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Viele haben mich nach meiner Meinung gefragt, als die Nachricht von dieser weiteren »Heldentat« meines Nachfolgers in den Zeitungen stand. Ich fand jedoch, dass sich jeder Kommentar darauf erübrigte.

CAPITOLO 3
Zwei Robertos


Roberto Lucano senior († Januar 2020) vor einem Wandbild in Riace

Auf dem Hauptplatz von Riace Superiore hatte man eine kleine Bühne aufgestellt. Das ist der Vorplatz, der alle in Empfang nimmt, die vom Meer herauf ins alte Dorf kommen, und auf ihn schaut auch das Rathaus hinaus, in dem ich schon seit zehn Jahren als Bürgermeister regierte. Es war das Jahr 2014, und die Wahlkampagne für mein drittes Mandat neigte sich dem Ende zu. Im Publikum befanden sich viele Freunde, und auch ein paar Journalisten und Unterstützer, die von außerhalb kamen, aus Rom, Catanzaro, Reggio Calabria, Palermo.

Wir würden die Wahl gewinnen, aber das wussten wir noch nicht. Ich war überrascht über die Welle der Sympathie, die mir entgegenschlug, jedenfalls bis ich das Gesicht meines Sohnes in der Menge entdeckte. Es erstaunte mich, ihn zu sehen, denn Roberto kam normalerweise nicht zu meinen Wahlkundgebungen, auch weil solche Kundgebungen für viele junge Menschen wie ihn inzwischen eine »altmodische« Art waren, Politik zu machen. Doch der Hauptgrund, warum er nicht kam, war ein anderer: Mein Sohn ist ganz einfach anderer Meinung als ich. Er war nicht da, um mich zu unterstützen, sondern um mich anzugreifen.

Roberto hat einen starken, unabhängigen Charakter. Ich habe ihm immer geraten, mit seinem eigenen Kopf zu denken, und ihn ganz sicher nie gezwungen, meine Überzeugungen zu teilen. Meinen drei Kindern habe ich oft gesagt: Es stimmt, wir sind eine schwierige Familie, aber wir müssen ehrlich zueinander sein. Immer. Die Generation meiner Kinder weiß – wie im Übrigen auch die meine schon –, dass ihre Heimat im Begriff ist auszubluten. Für die Jüngeren spielt sich die Zukunft anderswo ab. Auch mein Sohn ist sich dessen bewusst und hat mir gegenüber nie einen Hehl daraus gemacht.

Damals bei der Wahlkundgebung waren Carabinieri in meiner Nähe. Roberto stand vor der kleinen Bühne, es war früher Abend, und wollte wissen, ob er Fragen stellen könne. Der Carabiniere, der mir am nächsten stand, sah mich verblüfft an und fragte: »Was sollen wir tun? Das ist doch eine Kundgebung, keine Debatte.« Ich aber war neugierig, was mein Sohn mir zu sagen hatte, und ließ zu, dass der Carabiniere ihn auf die Bühne holte.

Es war eine unangenehme Situation, denn ich wusste nicht, was ich zu erwarten hatte.

»Ich möchte dir eine Frage stellen, und zwar nicht als Sohn dem Vater, sondern als Bürger dem Bürgermeister.«

Im Publikum wurde getuschelt und gekichert, doch nun verstummten die Leute.

»Geht in Ordnung«, antwortete ich.

