäglichen Kirchenglocken, das Gebrumm eines Traktors; einmal flog ein Schwarm Krähen über ihr Haus. Mit den schwarzen Vögeln fühlte sie sich verbunden. Sie sprach mit ihnen. Manchmal antworteten sie. Das war schon immer so gewesen, seit sie denken konnte.

In ihrer Kindheit hatte sie nur Vögel als Freunde gehabt. Damals war ihr Name noch Lisa gewesen. Als Fünfjährige hatte sie einen Raben aus den Klauen einer Nachbarskatze vor dem sicheren Tod gerettet, ihn gefüttert und gezähmt. Sie hatte ihn Abraxas getauft, nach dem Raben in ihrem Lieblingsbuch. Auf ihren Ruf war er herangeflattert und hatte sich auf ihre ausgestreckte Hand gesetzt. Tag für Tag. Er hatte ihren Blick erwidert, mit schräg geneigtem Kopf ihren Worten gelauscht. Bestimmt hatte er alles verstanden. Irgendwann einmal war er von einem Flug nicht mehr zurückgekehrt. Lisa hatte die ganze Nacht nach ihm gesucht, war über die Felder und durch den Wald gelaufen und hatte nach ihm geschrien. Doch sie hatte Abraxas nie mehr wieder gesehen. Ihr Leben war noch einsamer geworden. Sie fühlte sich allein und verloren, obwohl sie ununterbrochen von Menschen umgeben war. Von ihren Eltern und deren Freunden. Mama und Papa hatte sie nicht zu ihnen sagen dürfen, weil das spiessig klang. Sondern Rebekka und Ronny.

Die beiden waren selber noch Jugendliche gewesen, als sie Lisa bekamen. Bei einem Openair-Konzert sei sie gezeugt worden, erzählten sie ihr, als sie noch keine Ahnung hatte, was das bedeutete. Mit ihren Freunden, langhaarigen Hippies wie sie, lebten sie in diesem Bauernhaus, arbeiteten nicht wie die Eltern anderer Kinder, sondern schliefen bis in den Mittag. Miteinander und übereinander. Katzen und Hunde hatten sie ein halbes Dutzend, dazu eine Schildkröte, deren harte Kotstückchen man in den Teppich trat. Alle rauchten süsslich stinkende Zigaretten, die sie schläfrig machten. Sie trugen wallende indische Gewänder, auf die runde Spiegelchen genäht waren, und pflanzten Marihuana und Schlafmohn im Garten.

Manchmal bemalten sie sich gegenseitig ihre Körper, das war lustig, und Lisa durfte mitmachen. Einmal zeichnete sie einen feuerspeienden Drachen auf Ronnys Rücken. Er lobte sie wegen ihres kreativen Talents und nannte sie «meine kleine Künstlerin». Dann begann er kichernd, die Brüste einer Frau zu bemalen. Erst grundierte er sie von aussen nach innen grellgrün, dann umrundete er ihre Brustwarzen mit roten Kreisen, zog den Pinsel langsam und nachdrücklich immer enger, bis sie vor Entzücken quietschte und mit ihm im Nebenzimmer verschwand. Rebekka warf den beiden einen kurzen verärgerten Blick zu, dann folgte sie ihnen. Bald darauf waren aus dem Zimmer Gelächter, Stöhnen und begeisterte Schreie zu hören. Lisa blieb in der Stube zurück, mit zwei Männern, die mit halbgeschlossenen Augenlidern an einer Wasserpfeife nuckelten und ihre Köpfe zur Musik bewegten.

Am Abend gaben ihr Ronny und Rebekka zum erstenmal Haschbiskuits und Opiumplätzchen zu essen. Die Wirkung trat erst nach einer Weile ein, dafür mit voller Wucht. Plötzlich, während die Rockmusik aus den Boxen dröhnte, riss es Lisa den Boden unter den Füssen weg. Sie fiel in eine Geisterwelt. Bleiche Gestalten griffen mit blutleeren Fingern nach ihr. Lisa wollte sie abschütteln, da hörte sie die Stimmen zum erstenmal. Fistelstimmen, die ihr grausige Dinge zuflüsterten. Sie konnte nicht sprechen, alles in ihr war erstarrt. Niemand nahm es wahr. Das Zimmer verschwamm vor ihren Augen, sie bekam keine Luft mehr. Die Lampe drehte sich, die Wände verzogen sich in grellen Mustern, die Gitarrentöne von Jimi Hendrix drangen wie Tentakel eines Tintenfischs in Lisas Ohren. Sie wollte sie zuhalten, aber ihre Arme liessen sich nicht bewegen. Minuten vergingen. Oder Stunden. Lisa wusste es nicht.

