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Die Büchse der Libertas – Freiheitliches Denken als Prüfstein für die Politik
Karen Horn

«Freiheit? Ein schönes Wort, wer’s recht verstände!

Was wollen sie für Freiheit? Was ist des Freiesten Freiheit?»

Aus: «Egmont» von Johann Wolfgang von Goethe

Der Liberalismus ist heute Allgemeingut. Wer wollte schon von sich behaupten, die Freiheit sei ihm politisch nicht wichtig? Und wer glaubte gar, er könne in unseren Breiten mit einem ausdrücklichen Illiberalismus Wahlen gewinnen? Die Freiheit ist in der Schweiz nicht nur dem Freisinn lieb, sondern sehr wohl auch der Sozialdemokratischen Partei und der Schweizerischen Volkspartei. Im Ausland bekennt man sich von rechts aussen bis links aussen im gesamten politischen Spektrum so verbal wie verbos zur Freiheit, von der niederländischen Partij voor de Vrijheid bis hin zu Jean-Luc Mélenchons France Insoumise. Dass trotzdem alles andere als politische Einigkeit herrscht, liegt daran, dass fast jeder etwas anderes unter Freiheit versteht oder einen anderen Aspekt des Grundwerts in den Vordergrund rückt. Es passt eine Menge in die grosse Büchse der Libertas.

Der Begriff ist dermassen breit, dass man ihn in der Tat an den verschiedensten Zipfeln packen, in alle Richtungen an ihm zerren und sich lange um ihn zanken kann. Und der Streit wird häufig umso heftiger, als das Freiheitsverständnis nun einmal im Zentrum allen politischen Denkens steht und für viele Menschen auf eine emotional bedeutsame Weise zu dem gehört, was sie selbst im Inneren ausmacht. Wer vorgehalten bekommt, er sei ja mit einem völlig falschen Freiheitsverständnis unterwegs, der dürfte sich deshalb nicht nur auf einer abstrakten, fernen, intellektuellen Ebene kritisiert, sondern höchst konkret getroffen fühlen in einer tiefen, identitätsstiftenden, persönlichen Überzeugung – mit der Folge, dass er umso hartnäckiger an der Brille festhält, die er sich nun einmal auf die eigene Nase bugsiert hat.

Hierin liegt eine der vielleicht am häufigsten übersehenen Gefahren des Liberalismus: dass auch er in Radikalisierung und Engstirnigkeit münden kann, und dass auch in seinem Fall eine Nibelungentreue zu gedanklich auf die Spitze getriebenen Prinzipien praktische Vernunft und kluge Abwägung zu überlagern vermag. Dabei ist der Liberalismus, wie auch immer man ihn im Einzelnen fassen will, nichts anderes als bloss ein Ausgangspunkt. Mit einem Grundsatzbekenntnis zur Freiheit ist noch lange nicht alles geklärt; die Probleme beginnen danach erst. Der Liberalismus liefert für das politische Handeln nur ein normativ gut begründetes Kriterium, das seinerseits aber Konflikte und Spannungen produziert. Freiheitsliebe entbindet nicht vom Klugheitsgebot und der Notwendigkeit informierten Gewichtens und Abwägens.

Welche Freiheit?

Um die Frage, welcher Freiheitsbegriff für die Politik relevant ist, kommt man freilich auch dann nicht herum, wenn man sich nicht anmassen will, im Konzeptionellen abschliessend über richtig und falsch zu entscheiden. Die Politische Philosophie hält zur Beantwortung dieser vorab zu beantwortenden Frage einen bunten Strauss überlappender Differenzierungen bereit. Zwei dieser wichtigen Unterscheidungen sollten helfen, das weite Feld ein wenig zu sortieren. Es wird nun zunächst etwas abstrakt.