»Nach welchen Kriterien werden eigentlich die Leute ausgewählt, die in der Flüchtlingsaufnahme arbeiten?«

Wieder erhob sich aufgeregtes Gemurmel. Zum damaligen Zeitpunkt waren in Riace von 1600 Einwohnern etwa 100 Menschen in der Aufnahme und Integration von Geflüchteten beschäftigt, davon 80 Italiener und 20 Ausländer, Letztere vor allem als Sprach- und Kulturvermittler. Dank der CAS- und SPRAR-Projekte, die in Zusammenarbeit mit dem Innenministerium und der Präfektur errichtet worden waren, konnten diese Menschen, die zum Teil aus Riace direkt und zum Teil aus der Umgebung kamen, die inzwischen wichtigste »Branche« im Dorf mit Leben füllen. Es war die einzige Arbeit, die noch eine Zukunft hatte, denn Landwirtschaft war in der Provinz Locride kaum mehr vorhanden, auch die Viehzucht stand kurz vor dem Ende, und Fabriken hatte es praktisch nie gegeben. Wenig erstaunlich also, dass es keine Arbeit gab. Es war fast so etwas wie ein Wunder, dass wir durch die Konzentration auf den Nonprofit-Sektor, Leistungen im Dienst der Menschlichkeit, relativ viele Arbeitsplätze geschaffen hatten.

Ich antwortete Roberto: »Es ist jedenfalls nicht der Bürgermeister, der die Leute auswählt, sondern das übernehmen die Wohlfahrtsverbände, denen die Gemeinde die Abwicklung solcher Dienstleistungen anvertraut. Sie kümmern sich dann um die Stellenausschreibungen.«

Er gab zurück: »Das ist eine diplomatische Antwort, denn in Wirklichkeit hängen diese Stellen ja doch von der Gemeinde ab.«

Ich wollte verhindern, dass man sich später über diese Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn die Mäuler zerriss, daher adressierte ich meine Antwort auch an das Publikum. Ich erklärte, dass der Bürgermeister natürlich in der Verantwortung steht und dafür zu sorgen hat, dass Arbeitsplätze für junge Menschen geschaffen werden, dass das Dorf nicht einfach von der Landkarte verschwindet, dass auf den Plätzen weiterhin Leben herrscht, dass die Rollläden der Geschäfte nicht für immer heruntergelassen werden.

Die Replik meines Sohnes war kurz und bündig, und sie brachte mich völlig aus dem Konzept: »Ich weiß sowieso, dass meine Zukunft woanders ist. Ich fordere alle hier Anwesenden auf, einen leeren Stimmzettel abzugeben.«

Damit stieg er von der Bühne und mischte sich unter die Menge, wobei ihm einige seiner auf dem Platz anwesenden Freunde verhalten Beifall klatschten. Dies war der Moment, in dem die Bewegung entstand, die fortan für »Stimmenthaltung für Riace« werben würde. Ich stand auf dieser Bühne und kämpfte dafür, dass eine neue Erfahrung weiter wachsen, ein Traum sich weiter entfalten konnte, und mein eigener Sohn stellte sich gegen mich und forderte die Gemeinde auf, ungültig zu wählen – eines der größten Protestsignale, die es in einer Demokratie gibt.

Als ich an jenem Abend nach Hause kam, war ich zermürbt und verbittert. Die Bilder von der Piazza gingen mir nicht aus dem Kopf, und Robertos Worte hallten noch in mir nach. In seiner Stimme hatten Wut und Trauer gelegen, sicherlich Ausdruck seiner Enttäuschung über unsere gespaltene Familie, aber vielleicht auch der Verzweiflung einer ganzen Generation über ihr auswegloses Schicksal.


Viel später erst ist mir klar geworden, dass sich mit diesem Ereignis an jenem Abend auch ein Kreis geschlossen hat. 20 Jahre zuvor war es nämlich ein anderer Roberto Lucano gewesen, der mir eröffnete, dass er mich nicht wählen würde: mein Vater.