Endlich konnte sie schreien, doch die Gesichter ihrer Eltern waren zu dümmlichen Grimassen verzerrt. Ronny und Rebekka boten Lisa noch mehr von dem Zeug an. Lisa wollte nicht. Sie rannte aus dem Haus, in die nächtliche Dunkelheit. Die Gespenster folgten ihr. Packten sie, schlüpften durch ihren Mund in ihren Körper, ihre Seele, ihr Herz. Nisteten sich in ihrem Innern ein. Seitdem hörte sie die Stimmen immer wieder in ihrem Kopf, spürte die krötenkalten fremden Wesen in sich.

Wo sie in jener Nacht geschlafen hatte, wusste sie nicht. Am Morgen brachte eine Nachbarin sie zu ihren Eltern zurück. Die hatten ihre Abwesenheit gar nicht bemerkt. Noch immer lief Musik. Rolling Stones. Der dumpfe Bass liess den Raum erbeben. Ronny und Rebekka dösten am Boden. Die Frau mit den bemalten Brüsten lag daneben, die rote und grüne Farbe bis zum Bauchnabel verschmiert. Ihre Atembewegungen waren zu sehen. Auf und ab, auf und ab. Lisa schaute ihnen lange zu und fühlte eine klaffende Leere in sich. Janis Joplin krächzte ein Lied, die Töne wehten über die schlafenden Körper. Dann sang Jim Morrison. Lisa kannte die Musiker. Es waren die toten Helden ihrer Eltern.

«Tot», wisperte es in Alrunas Kopf, als sie wieder in der Gegenwart ankam. Noch immer kniete sie in der Erde, die Hände zwischen den Alraunen. «Tot. »

Die Abenddämmerung war einem bedrohlichen Dunkelviolett gewichen. Die Berge, düstere Giganten in der Ferne, waren nur noch undeutlich zu erkennen. Einsam fühlte sie sich, so einsam. Sie meinte, den Flügelschlag von Abraxas zu hören. Doch es war nur eine ganz gewöhnliche Krähe, die sich auf der Eiche neben dem Haus niedergelassen hatte. Alruna blieb lange so sitzen. Lauschte dem Rascheln der Blätter. Spürte die kühle Brise, die über die Gräser strich. Der Anflug von Trauer, die sie vorhin heimgesucht hatte, machte einer Entschlossenheit Platz. Ihre Mission war noch nicht beendet. In weniger als einem Monat würde sie 27 Jahre alt werden. Bis dann musste es vollbracht sein.

Alruna hob den Kopf und blickte nach vorn. Die letzten hellen Streifen am Firmament waren verschwunden. Der Himmel war schwarz.

Nora ging im Bus Sarah Doblers Liste der «Store & Go»-Mitarbeiter nochmals durch. Dank der ausführlichen Beschreibung hatte sie einen ungefähren Eindruck, was an jenem Abend vorgefallen war. Allerdings hegte sie Zweifel, dass Kowalski tatsächlich einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Vielleicht hatte Mike doch Recht. Aber solange sie einen Mord nicht absolut ausschliessen konnte, würde sie der Sache nachgehen.

Sie las die Namen:

Maximilian Kowalski, 59, Geschäftsführer, verstorben

Cedric Stark, 45, Leiter PR, wird evtl. Kowalskis Nachfolger

Roland Wehr, 38, Rechnungswesen

Ruth Mäder, 58, Sekretariat

Claudia Campanini, 26, Sekretariat

Marco Benedetto, 27, Empfang

Tim Stalder, 36, Leiter Lagerhallen

Gerhard Furrer, 52, Mitarbeiter Lagerhallen

6 weitere Mitarbeiter in den Lagerhallen

13 Männer für Umzüge und Transporte

4 Personen der Reinigung

Dann fand sie das Gebäude an der Hohlstrasse beim Bahnhof Altstetten. Wie abgemacht würde Sarah Dobler den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Nora als Versicherungsdetektivin vorstellen. Das war nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt und würde Nora die Möglichkeit geben zu ermitteln, ohne dass sich jemand bedrängt fühlte.