Erstens kann man Freiheit positiv («Freiheit zu etwas») oder negativ («Freiheit von etwas») denken, nach einer berühmten, aber oft trivialisierten Gegenüberstellung von Isaiah Berlin.1 Negative Freiheit ist negativ nur im Sinne eines Abwehrrechts: Sie bedeutet Abwesenheit von Zwang. Positive Freiheit bezieht sich auf das Humboldt’sche Ideal der (und, nach dessen Vorstellung, der Pflicht zur) Selbstverwirklichung;2 in der liberalen Diskussion wird sie manchmal, weil dort die Kritik am umfassend umverteilenden Wohlfahrtsstaat üblich ist, ideengeschichtlich falsch auf den Aspekt der finanziellen Autonomie verkürzt. Negative und positive Freiheit sind verschieden und dennoch in der konkreten Betrachtung nicht wirklich voneinander zu trennen. Sie beziehen sich vielmehr aufeinander.3 Schliesslich bedarf es der «Freiheit von» als Voraussetzung für die wie auch immer mit Inhalt gefüllte «Freiheit zu».4

Zweitens hat die Freiheit, ob man sie nun negativ oder positiv denkt, sowohl eine interne (innere) als auch eine externe (äussere) Facette. Die interne Facette ist jene, die von einem selbst ausgeht; hier handelt es sich zumeist um eine Einstellung. Die externe Facette ist auf der Mittelebene angesiedelt; sie hängt nicht von einem selbst, sondern von anderen ab. Was einem Menschen im günstigen Fall ermöglicht, sich zu entfalten und selbst zu verwirklichen (also seine positive Freiheit zu realisieren), kann das vorhandene Geld sein, das eine entsprechende Erziehung ermöglicht (externe Facette), aber auch sein Naturell (Einstellung). Die innere Einstellung, die einen im ungünstigen Fall daran hindern mag, sich zu entfalten, lässt sich gleichzeitig als ein innerer Zwang begreifen, als ein Fehlen von negativer Freiheit, was insofern eines aktiv zwingenden Dritten gar nicht bedarf (siehe Schaubild). Natürlich lässt sich auch hier oft im konkreten Einzelfall zwischen den beiden Facetten und Vorzeichen der Freiheit eine Verbindung finden; nichts im Leben ist voraussetzungslos, auch innere Einstellungen sind es nicht.


Positive Freiheit Negative Freiheit
Interne Facette (Einstellung) A: Ich bin innerlich fähig, mich zu entfalten und zu werden, wer ich bin. C: Ich werde nicht von meinen eigenen inneren Zwängen und Hemmungen davon abgehalten zu tun, was ich möchte.
Externe Facette (Mittel) B: Andere Menschen befähigen mich, mich zu entfalten und zu werden, wer ich bin. D: Ich werde nicht mit Zwang durch andere Menschen davon abgehalten zu tun, was ich möchte.

Fokus auf das Politische

In der Politik ist relevant, was politisch ist – also nicht so sehr, was den Einzelnen im stillen Kämmerlein bewegt, sondern was er mit anderen in der politisch verfassten Gemeinschaft zu verhandeln hat. Wobei es zu den elementaren Einsichten des Liberalismus gehört, dass es zwischen diesen beiden Sphären einer sauberen Trennung bedarf. Das Hochgefühl der Freiheit hingegen, das zum Beispiel den Seemann auf seiner Barke erfasst, den Skifahrer im Abfahrtsrausch, den Wanderer am Gipfelkreuz, das jauchzende Kind auf der hoch hinaufschwingenden Schaukel und den jungen Menschen, der zum ersten Mal eine eigene Wohnung bezieht – es ist beglückend, aber es gehört analytisch schlicht nicht hierher oder allenfalls nur insofern, als sich die Frage stellt, was denn die Politik dafür zu tun und vor allem zu unterlassen hat. Und dennoch ist für den politischen Kontext das Hochgefühl der Freiheit darin bedeutsam, dass es in Erinnerung ruft, wie stark in der menschlichen Natur die Sehnsucht nach Grenzenlosigkeit ausgeprägt ist, aber auch allgemein nach Möglichkeiten, nach Selbstbestimmung.

Im Politischen geht es um die Freiheit in ihrer externen Facette; die Varianten A und C im Schaubild sind hier mithin nicht unmittelbar relevant. Es geht insbesondere um die «grosse Freiheit» in Variante D, die auf das «Verhältnis von Individuum und Staat hin entworfen ist», wie es der Zeithistoriker Paul Nolte einmal formuliert hat.5 Wobei diese Definition durchaus nicht ausschliesst, sondern einschliesst und sogar erfordert, sich mit dem zu befassen, was zwischen Individuum und Staat liegt, der Bürgergesellschaft. Im Politischen jedoch geht es um den Menschen in der Gemeinschaft, um das Individuum im Kollektiv, im selbst gewählten wie im schicksalhaften, auf allen Ebenen der Staatlichkeit und auch der auf dieser Grundlage eingegangenen supranationalen Bindungen und Verbindungen.