Man schrieb das Jahr 1995, und ich kandidierte mit einer Bürgerliste, die wir mit einigen alten Freunden zusammen aufgestellt hatten, für den Gemeinderat. Wir wollten unsere alte Heimat neu entdecken, und mit ihr die Traditionen und Werte eines Kalabrien, das sich der Identifikation mit Mafiosi und anderen Potentaten verweigerte. Es würde noch ein paar Jahre dauern, bis die kurdischen Flüchtlinge an unserer Küste stranden und damit mein Leben und auch das von Riace grundlegend verändern würden. Bis vor wenigen Monaten hatte ich zusammen mit meiner Frau und den damals noch kleinen Kindern in Turin gelebt. Die schlechten Nachrichten, die regelmäßig aus meiner kalabrischen Heimat kamen, betrübten mich sehr, bis mir eines Tages klar wurde, dass ich nicht im Norden bleiben konnte, sondern nach Kalabrien zurückkehren und meinen Beitrag für politische Verbesserungen leisten musste.

Mein Vater Roberto war überzeugter Christdemokrat, und wir hatten immer eine konfliktreiche Beziehung gehabt. Als ich ihm von meiner bevorstehenden Kandidatur erzählte, erwiderte er nur: »Du wirst doch nicht glauben, dass ich einen wie dich wählen würde?«

Ich dachte zuerst, er mache Witze, doch kurz nach der Wahl wurde ich zufällig Zeuge, wie meine Mutter ihm bittere Vorwürfe machte, weil er seinem eigenen Sohn die Stimme versagt hatte. Seine Antwort war schlicht: »Ach, das wäre doch Vergeudung gewesen! Die sind doch alle völlig verrückt. Sie wollen einfach nicht einsehen, dass die Welt ist, wie sie ist …«

Mein Vater war vor seiner Pensionierung Lehrer gewesen und hatte sein ganzes Leben im Schuldienst verbracht. Die Antwort war typisch für ihn, doch sie verletzte mich trotzdem sehr. Wir gerieten in Streit, es fielen böse Worte, der Graben zwischen uns vertiefte sich. Kurz darauf endete mein erstes Wahlabenteuer mit einer Niederlage: Unsere Liste erhielt nur sehr wenige Stimmen, ich selbst nur zwei. Mein Vater hatte recht behalten.


Es ist viel geschehen in diesen 20 Jahren zwischen 1995 und 2014, als mir zunächst mein Vater und später dann mein Sohn, die beide den Namen Roberto Lucano tragen, die rote Karte zeigten, weil sie anders dachten als ich. Über familiäre Divergenzen hinaus zeigt es, wie tief die Gräben in der Region Kalabrien sind und wie sich von Generation zu Generation die Überzeugung verfestigt, dass an den Verhältnissen nicht zu rütteln ist, dass dieser zu Mafia-Abhängigkeit, Armut und Arbeitslosigkeit verdammte Landstrich für immer bleiben wird, wie er ist.

Trotzdem habe ich weiter für meine Überzeugungen gekämpft, und viele Menschen sind meinen Weg mitgegangen, darunter Wissenschaftler, Soziologen, Priester, Politiker und Regisseure, Landarbeiter, Schäfer, Gewerkschafter und Prostituierte, alte und junge Menschen, Männer, Frauen und Kinder, die nur mit knapper Not dem Ertrinken entkommen waren. Ich habe mir erlaubt, einen Traum zu verfolgen, die Utopie einer neuen Normalität, inspiriert von Denkern, Philosophen und Lebenskünstlern, bekannten und weniger bekannten, die mein Leben bestimmt haben und es heute noch tun.

CAPITOLO 4
Fußball spielen


Als kleiner Junge und weit bis ins Jugendlichenalter hinein ließ ich keine Gelegenheit zum Fußballspielen ungenutzt. Jeden Tag landeten meine Freunde und ich auf der Straße und widmeten uns dem geliebten Ballsport. Um den Sport etwas ernsthafter zu betreiben, trat ich der Mannschaft des sozialistischen Vereins der »Unità Proletaria« bei.