Nora nahm den Personenaufzug neben dem Warenlift. Ein Schild gab Auskunft darüber, was wo zu finden war. Das 2. Untergeschoss war mit «Garage» und das 1. Untergeschoss mit «Grosse Lagerhallen» angeschrieben. Zwischen Erdgeschoss und 6. Stock befanden sich die mittleren und kleinen Lagerräume, im 7. war die Administration. Die Dachterrasse war nicht aufgeführt, anscheinend führten dort Treppen und kein Lift hoch.

Nora fuhr in die 7. Etage und betrat einen grosszügigen Empfangsraum. Hinter einer Theke sass ein junger Mann an einem Computer und telefonierte. Er hatte ein Kinnbärtchen, schwarze Haare und trug ein Goldkettchen mit einem Kreuz. Sie warf einen Blick auf die Liste. Das musste Marco Benedetto sein.

Als er sie sah, bedeutete er ihr, er sei gleich für sie da. Während seine Finger über die Tastatur rasten, sprach er ins Headset: «Kein Problem, Signor Colla, Sie können den Raum jederzeit Ihrer neuen Situation anpassen. Sì … selbstverständlich… mittelgross … » Er klickte auf eine andere Bildschirmseite, dann sagte er: «Es sind noch sechs mittlere Räume frei. Bis fünfunddreissig Kubikmeter. Sì. Grazie. Arrivederci. » Er legte den Kopfhörer zur Seite und kam strahlend auf Nora zu. «Guten Morgen, wie kann ich Ihnen helfen?»

«Mein Name ist Nora Tabani, ich bin mit Frau Dobler verabredet. »

«Sie sind die Dame von der Versicherung?» Sein Gesicht verdüsterte sich. «Grässliche Sache, die da passiert ist. Un momento, ich rufe sie gleich. »

«Warten Sie noch», bat Nora. «Wenn ich Sie schon vor mir habe… Sie sind doch Marco Benedetto, oder?»

«Wie er leibt und lebt. » Er lächelte wieder und zeigte ihr eine Reihe schneeweisser Zähne, um die ihn ganz Hollywood beneiden würde.

«Darf ich fragen, was Ihre Aufgaben bei ‹Store & Go› sind?»

«Ich bin das Herz der Firma», sagte er mit stolzgeschwellter Brust. «Il cuore della compagnìa. Bei mir laufen alle Fäden zusammen. » Er zählte seine Aufgaben an den Fingern auf: «Anfragen für Raummiete. Termine. Umzugsvereinbarungen. Kundenbetreuung. Individuelle Lösungen bei Sonderwünschen. » Als er alle fünf Finger hochgestreckt hielt, machte er eine schwungvolle Bewegung mit der Hand, stützte sie in die Hüfte und sagte: «Haben Sie ein Problem, Signora, wenden Sie sich an Marco!»

«Ich werd’s mir merken», lachte sie. «Könnten Sie mir aus Ihrer Sicht erzählen, wie sich das Ganze abgespielt hat?»

«Natürlich. Geht es darum, ob sich Herr Kowalski fahrlässig verhalten hat? Dann zahlt die Lebensversicherung nicht, nehme ich an. »

«Haben Sie eine gute Auffassungsgabe?», fragte Nora zurück.

«Ich denke schon», meinte er selbstgefällig. «Wenn Sie meine Meinung hören möchten: Herr Kowalski hat sich an diesem Abend eine Blösse gegeben wie nie zuvor. Ich glaube, er wollte Eindruck schinden und hat seine Trinkfestigkeit überschätzt. »

«Bei wem?»

«Wie bitte?» Benedetto schien etwas aus dem Konzept geworfen.

«Bei wem wollte er Eindruck schinden?»