Es geht um alle Interaktionen von Menschen, die dazu führen, dass der Aktionsradius des einen den des anderen begrenzt – und mithin auch nicht nur im wirtschaftlichen Bereich. Die gängige Unterteilung des Freiheitsbegriffs in «politische Freiheit» und «wirtschaftliche Freiheit» suggeriert fälschlich, dass sich die Freiheit departementalisieren lässt. Die Freiheit ist unteilbar. Derartige Adjektive ergeben nur Sinn, wenn spezifisch die Freiheit in einer bestimmten Sphäre wie der Politik oder der Wirtschaft, dem Staat oder dem Markt von Interesse ist. Doch in allen Sphären entspringt die Freiheit derselben Wurzel, ist sie Teil eines Ganzen. Im Nachdenken über die Freiheit dabei stets beim einzelnen Menschen anzusetzen, bedeutet im Übrigen keineswegs, wie Liberalen gelegentlich unterstellt wird, einer Individualisierung der Gesellschaft das Wort zu reden. Im Gegenteil: Nur mit einer solchen konzeptionellen Vorgehensweise kann man sich logisch darum bemühen, dass niemand im abstrakten Kollektiv unter die Räder kommt.

Viele Liberale bringen gegen das Konzept der positiven Freiheit im Politischen vor, dass dieses beinahe jede Form von materieller Umverteilung zu rechtfertigen vermag – und damit fast jeden Eingriff in das Eigentum und damit in die Freiheit anderer. Auch wenn das Argument stichhaltig ist, stellt dieser materielle Fokus einen Irrtum dar. Das eigentliche Problem liegt auf einer anderen Ebene: in der Einmischung anderer in die Definition dessen, «wer ich bin» und werden soll (Variante B im Schaubild). Isaiah Berlin sprach in diesem Zusammenhang von einer «monstrous impersonation».6 Aus liberaler Sicht problematisch ist hier erstens schon die zugrundeliegende Unterscheidung zwischen einem geringeren, vorläufigen Ich und einem höheren, wirklichen Ich; zweitens der implizite Imperativ, dass es sich vom einen zum anderen zu bewegen gelte; drittens die Möglichkeit, dass das Erkennen meines Potenzials und die Entscheidung über den Grad, zu dem ich es verwirkliche, nicht mir selbst obliegt. Aus dieser Problematik ergibt sich gerade im Politischen ein Vorzug für die negative Freiheit, also für einen nicht invasiven Freiheitsbegriff, aus dessen Perspektive jeder Person ihre Selbstverortung, Selbstbestimmung und Selbstentfaltung zu überlassen ist. Es bleibt mithin nur Variante D im Schaubild: «A free man is he that […] is not hindered to do what he has a will to do», wie schon Thomas Hobbes schrieb.7

Für die Politik bedeutet das, dass jede kollektive Entscheidung und jede staatliche Massnahme unter dem Kriterium zu betrachten sind, ob Bürger mittels Zwang davon abgehalten werden zu tun, was sie möchten. Über den Begriff des Zwangs wiederum kann man sich auch lange streiten: Was ist überhaupt Zwang, und unter welchen Bedingungen ist er zulässig? Friedrich August von Hayeks nicht maximal scharfe, aber abgewogene Herangehensweise erscheint plausibel und praktikabel. Sie bindet die Ausübung von Zwang durch den Staat strikt an das Kant’sche Willkürverbot, toleriert ihn also allenfalls unter der Herrschaft des Rechts und dem Diskriminierungsverbot, und unterwirft ihn auf dieser Grundlage noch dem «harm principle» sowie dem Gebot der Verhältnismässigkeit.8 Gemäss dem «harm principle» nach John Stuart Mill gilt, dass «der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten».9