Um die Wahrheit zu sagen, fühlte ich mich in unserer Mannschaft oft fehl am Platz, weil ich der einzige Junge war, der aus einer »bürgerlichen« Familie stammte: Mein Vater war Lehrer und Christdemokrat, und bei mir zu Hause litt man keinen Hunger. Wir waren eine typische Mittelstandsfamilie der frühen 1970er-Jahre. In unserem Verein hingegen spielten viele Kinder von Arbeitern und vor allem Tagelöhnern, die als Erntehelfer auf den Feldern schufteten; Jungen in meinem Alter, die sich von den Idealen der libertären Linken eine realistische Möglichkeit erhofften, um ihrem Elend zu entfliehen.

Zu unseren sommerlichen Fußballturnieren kamen also schon bald politische Debatten und Veranstaltungen hinzu. Unsere Mannschaft gehörte zum Circolo Pier Paolo Pasolini (einer der vielen Namen, den der Verein über die Jahre hinweg getragen hat) und nannte sich »Stella Rossa« (Roter Stern), und selbstverständlich trugen wir einen feuerroten Dress. Eine der besten gegnerischen Mannschaften wiederum, gegen die wir damals regelmäßig spielten, hieß »Armata Rossa« (Rote Armee). Je älter wir wurden, desto mehr trat der Sport in den Hintergrund, während unsere »politische Mission« immer wichtiger wurde. Wir führten intensive Diskussionen über Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit, was notgedrungen auch dazu führte, dass ich nicht auf die Idee kam, meine im Vergleich zu den anderen privilegierte Situation zu vergessen. Auf dem Spielfeld aber war ich bestens integriert. Alles gelang mir leicht, viele sagten mir echtes Talent nach. Vielleicht hätte ich mich an einer Karriere als Profifußballer versuchen können, aber daran hatte ich kein Interesse.

Wie in vielen anderen Bereichen zeigte sich auch auf dem Fußballplatz, in den Wettkämpfen von zahllosen Kleinstvereinen, die damals allein in Kalabrien existierten, die gespaltene Seele der politischen Linken. Es gab die Sozialisten, es gab die Sympathisanten von »Lotta Continua«14 oder »Democrazia Proletaria«,15 zu denen auch ich gehörte, und schließlich gab es die Mitglieder der FGCI (Federazione giovanile del Partito Comunista), der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei. Ich selbst wollte keiner Partei angehören, und die endlosen Diskussionen darüber, welche Ideologie nun die bessere sei, der Marxismus, der Stalinismus oder der Leninismus, fand ich nutzlos und aufreibend.

Zu Hause waren mein Bruder und mein Vater beide Fans von Juventus Turin, nur ich konnte, vielleicht auch aus Trotz, diesem Verein nichts abgewinnen. Ich war der Ansicht, dass mein Vater immer auf der Seite des Stärkeren stand, während ich es von jeher eher mit den Schwächeren hielt. Trotzdem haben wir über das Thema Fußball nie gestritten: Es wäre mir dumm vorgekommen, wegen einer Fußballmannschaft Streit anzuzetteln.

Es gibt noch einen anderen Aspekt, der mir am Fußball immer gefallen hat: die Tatsache, dass er eine sehr menschliche Seite hat. Es gibt bei diesem Sport unendlich viele, kleine und große Geschichten, die meist von ganz normalen Menschen handeln, nicht nur von Champions und Supermännern. Besonders häufig sind die von Spielern, die sich durch ihre Kunst aus einem Leben in Not und Elend befreit haben, wie etwa auch ein damaliger Gefährte von mir, Trionfo, der aus sehr armen Verhältnissen kam und später in mehreren sizilianischen Mannschaften auf Profiniveau spielte. Ich hatte seinen Vater bei einer Studentendemonstration kennengelernt, die sich mit dem Protest der Waldarbeiter verband, und Trionfo kam sofort zu uns, als wir »Stella Rossa« gründeten. Obwohl er später im Profifußball spielte, ist ihm der Erfolg nie zu Kopf gestiegen.