«Ach so, bei Claudia Campanini, natürlich», sagte er, und sein Blick wurde sanft. «Sie arbeitet erst seit ein paar Monaten bei uns. Er hat bis jetzt noch kaum ein Wort mit ihr gewechselt, wie ich weiss. Da war die Party eine willkommene Gelegenheit für einen kleinen Flirt. » Er schaute Nora verschwörerisch an. «Natürlich ist Claudia nicht darauf eingestiegen. Kowalski hätte ja ihr Vater sein können. Ausserdem hat sie einen ganz anderen Geschmack bei Männern. »

«Darf ich raten?»

Benedetto lächelte mit dem Charme eines Latin Lovers. «Sie haben mich durchschaut. Klar gefalle ich ihr. Sie mir auch. Doch deswegen hab ich den Kerl noch lange nicht übers Geländer gestossen. »

«Wer behauptet denn so was?»

«Na, ich zähle eins und eins zusammen, Signora Tabani:Kowalski ist tot. Ein paar Tage später tauchen Sie auf und befragen mich. Versicherungen brauchen normalerweise Wochen, bis sie reagieren, da denke ich mir, Sie kommen von einem anderen Dienst. » Er kam näher, schaute kurz nach rechts und nach links und flüsterte verschwörerisch: «Sie sind eine Undercover-Agentin, stimmt’s?»

Nora grinste. «Lassen Sie mich nicht auffliegen!»

«Ich behalt’s für mich, Ehrenwort. » Er hob die Finger augenzwinkernd zum Schwur wie einer, der genau weiss, wie er auf das andere Geschlecht wirkt. «Allerdings muss ich Ihnen ehrlich sagen: Wundern tät’s mich nicht, wenn ihn jemand umgelegt hätte. »

«Haben Sie etwas in dieser Richtung beobachtet?»

«Lassen Sie mich überlegen. » Er starrte zur Decke und runzelte die Stirn. «Also. Kowalski rannte zur Brüstung. Einige versuchten, ihn von seinem Sprung abzuhalten. Sarah Dobler griff nach ihm. Tim Stalder. Roland Wehr, so viel ich weiss. Cedric Stark war auch in der Nähe. Und Claudia. Es war ein richtiges Menschenknäuel um ihn. Also, wenn einer gewollt hätte… Es wäre möglich gewesen. Oder sogar alle miteinander, wie in diesem Krimi… wie hiess der gleich, der im Zug spielt?»

«Mord im Orient-Express», half Nora nach.

«Genau. »

«Und wo hielten Sie sich auf, als Kowalski stürzte?»

«Oh, ich seh schon, worauf Sie hinaus wollen! Aber ich befand mich auf der anderen Seite!» Er senkte erneut die Stimme: «Mein Onkel Carmine in Sizilien erzählte mir kürzlich, aus welch trivialem Anlass die Mafia ihre Feinde kaltmacht. Bei Kowalski hätten einige Leute triftigere Gründe gehabt, glauben Sie mir. Ich tippe auf … »

In diesem Moment kam Sarah Dobler zum Empfang und begrüsste Nora. «Da sind Sie ja! Darf ich Sie in mein Büro führen?»

«Ja», antwortete Sarah Dobler. «Seine Eltern haben im Krieg alles verloren. Er hat bei null angefangen. »

Nora schloss die Schublade wieder und durchsuchte die anderen Laden. Überall herrschte eine unbeschreibliche Unordnung; Gegenstände waren angehäuft, die überhaupt nichts miteinander zu tun hatten.

«Ich werde Jan Berger in den nächsten Tagen vorbeischicken, um diese Dinge einzeln zu begutachten», sagte Nora. «Vorläufig reicht mir der erste Eindruck. Wer leitet jetzt eigentlich ‹Store & Go›?»

«Bis wir wissen, wie es weitergeht, mache ich, was ich kann. Cedric Stark übernimmt den Rest. »

«Hat Kowalski ein Testament verfasst?»

«Ja. Es lag im Safe. Ich kenne den Inhalt. Kinder hat er keine, seine Frau Antje ist Alleinerbin. Neuer Geschäftsführer der Firma soll Cedric Stark werden, das war Kowalskis Wunsch, auch wenn er Stark darüber im Ungewissen liess. »

«Kann ich das Testament sehen?»