Die Freiheit nimmt dabei eine besondere Stellung gegenüber anderen Werten und Zielen ein, die in der Politik verfolgt werden können: der Gerechtigkeit, der Gleichheit, dem Frieden, der Sicherheit, und was einem sonst noch so einfällt.10 Auf der Ebene der individuellen Tugenden ist sie eine vorgelagerte, universelle Voraussetzung: Erst wo Menschen in Freiheit leben, ergibt es Sinn, an sie die Aufforderung zu richten, sie mögen sich gerecht verhalten. Ein im Nachhinein vom Ergebnis her als gerecht oder ungerecht beurteiltes Handeln verdient diese Bezeichnung nicht, wenn der handelnde Mensch unfrei war und deshalb nicht über die Möglichkeit der Entscheidung verfügte. Auf der gesellschaftlichen Ebene gilt dasselbe, soweit es um die grundsätzliche Legitimation von staatlicher Ordnung und kollektivem Handeln geht: Gleich, ob man über Freiheit oder Gleichheit oder Gerechtigkeit nachdenkt, man bedarf dafür derselben individualistischen Prämissen, desselben Ausgangspunkts in der Würde des einzelnen Menschen und, zumindest in einer kontraktualistischen Herangehensweise, derselben Unterwerfung unter den Vorbehalt der allgemeinen Zustimmungsfähigkeit.

Unterhalb dieser Metaebene jedoch verändert sich das Verhältnis zwischen der Freiheit und anderen Werten wie der Gerechtigkeit und der Gleichheit; hier kommt es durchaus regelmässig zu einer Konkurrenz. Ein Zuviel an Gleichheit, zum Beispiel, sofern sie nicht konzeptionell allein auf die rechtliche Gleichheit beschränkt ist, bedroht die Freiheit. Freiheit ohne Berücksichtigung der Gerechtigkeit ist auch keine Option. In der Politik besteht die Kunst dann darin, eine Balance zu finden und die Konkurrenz der beiden Ziele in eine Komplementarität zu überführen. Die Welt der Werte und der politischen Ziele ist plural. «Human goals are many, not all of them commensurable», befand Berlin:11 Nicht immer lassen sich diese Ziele ohne Weiteres harmonisch aufeinander ausrichten, manchmal widersprechen sie einander. Deshalb gilt es wohlinformiert und klug abzuwägen, fair zu verhandeln und bewusst nach Einigungen zu suchen, sich in Respekt und Toleranz zu üben, Spannungen auszuhalten und sich mit nicht maximalen Zielerreichungsgraden abzufinden.

Ein wenig Ökonomie

Sich jeweils gründlich in die zu verhandelnde Materie zu vertiefen, um nicht an der klischeehaften Oberfläche der Dinge zu verharren, sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Das bedeutet zum Beispiel, dass sich jemand, der aus Gründen der Gerechtigkeit für einen Mindestlohn ficht, Klarheit über die nicht nur kurzfristig erwartbaren Folgen verschafft und diese bewertet – unter dem Gesichtspunkt, ob die Massnahme in einer relevanten Frist mit Blick auf die eigene Absicht überhaupt zielführend ist. Ist dies der Fall, dann bleibt zu fragen, wie sie sich zu den Nebenwirkungen verhält. Als ordnungspolitisch relevante Nebenwirkung steht bei diesem Beispiel im Vordergrund, dass das Verfügungsrecht von Unternehmern beschnitten und dass die an der Knappheit orientierte (und zu ihrer Behebung beitragende) Koordination auf dem Arbeitsmarkt über Preissignale verzerrt wird.

Um das Gesamtbild zu bewerten, bedarf es nun nicht nur, aber auch ein wenig sperriger Ökonomie. Die preistheoretisch logisch unabweisbare Folge des Mindestlohns zum Beispiel ist, sofern die Nachfrage nach Arbeitskräften «elastisch», also preisempfindlich ist, eine geringere Zahl von angebotenen Stellen. Aber zunächst wäre empirisch zu klären, ob die Nachfrage denn elastisch ist oder nicht, beispielsweise weil das Umstellen auf Roboter in der Gastwirtschaft keine Option ist. Ist sie elastisch, ist ein Mindestlohn keine gute Idee – weder aus Gründen der Gerechtigkeit noch der unternehmerischen Freiheit. Ist sie nicht sonderlich elastisch, dann gilt es, die voraussehbare Reaktion der Arbeitgeber zu ermitteln: Können sie die zusätzlichen Kosten auf ihre Kunden überwälzen? Ist das dann gerecht? Entspricht das der ursprünglichen Absicht? Und welche ökonomischen Folgen zeitigt das? Bildlich gesprochen, tritt das volle Ausmass der unbeabsichtigten Nebenwirkungen einer Massnahme erst zutage, wenn alle Ringe gezählt sind, die sich um den ins Wasser geworfenen Stein ziehen.