Eine Geschichte, die mich ganz besonders beeindruckt hat, ist die des brasilianischen Fußballhelden Garrincha. Ein bedeutender Journalist, Gianni Minà, hat sie mir einmal erzählt, als ich ihn in seiner Wohnung in Rom besuchte, die mit den vielen Büchern und Fotografien, die ihn meist zusammen mit irgendwelchen legendären Persönlichkeiten bei der Arbeit zeigten, eh- er etwas von einem Museum hatte. Er hatte in seiner langen Karriere zahllose Regisseure, Schauspieler, Sportler und Diven interviewt, aber eben auch Mythen des Sports wie Diego Maradona und Muhammad Ali.

Er erzählte mir damals viele Geschichten über den brasilianischen Straßenfußball, aber die von Garrincha hat mich besonders berührt. Als Sohn eines Indios und einer Mulattin ist er in ärmsten Verhältnissen aufgewachsen, ein Kind der Straße, das sich durch seine Kunst ganz nach oben in den Fußballhimmel spielte. Er litt an schweren Knochenverformungen, vielleicht infolge einer Kinderlähmung, und mit einem Bein, das sechs Zentimeter kürzer als das andere war, hatte er einen ganz eigenwilligen Spielstil. Vielleicht war dieses Handicap sogar ein Grund, dass seine unmöglich zu stoppenden Dribblings zu seinem Markenzeichen wurden.

Garrinchas märchenhafte Karriere war jedoch auch begleitet von Eskapaden und Skandalen, und bald machte er nicht mehr nur durch sein Spiel von sich reden, sondern durch Alkoholexzesse, Affären, Depressionen und Gewalt gegenüber seiner Ehefrau. Am Ende landete er wieder dort, wo er hergekommen war: in bitterer Armut. Einst König des brasilianischen Fußballs und einer der größten Spieler aller Zeiten, fand er sich in den letzten Jahren seines Lebens um Almosen bettelnd vor dem Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro wieder.

Wenn man solche Geschichten hört, dann kommt es einem vor, als gäbe es in der Welt keinen Platz für Märchen. Als wäre die Wirklichkeit ein Ort, in dem Träume nicht dauerhaft wahr werden können. Garrincha war es zwar durch sein Talent gelungen, sich aus den engen Fesseln seiner Herkunft zu befreien. Doch als Mensch erwies er sich letztendlich als zu zerbrechlich, um dieses Glück auch zu halten.

Im Fußball gibt es viele solche Geschichten von unerwarteten Siegen und bitteren Niederlagen, genau wie im richtigen Leben.


Jedes Jahr, wenn die Schule wieder anfing, musste ich auf den Fußball verzichten. Von meinem kleinen Dorf im Landesinneren musste ich den Bus nehmen, um Training und Schule zu besuchen, und mich daher für das eine oder andere entscheiden. Es waren aber nicht nur praktische Gründe, die mich bewogen, meine Nagelschuhe irgendwann endgültig zur Seite zu räumen. Der Hauptgrund war vielmehr, dass mein politisches Engagement in jener Zeit immer stärker wurde und kaum mehr Raum ließ für Sport und Vergnügen.

CAPITOLO 5
Kalabrien: Land der Priester, Heiligen und Mafiosi


Wandbild in Riace, das symbolisch für die Mafiamorde steht

In Kalabrien gab es in der Zeit meiner frühen Jugend keine »Arbeiterfrage«, mit der wir unsere politischen Proteste befeuern konnten. Erst in den 1970er-Jahren entstand auch hier im tiefen, vergessenen Süden ein wirkliches Klassenbewusstsein. Vor allem jüngere Menschen, aber nicht nur, wurden sich immer klarer darüber, dass sie Teil einer gespaltenen Gesellschaft waren.