«Seine Frau hat es bereits dem zuständigen Amt weitergeleitet. »

Nora ging ein paar Schritte auf und ab. «Ich werde alle Angestellten befragen. Wenn sich der Verdacht, Kowalskis Tod könnte mehr als ein Unfall gewesen sein, in den nächsten Tagen nicht erhärtet, werde ich den Fall abgeben. Ich muss Ihnen gestehen, dass mir ein Mord unter diesen Umständen sehr unwahrscheinlich vorkommt. »

«Verständlich», sagte Dobler etwas enttäuscht.

«Sehen Sie», meinte Nora, «ich möchte nicht, dass Sie Ihr Geld für eine aussichtslose Sache ausgeben. »

«Danke. Das weiss ich zu schätzen. » Die Sekretärin griff in ihre Tasche und zog einen Schlüssel hervor. «Das ist ein Passepartout für alle Räumlichkeiten von ‹Store & Go›. So können Sie sich frei bewegen, wo immer Sie wollen. »

Nora steckte ihn ein.

5

Cedric Stark schien auf Noras Kommen gewartet zu haben.

Der grossgewachsene Mann mit der Designerbrille ist zu gut angezogen für diesen Job, dachte Nora als Erstes, als sie ihn sah. Sein Anzug sah massgeschneidert aus, seine Schuhe waren aus feinstem Leder. An seinem Handgelenk prangte eine goldene Uhr, die mehr gekostet haben musste, als Nora in den nächsten Jahren verdienen würde. Nachdem er Nora hereingelassen hatte, bot er ihr einen Platz an. Der Stuhl war tiefer eingestellt als seiner, wie sie bemerkte. Raffinierte Strategie. Sie setzte sich, und er überragte sie beträchtlich. Sein Arbeitsraum war perfekt ausgestattet, Schwarz und Weiss herrschten vor. Ein schwarzer Schreibtisch, auf dem ein weisser Mac stand, schwarze Regale mit weissen Buchstützen. Und metergrosse Schwarz-Weiss-Fotografien von New York.

«Tee? Kaffee?», bot er höflich an, aber seine Stimme hatte einen eisigen Unterton.

«Nein danke. Ich habe nur ein paar Fragen. »

«Frau Dobler teilte mir mit, dass die Lebensversicherung Erkundigungen einholen muss. » Er sah sie von oben herab an. «Obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, wie ich Ihnen helfen sollte, Frau … wie war Ihr Name?»

«Tabani. »

«Frau Tabani. Was möchten Sie denn wissen?» Er spielte mit einem silbernen Kugelschreiber.

Nora versuchte, eine Regung in seinem Gesicht zu entdecken, doch da war nichts. Stark war ein aalglatter Typ. Sie beschloss, ihn etwas aus der Reserve zu locken. «Was empfinden Sie beim Gedanken an Kowalskis Tod?»

Er schaute sie mit einer Mischung aus Entgeisterung und Spott an. «Empfinden? Sie fragen mich im Ernst nach meinen Gefühlen? Was soll das?» Er legte den Kugelschreiber mit Nachdruck auf den Schreibtisch.

«Wie wär’s, wenn Sie mir einfach antworteten?»

«Ich empfinde gar nichts. Ich tue meine Arbeit. Und zwar mehr als sonst, da ich seinen Teil auch noch übernehme. » Voller Verachtung sagte er: «Die Dobler ist mir keine grosse Hilfe. »

«Das muss hart sein. »

Er sah sie scharf an. «Machen Sie sich über mich lustig?»

«Keineswegs. Ich stelle nur fest, dass Sie doch etwas empfinden. »

«Die Wendung dieses Gesprächs gefällt mir nicht, Frau Tabani. »

«Dann lassen Sie es uns kurz halten: Wie haben Sie Kowalski am fraglichen Abend erlebt?»

Cedric schien eine spitze Antwort geben zu wollen, dann liess er es sein. «Wie immer. Ausser, dass er sich beim Wein nicht unter Kontrolle hatte, wofür ich kein Verständnis habe. Immerhin hatte er eine Vorbildfunktion. »

«Sind Sie je auf den Gedanken gekommen, jemand hätte bei seinem Tod nachgeholfen?»