Freilich lässt sich nicht alles abschliessend wissenschaftlich beurteilen, und die Ökonomie ist gewiss nicht die einzige dafür relevante Disziplin. Aber die ökonomische Theorie und ihre empirische Evidenz können zumindest helfen, eine Entscheidung auf eine halbwegs solide sachliche Basis zu stellen. Gleichzeitig sei vor einem «Ökonomismus» gewarnt: So manche politische Entscheidungen mögen wirtschaftlich gut begründet und sinnvoll sein, doch wenn man nicht bedenkt oder kein Gespür dafür besitzt, welche sozialpsychologischen Prozesse und politischen Dynamiken sie in Gang zu setzen vermögen, dann nützt das alles wenig – ein drastisches aktuelles Beispiel ist die ökonomisch gar nicht so unsinnige geplante Ökosteuer auf Benzin und Diesel in Frankreich, die wesentlich die Bewegung der «Gilets jaunes» hervorgerufen hat. Liberal inspirierte Politik kann nicht nur ökonomisch informiert sein; sie bedarf des Blicks und der Kompetenz in alle Richtungen. So oder so ist von allen, die sich auf die Freiheit berufen, Bereitschaft zum produktiven Selbstzweifel angezeigt, des ständigen demütigen Zweifels «daran, ob die gefundene Antwort wirklich die richtige ist, gegen alle Gewissheiten der Logik wie der geschichtlichen Entwicklung», 12 wie Peter Graf Kielmansegg schreibt. Liberalismus ohne Anerkennung des Pluralismus, ohne Skepsis gegenüber absoluten Wahrheitsansprüchen, ohne Selbstzweifel und ohne Toleranz wäre dogmatisch, lebensfern und schlichtweg inhuman.

Ein konzeptionelles Zwischenfazit

Dies ist es vielleicht, was an dieser Stelle als konzeptionelles Zwischenfazit festzuhalten wäre: erstens, dass der philosophische Liberalismus der praktischen Politik mit dem Konzept der negativen Freiheit eine durchaus alltagstaugliche Messlatte an die Hand gegeben hat; dass nämlich jede kollektive Entscheidung und jede staatliche Massnahme unter dem Kriterium zu betrachten sind, ob die Bürger mit Zwang davon abgehalten werden zu tun, was sie möchten, oder ob sie im Gegenteil einen Zuwachs an Handlungsspielraum erhalten. Zweitens, dass noch so starke liberale Prinzipien nicht davon dispensieren, sich gründlich zu informieren, wissenschaftliche Unterstützung zu suchen und Positionen in deren Lichte auch einmal zu räumen. Drittens, dass es bei alledem der Klugheit bedarf – einer von Erfahrung getragenen Klugheit im Abwägen, mit Fingerspitzengefühl, Fairness und Friedfertigkeit ebenso wie im verantwortungsbewussten Blick über den fachlichen Tellerrand hinaus. Und viertens, dass es zwischen widerstrebenden Zielen zu vermitteln gilt. Wo Ausgleich nicht möglich ist, bedarf es des Aushaltens von Unvollkommenheiten, Spannungen und Widersprüchen. Ambivalenz gehört zum Leben.