Da es in Süditalien kaum Fabriken gab, waren die »Proletarier«, auf die sich die Analyse hier zu richten hatte, vor allem die Landarbeiter und Kleinbauern, die auf den Feldern arbeiteten und für ein winziges Stückchen Land und ein Leben in Würde kämpften. Der Süden war traditionell vom Agrarkapitalismus dominiert, der in Gesellschaft und Kultur tief verwurzelten Latifundienwirtschaft,16 und nicht zuletzt auch von der Herrschaft der Mafia bzw. der spezifisch kalabrischen ’Ndrangheta,17 die vom Kleinbürgertum meist heimlich toleriert, wenn nicht sogar offen unterstützt wurde. Für die Sehnsucht nach einer gleichberechtigten Gesellschaft schien hier gar kein Platz zu sein, geschweige denn für die »Revolution des Proletariats«.

Ich habe immer gedacht, dass sich in einer Gesellschaft, in der die Menschen nicht gleich sind und Diskriminierung toleriert wird, um Privilegien zu erhalten, die Machtstellung der Herrschenden verfestigt. Wenn sich einige wenige jedoch auflehnen, kommt es nicht selten zur Rebellion. In unserer Region gibt es ein berühmtes Beispiel für eine solche Revolte, die ihren Ausgang in einer natürlichen Katastrophe nahm, der eine bürokratische folgte.


Corrado Stajano erzählt diese Geschichte in seinem 1977 erschienenen Buch »Africo«,18 einer hervorragenden Reportage für diejenigen, die das Süditalien der Nachkriegszeit besser verstehen wollen. Africo war ein armes, isoliertes Dorf im Aspromonte-Gebirge, bewohnt von Bauern und Schäfern, die ihr Leben ohne die Errungenschaften des modernen Lebens fristeten und weder fließendes Wasser noch elektrischen Strom hatten. Um in die »Zivilisation« zu gelangen, sprich die nächstgelegene Ortschaft Bova Marina, musste man einen Fußweg von 15 Kilometern durch unwegsames und abschüssiges Gelände zurücklegen, eine Entfernung, die auch symbolisch ist für die Distanz zwischen Africo und dem italienischen Staat. Immer wieder hatten Einwohner Alarm geschlagen, weil es weit und breit keine ärztliche Versorgung gab, mit oft tragischen Konsequenzen. Zu Beginn der 1950er-Jahre fanden eine hochschwangere Frau und ihr ungeborenes Kind auf dem Weg nach Bova Marina den Tod: Freunde und Verwandte hatten versucht, sie auf einer improvisierten Krankentrage zu einem Arzt zu bringen, doch die Frau starb nach wenigen Kilometern.

Was dann geschah, wird in Pietro Criacos Roman »Via dall’Aspromonte« (2017) erzählt, oder auch dessen Verfilmung »Aspromonte, la terra degli ultimi« von Mimmo Calopresti (2019). Die Einwohner Africos reagierten auf die Tragödie, indem sie den Staat und die mächtigen lokalen Mafiosi herausforderten und ihr Schicksal schließlich selbst in die Hand nahmen. Männer, Frauen und Kinder krempelten die Ärmel hoch und begannen, eine Straße zu bauen, die von Africo nach Bova Marina führten sollte. Doch ihr tapferes Werk wurde gnadenlos vernichtet, weil eine andere Macht dazwischenkam, mit der man in dieser schönen, aber verfluchten Gegend immer zu rechnen hat: die Natur. Zwischen dem 14. und dem 18. Oktober 1951 wurde das uralte Dorf im Aspromonte, dessen Ursprünge bis in die Zeit der Griechen zurückgehen, durch eine Überschwemmung völlig verwüstet.

In Africo gab es einen Priester namens Don Giovanni Stilo, der über große Macht verfügte und überall seine Finger im Spiel hatte. Als nach der Zerstörung des Dorfes beschlossen wurde, dass die Ruinen sich selbst überlassen und die Menschen zwangsumgesiedelt werden sollten, stellte er sich zunächst dagegen. Später jedoch änderte er seine Meinung und wurde zum glühendsten Befürworter und Sponsor der Initiative, ein neues Africo in der Ebene am Meer zu bauen. Ich war ihm gegenüber immer misstrauisch, denn es war bekannt, dass er der Mafia nahestand und enge Beziehungen zu großen Kalibern der Cosa Nostra und der lokalen ’Ndrine19 unterhielt. Er soll den Mafiaboss Luciano Liggio kurz vor seiner Verhaftung im Mai 1974 beherbergt haben und stand auch mit Totò Riina, einem der berühmtesten Mafiabosse aller Zeiten aus dem sizilianischen Corleone, in Kontakt.