«Absolut nicht, Frau Tabani. Wollen Sie mir etwas unterstellen? Was hätte ich von Kowalskis Ableben?»

Nora hatte ihn zwar nicht als Einzigen darauf ansprechen wollen, doch da er ihre Frage persönlich nahm, entschied sie sich anders. «Das liegt auf der Hand. Sie werden voraussichtlich die Geschäftsleitung übernehmen. »

Stark erhob sich. «Wie können Sie es wagen! Für welche Versicherung arbeiten Sie überhaupt? Ich bitte Sie, mein Büro zu verlassen. »

Kaum hatte er das gesagt, öffnete sich die Tür, und ein lächelnder Blondschopf schaute herein. Sarah Doblers Beschreibung nach musste das Roland Wehr sein.

«Was ist?», fauchte Stark in seine Richtung. «Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, Sie sollen anklopfen?»

«Sorry!» Wehr warf einen neugierigen Blick auf Nora, nickte ihr zu, dann sagte er zu Stark: «Es geht um die neue Broschüre. Sarah fand sie farblich zu grell und möchte einen zweiten Druck in Auftrag geben. »

«Frau Dobler hat hier gar nichts zu sagen! Und was haben Sie mit der Broschüre zu tun?»

«Ich würde sie dem Versand der neuen Einzahlungsscheine gleich beilegen. Was soll ich jetzt machen?»

«Legen Sie sie bei. »

Starks Schroffheit schien an ihm abzuperlen. «Wie Sie meinen. »

«Begleiten Sie Frau Tabani gleich hinaus. Sie wollte gerade gehen. »

«Was für ein Blödmann», flüstere Roland Wehr gutgelaunt, als er die Tür zu Starks Büro hinter sich schloss. Er führte Nora in seinen Arbeitsraum, den er mit Claudia Campanini und Ruth Mäder teilte. «Lassen Sie sich von ihm nur nicht beleidigen. Das ist genau das, was er beabsichtigt. Haben Sie gemerkt, dass er der Einzige ist, der darauf besteht, dass man ihn siezt?»

Die Atmosphäre in diesem Büro wirkte ganz anders als in jenem von Cedric Stark. Die Arbeitsplätze der drei schienen nicht klar abgetrennt zu sein. Die einzelnen Pulte waren durch Abstelltischchen miteinander verbunden, den Drucker schienen alle drei zu benutzen, überall waren Nippes verteilt – Teetassen mit dem Schriftzug «I love London», ein Teddybär, wie das Zürcher Lighthouse ihn vor Weihnachten verkaufte, Fotos, die aussahen, als seien sie an gemeinsamen Betriebsausflügen aufgenommen worden. Auf einem Korpus für Ordner stand eine Schale mit Mini-Schokoriegeln.

Roland Wehr wandte sich an die beiden Frauen: «Mädels, das ist die Versicherungsdetektivin Nora Tabani, die Sarah angekündigt hat. Allerdings … » Er schaute sie mit verschmitztem Lächeln an. «… hat Marco mir erzählt, sie sei in Wirklichkeit eine Doppelagentin auf einer geheimen Mission gegen die Mafia. »

Eine ältere Dame in grauem Deux-Pièces drückte Nora schüchtern die Hand: «Mäder, Ruth Mäder. Es ist eine grosse Tragödie, die sich da ereignet hat. »

Tatsächlich war sie die Erste, bei der Nora einen Anflug von Trauer entdeckte. Ruth Mäders Kinn zitterte unmerklich, ihre Stimme klang brüchig. «Nie hätten wir so etwas erwartet. Ich meine, er war nicht krank oder schwächlich. »

«Du meinst, er hatte ganz andere Schwächen», warf die zweite Kollegin von Roland Wehr ein, eine junge Frau, die sich mit Claudia Campanini vorstellte. Sie war stark geschminkt, schmuckbehangen und trug einen Mini in schreiendem Gelb. Eine Wolke blumigen Parfums umgab sie.

«Was für Schwächen?», fragte Nora.