Die praktische Ambivalenz der Freiheit

Die Freiheit ist ein Glück und die Grundlage aller anderen Werte, aber sie ist in der Praxis eben ambivalent. Zwiespältigkeiten verlangen, dass man sie zur Kenntnis nimmt und sie nicht etwa im Nirwana eines maximal purifizierten ideologischen Paradigmas wegzudefinieren sucht. Zwiespältigkeiten verlangen, dass man sie zu überbrücken versucht. Es gilt der gute Umgang mit ihnen als eine Herausforderung an die politische Klugheit und die Fähigkeit zum Abwägen zu begreifen, im weiteren Sinne des berühmten Satzes von Karl Popper vom Wesen allen Lebens als Problemlösen. Wer jedoch von den Zumutungen, Erschwernissen und Spannungen nichts wissen will, die sich mit der Freiheit für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft verbinden können, der tut ihr einen Bärendienst.

Die grundlegende Ambivalenz der Freiheit findet ihren Widerschein schon darin, dass trotz aller Bekenntnisse zur Freiheit der Befund von James M. Buchanan unvermindert zutreffend anmutet: «Die Menschen fürchten die Freiheit.»13 Doch kann man etwas fürchten, das man auf keinen Fall missen möchte? Man kann. Aus nachvollziehbaren Gründen. Die Verheissung der Freiheit zum Beispiel, dass jeder sein Leben in die eigene Hand nehmen kann: Sie ist etwas für fähige, zupackende, optimistische Gemüter. Als Abwehrrecht gefasst, ist die Vorzugswürdigkeit der Freiheit unzweifelhaft: Wer wünschte sich nicht die Abwesenheit von Zwang, von Unterdrückung, von Bevormundung, die uns davon abhalten würden, «einen Lebensplan, der unseren eigenen Charakteranlagen entspricht, zu entwerfen und zu tun, was uns beliebt», 14 wie es Mill formulierte?

Diese negative Freiheit überwindet einen gleichsam feudalen Typus von Abhängigkeit. Sie entlässt den Einzelnen in variable Kooperationsnetze wie den Markt, aus denen manche Kritiker freilich wiederum eine – wenn auch vollkommen andere – Form von Abhängigkeit entstehen sehen. Diese Freiheit jedenfalls geht einher mit einem Auftrag zu Selbsterkenntnis, Selbstentfaltung und vor allem Selbstverantwortung; mit der oftmals nicht geringen Bürde, Entscheidungen unter Unsicherheit treffen und die Folgen der eigenen Fehler tragen zu müssen. Ist das ein Argument gegen die Freiheit? Sicherlich nicht. Das alles gehört zum Leben. Und doch gehört zum Leben neben dem Appetit auf Autonomie auch die Sehnsucht, in einer Form von organisierter Ordnung aufgehoben und halbwegs beschützt zu sein.

Eine Deklination hiervon ist die mit der Freiheit einhergehende Möglichkeit, sein Glück zu machen und womöglich sogar reich zu werden: Solange es um die Chancen geht, ist natürlich jeder gern dabei, aber wenn das Risiko zur Debatte steht, dass man scheitert und womöglich verarmt, lässt die Begeisterung nach. Doch ohne die Gefahr eines Scheiterns gibt es keine Gelegenheit zum Erfolg. Diese Spannung auszutarieren, damit sie nicht im Entweder-oder verharrt, ist die nicht geringe Anforderung an den modernen Sozialstaat: Er muss so gebaut sein, dass er zwar keine Hängematte bietet, aber Menschen im Notfall verlässlich auffängt, ohne dass sie sich im administrativen Dickicht verlieren.

Selbst die politische Freiheit ist für den einzelnen Menschen ambivalent. Natürlich steht sie nicht zur Disposition. Wer legte nicht Wert auf sein aktives und passives Wahlrecht? Wer wollte nicht gefragt werden, nicht seine Meinung äussern und mitbestimmen können? Das Problem ist nur, dass in den kollektiven Entscheidungsverfahren der Massengesellschaften der einzelne Bürger wenig Aussicht hat, der «pivotale» Wähler zu sein, dessen Votum den Ausschlag gibt. Die Mitbestimmung im grossen Kollektiv versendet sich – und das vermag durchaus erhebliche Frustration zu stiften. Auch das ist kein Argument gegen die Freiheit, denn ohne sie hätte der Bürger im Kollektiv erst recht nichts zu sagen und die Frustration müsste noch grösser sein. Der Filz, die Seilschaften, die in unfreien Staaten üblich sind: Sie sind gewiss nicht befriedigender. Aber dieser Spannung entspringt die Anforderung, das System der politischen Partizipation mit deutlich mehr diskursiven Rückkopplungen auszugestalten, sodass die Stimme des Wählers, der nicht der Mehrheit angehört, nicht ungehört verhallt und mithin verloren ist.