Nach der Überschwemmung organisierte die Linke in Africo zahlreiche Proteste und Streiks, um eine Verbesserung der Lebensbedingungen für die Menschen zu erreichen. Auch hier war jedoch immer unklar, ob Verbindungen zur lokalen Mafia bestanden. Die Kämpfe der Genossen waren dieselben, die auch in anderen Gegenden im Gange waren, auch in Riace. Und doch schienen in Africo die Bestrebungen der Linken und der ’Ndrangheta gemeinsame Zielsetzungen zu haben, jedenfalls für den, der nicht aus der Gegend kam und keinen tieferen Einblick hatte.

Es hat eine lange Phase gegeben, in der in Kalabrien ebenso wie in anderen Gegenden Süditaliens der Staat oft eher als Gegner empfunden wurde, den es zu bekämpfen galt, statt als Verbündeten, der für seine Bürger da ist. Auch die außerparlamentarische oder revolutionäre Linke war dieser Ansicht. Bei vielen Themen kam es so ungewollt zu gemeinsamen Interessenlagen mit der ’Ndrangheta. In Africo, San Luca und anderen Orten, die als Herrschaftsgebiet der Mafia organisiert sind, ersetzt diese – auch heute noch – in mancherlei Hinsicht den Staat. Die Verflechtungen zwischen Mafia und Gesellschaft sind so dicht, dass Bürger, um Probleme ihres alltäglichen Lebens zu lösen, oft nicht einmal auf die Idee kommen, sich an die staatlichen Behörden zu wenden, sondern fast automatisch auf die organisierte Kriminalität zurückgreifen. Es war sehr schmerzhaft für mich, mir dieser Tatsache bewusst zu werden, denn ich hatte ursprünglich angenommen, dass die Mafia und unser Kampf für eine bessere Gesellschaft zwei Extreme wären, zwischen denen es keine Berührungspunkte geben kann.


Glücklicherweise gab es damals auch Menschen, deren Engagement über jeden Zweifel erhaben war, und die keine Kompromisse eingingen. Ausgerechnet in Don Stilos Diözese kam in den 1970er-Jahren ein neuer Pfarrer namens Natale Bianchi, der aus der lombardischen Provinz Varese stammte und gerade von einer Mission aus Thailand zurückgekehrt war. Noch ganz belebt von seinen Erfahrungen dort, merkte er sofort, dass das System, das Don Stilo errichtet hatte, mit den Werten des Christentums und dem Beispiel des Fleisch gewordenen Christus im Evangelium nicht zu vereinbaren war.

Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Priestern war ungewöhnlich hart. Ich war damals Student, und meine Kommilitonen und ich verbündeten uns sofort mit Natale Bianchi, weil wir in diesem jungen Priester, der so konsequent seinem Gewissen folgte, einen Fürsprecher für unseren Kampf für soziale Gerechtigkeit erkannten. Pater Bianchi nannte sich einen »Christen für den Sozialismus« und erzählte uns, dass Bischöfe in Lateinamerika eine Bewegung namens »Befreiungstheologie« gegründet hatten, die sich auf die Seite der Landlosen stellte und eine Agrarreform forderte. In Kalabrien konnte Natale Bianchi seine Position sehr schnell stärken, weil er die Kirche für das Volk öffnete. Ich erinnere mich an einen Satz, den er damals gesagt hat, und er bleibt bis heute eine Mahnung, auch angesichts der immer noch erschreckenden Macht der ’Ndrangheta: »Christus hat sich nicht um seine eigenen Angelegenheiten gekümmert, deshalb haben sie ihn ans Kreuz geschlagen.«