«Na», meinte Campanini, «er stand auf alles, was Röcke trägt, wenn Sie wissen, was ich meine. »

Roland Wehr nickte bekräftigend. «Das kann ich bezeugen. »

Doch Ruth Mäder warf ein: «Es ist nicht richtig, so über ihn zu reden. Er ist auf schreckliche Art ums Leben gekommen. Was vorher war, zählt jetzt nicht mehr. »

«Und ob das zählt, Ruth», widersprach Wehr. «Aus welchem Grund sollte Frau Tabani sonst hier sein?»

Alle drei standen um Nora herum und schauten sie erwartungsvoll an. Die Atmosphäre, das bemerkte Nora sofort, war kollegial und locker. Die ältere Dame hatte etwas Mütterliches an sich, die junge legte Wert auf Sexappeal, beide mochten Roland Wehr, und dieser genoss die Aufmerksamkeit.

«Sie haben Recht, Herr Wehr», sagte Nora. «Ich wäre froh, Sie könnten mir möglichst genau berichten, woran Sie sich erinnern. »

«Kowalski war komplett besoffen», sagte Roland Wehr, setzte sich auf einen Schreibtisch und liess die Beine baumeln. «Ich meine, so was von blau. Ich hoffe, ich bringe seine Frau mit dieser Aussage nicht um ihre wohlverdiente Lebensversicherung, aber so war es nun mal. »

«Stimmt», sagte Campanini. «Er hat an mir rumgefummelt und sich echt daneben benommen. »

«Es ist nicht richtig, so über ihn zu sprechen», warf Ruth Mäder ein. «Wir sollten das einfach nicht tun. Er war auch nur ein Mann. »

Wehr lachte schallend. «Was soll das denn nun wieder heissen?»

«Er wollte nicht einmal Hilfe annehmen», fuhr die ältere Dame unbeirrt weiter, «als er das Gleichgewicht verlor. »

«Sind Sie auf ihn zugelaufen?», wollte Nora wissen und schaute in die Runde.

«Na klar», sagte Wehr.

«Man konnte ja nicht anders», meinte Campanini.

«Ich war zu weit weg», entschuldigte sich Mäder. «Aber viele griffen nach ihm. Leider zu spät. »

«Könnte ihn jemand aus Versehen gestossen haben?» Nora fragte so beiläufig wie möglich.

«Seltsam, dass Sie das sagen», gab Roland Wehr zurück. «Aber wenn ich es mir recht überlege… Wissen Sie was?» Er machte eine dramatische Pause, und die anderen hingen an seinen Lippen. «Ich glaube, Stark hat ihn geschubst. »

«Roland!», empörte sich Ruth Mäder. «So etwas zu behaupten, ist ungeheuerlich!»

«Wieso? Alle wissen, in welche Position er jetzt aufsteigt. »

«Ich glaube nicht, dass er es war. » Claudia Campanini spielte gedankenverloren mit ihrem Ring und trat von einem Fuss auf den anderen. Erst jetzt merkte Nora, dass sie gemeingefährliche Stilettos trug, fast schon Stelzen. «Es kommt mir auch so vor, als hätte ich die Hand von jemandem gesehen. Aber Cedric Starks Hand war es nicht. Der stand hinter mir. » Sie wandte sich an ihre Kollegin. «Wo warst du eigentlich, Ruth?»

«Wie ich schon sagte, ich stand weiter entfernt. » Ruth Mäders Mund war leicht verkniffen.

«Das stimmt nicht ganz, meine Liebe», neckte Wehr, «du bist gleich mit Tim zu Kowalski gerannt. Das weiss ich noch genau, weil ich dachte: Unsere Ruth kann springen wie ein junges Reh!»

«Es passierte alles so schnell», antwortete diese, «man kann nicht von mir erwarten, dass ich mich an alles erinnere. Sie müssen sich vorstellen», sagte sie zu Nora, «all das, worüber wir jetzt sprechen, geschah in wenigen Sekunden. Verstehen Sie?»

«Selbstverständlich», meinte Nora. «Wissen Sie, ob jemand von Kowalskis Tod profitiert?»

Ruth Mäder war erschüttert über die Frage. Claudia Campanini betrachtete ihre Fingernägel.