In gesellschaftlicher Betrachtung gehen die Ambivalenzen der Freiheit weit über solche psychologischen Momente hinaus. Hier bekommen wir es mit den komplexen Auswirkungen des individuellen Tuns auf soziale Abläufe und Strukturen zu tun. So erzieht die Freiheit, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen, im guten Fall zu Selbstverantwortung und zur Sorge für alles, was man beeinflussen kann, im schlechten jedoch zu Egoismus und Vereinzelung. Darunter leidet das soziale Kapital: das Vertrauen, die Kooperation, der Zusammenhalt in der Gesellschaft. Und erst die individuelle Freiheit, reich zu werden, erschliesst der Gesamtwirtschaft eine wirtschaftliche Dynamik, von der im Idealfall die Masse profitiert. Doch sie vermag auch Gier und Geiz zu schüren, zur Unterbindung des Wettbewerbs zu verlocken und die materielle Ungleichheit derart zu vergrössern, dass eine allgemeine moralische Korruption zum Spaltpilz der Gesellschaft wird: Dies fürchtete schon der oft als Hohepriester des Egoismus gründlich missverstandene Adam Smith.15

Diese Sorge ist in unseren Tagen nicht minder wohlbegründet, zumal etliche Erlebnisse mit exzessivem Verhalten sie fördern, besonders augenfällig unter anderem im Zusammenhang mit der globalen Finanzkrise 2007/08. Nur ist auch das noch kein Argument gegen die Freiheit: Wie alle Erfahrung mit illiberalen Staaten lehrt, ist in einem Gemeinwesen, in dem die Freiheit des Einzelnen wenig gilt, die moralische Korruption bei Weitem noch ärger. Die Herausforderung für die «offene Gesellschaft», wie Popper das nicht kollektivistische, die Individuen schätzende und schützende Gemeinwesen nannte, besteht deshalb vor allem darin, eine Ordnung zu schaffen, die auf intelligente Weise aufeinander ausrichtet, was nicht von selbst immer schon harmonisch ist. Den Prüfstein für alle politischen Massnahmen, die diesem Zweck dienen, bietet wie gesagt die individuelle Freiheit selbst: Wird sie erweitert und besser abgesichert, oder wird sie am Ende unabsichtlich beschnitten?

Die individuelle Freiheit von staatlichem Zwang schliesslich, das Grundprinzip der negativen Freiheit, steht an der Wurzel der Freisetzung aller Fortschrittskräfte in der abstrakten Grossgesellschaft der Moderne. «Weil jeder einzelne so wenig weiss, und insbesondere, weil wir selten wissen, wer von uns etwas am besten weiss, vertrauen wir darauf, dass die unabhängigen und wettbewerblichen Bemühungen Vieler die Dinge hervorbringen, die wir wünschen werden, wenn wir sie sehen», 16 schrieb Hayek. Aus dieser Einsicht folgt allerdings die Empfehlung, es mit der politischen staatlichen Steuerung, die mitunter einer «Anmassung von Wissen» entspringt, nicht zu übertreiben. Ist das nicht ein Angriff auf die Demokratie? Keineswegs. Je mehr bewusst geplant wird, desto weniger Türen stehen noch für andere, unvorhergesehene, spontane Entwicklungen offen.

Dieser Zwiespalt hat sogar etwas Gutes. Denn die Spannung zwischen politischer Steuerung im Staat und spontaner Koordination in der Zivilgesellschaft einschliesslich Märkten kann dazu beitragen, dass das Eine das Andere in Schach hält und vor Exzessen bewahrt. Und deshalb schrieb Karl Popper: «Wir brauchen die Freiheit, um den Missbrauch der Staatsgewalt zu verhindern, und wir brauchen den Staat, um den Missbrauch der Freiheit zu verhindern.»17 Mit anderen Worten: Wir brauchen die Selbstbeschränkung des Staats und eine Neuausrichtung auf seine vor allem protektiven Aufgaben.18

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