Roland Wehr grinste. «Klar. Die Witwe. Antje Kowalski wird wohl tüchtig absahnen. Cedric Stark wird neuer Big Boss. Und mindestens drei Frauen haben ihre Genugtuung. »

«Und dabei handelt es sich um…?», fragte Nora.

«Die beiden letzten Chefsekretärinnen. »

«Weshalb?»

«Das tut doch hier nichts zur Sache», meinte Mäder. Doch Wehr liess sich nicht von seiner Fährte abbringen. «Beide haben ihn innerhalb weniger Jahre wegen sexueller Belästigung angezeigt. »

«Ach ja?», machte Nora. «Und kam es zu einer Verurteilung?»

«Sie zogen ihre Anzeigen nach kurzer Zeit wieder zurück. »

Nora wartete, und als er nicht fortfuhr, fragte sie: «Sie sprachen von drei Frauen. Wer ist die dritte?»

Er stiess Campanini kumpelhaft in den Arm. «Na, unsere Claudia hier. Bei dir hat er’s doch auch versucht, oder? Du hättest ihn doch mit Vergnügen ins Jenseits befördert. »

«Hör auf!», sagte diese.

Ein betretenes Schweigen herrschte. Roland Wehr schien es nicht wahrzunehmen. Wie ein kleiner Junge sass er auf dem Pult und schlenkerte noch immer mit den Beinen.

«Haben Sie nicht vielleicht etwas zu viel Staub aufgewirbelt?», fragte die ältere Dame Nora leicht vorwurfsvoll. «Man muss doch nicht alles immer wieder aufwärmen. »

«Es geht um einen Todesfall, Frau Mäder», gab Nora zurück. «Da kann man nicht genug aufwirbeln. »

Cedric lauschte. Keine Stimmen auf dem Gang. Keine vorwitzige Versicherungszicke in der Nähe. Er griff nach dem Telefonhörer. Dann überlegte er es sich anders und nahm sein Handy hervor. Diese Dobler wäre imstande, sein Gespräch mitzuverfolgen. Er wusste, dass Kowalski seine Leute kontrolliert hatte. Einmal hatte er Dinge über ihn, Cedric, gewusst, die er nur hatte erfahren können, indem er Telefongespräche im Geheimen abhörte. Darauf angesprochen, stritt er zuerst alles ab, um es später zuzugeben. Mit der Begründung, er wolle gegen Firmenspionage gewappnet sein. Spionage?, hatte Cedric höhnisch gefragt, in einer Lagerhausfirma? Da war Kowalski ausgerastet, hatte ihn angeschrien, er, Stark, habe keine Ahnung, die Schweizer hätten den Krieg nicht miterlebt, natürlich gehe es nicht um Spionage, aber man müsse seine Untergebenen im Griff haben, bevor sie sich gegen einen wendeten. Und Cedric hatte Kowalskis Paranoia gespürt, hatte gemerkt, dass sich hinter seinem Verhalten ein kleines Würstchen verbarg, dem es nur um Macht und Kontrolle ging.

Wenn Cedric jetzt nicht wachsam war, würde diese verklemmte Sarah Dobler von Kowalskis Apparat aus mitlauschen. Er wusste zwar nicht genau, ob sie überhaupt von der Verkabelung Kenntnis hatte, doch sicher war sicher. Er stellte die Nummer ein, die er auswendig kannte.

Die Frau meldete sich so schnell, dass er wusste, sie hatte neben dem Telefon auf seinen Anruf gewartet. «Cedric? Endlich lässt du von dir hören. Ist sie immer noch bei euch?»

«Sie schnüffelt gerade bei der Schwuchtel rum. »

«Roland ist nicht schwul, das hab ich dir doch gesagt. »

«Er benimmt sich aber so. »

Ein kurzes Zögern am anderen Hörer. Dann die ängstliche Frage: «Hat sie etwas herausgefunden?»

«Noch nicht, aber sie wird. Sie ist clever. »

«Wir müssen aufpassen, nicht wahr?»

Was für eine dumme Frage. Hatte sie denn nicht gehört, was er gesagt hatte? «Ja, Schatz, wir müssen aufpassen. »

«Ich liebe dich, Cedric. »

Ohne jegliche Regung antwortete er: «Ich liebe dich auch, Antje. »

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