Dieses Motto lebte Natale Bianchi auch persönlich vor, denn er war ein Priester, der sich nicht in die Sakristei einschloss und sich auch nicht darauf beschränkte, stundenlang vor dem Altar zu knien und für die Rettung der armen Seelen zu beten. Ganz im Gegenteil, er machte die Türen seiner Pfarrei weit auf, und er kam sogar selbst heraus auf die Straße. In seinem Kampf für eine bessere Welt wandte er für einen Priester oft sehr unkonventionelle Methoden an. Nach dem Mafiamord an Rocco Gatto etwa war er die treibende Kraft, um eine Demonstration auf die Beine zu stellen.


Rocco Gatto wurde am 12. März 1977 ermordet, weil er beschlossen hatte, sich nicht zu beugen. Er war aktives Mitglied der Kommunistischen Partei und ein Mensch von großer Demut: Seit seiner Kindheit hatte er als Knecht für eine Mühle in Gioiosa Jonica gearbeitet. Nach und nach hatte er es unter schweren Opfern schließlich so weit gebracht, dass er sie kaufen konnte. Es war nicht leicht, ein kleiner Unternehmer in Kalabrien zu sein: Der Ursino-Clan kontrollierte das Territorium und verlangte von allen Geschäftsleuten Schutzgeld. Gatto weigerte sich jedoch zu zahlen und bot den Mafiosi die Stirn, die ihn wiederholt bedrohten und ihm das Leben unmöglich machten. Immer massiver wurden ihre Einschüchterungsversuche, bis sie schließlich darin kulminierten, dass man seine Mühle in Brand steckte. Rocco war ganz auf sich allein gestellt, ohne jede Unterstützung von Gemeinde und Staat.

Im November 1976 wurde der Chef des Ursino-Clans, Vincenzo Ursino, in einem bewaffneten Konflikt mit den Carabinieri erschossen. Der Clan erlegte allen Geschäftsleuten von Gioiosa Jonica eine Art Zwangstribut auf, zum Zeichen des »Respekts« für den Mafioso. Darüber hinaus sollte die ganze Stadt zu Ehren des Toten die Arbeit niederlegen. Rocco weigerte sich und arbeitete unverzagt weiter in seiner Mühle, wodurch er nochmals, allen Warnungen zum Trotz, seine Empörung und Entschlossenheit zum Ausdruck brachte. Er verstand nicht, was mit seinen Landsleuten los war, warum sie die Mafia unterstützten, die seit Jahrzehnten ihre Macht missbraucht und ihnen immer nur Tod und Verderben gebracht hatte. Rocco Gatto war jedoch der Einzige im Dorf, der die Autorität der Mafia nicht anerkannte, während sie den meisten anderen Menschen nach so vielen Jahren der Unterdrückung selbstverständlich schien.

Am Tag seines Todes packte er ein paar Mehlsäcke in seinen Lieferwagen und machte sich auf den Weg, um sie an seine Kunden auszuliefern. Auf der Staatsstraße in der Nähe von Gioiosa erwarteten ihn schon seine Mörder. Sein von Schüssen durchsiebter Körper landete in den Mehlsäcken, die die Frucht seiner Arbeit und Ehrenhaftigkeit waren, und befleckte sie mit Blut.

Natale Bianchi schaffte es, eine Demonstration zu organisieren, an der auch Bürger des »anderen« Gioiosa Jonica teilnahmen, jene nämlich, die so dachten wie Rocco Gatto und die nach dem Mord den Mut fanden, auf die Straße zu gehen. Vor allem aber bestand die Demonstration aus uns jungen Leuten von den linken Jugendvereinen sowie anderen politisch Engagierten aus den umliegenden Dörfern. Wir waren nicht viele, aber wir waren entschlossen, die Botschaft dieses bescheidenen Mannes weiterzutragen: Ein Mensch, dem seine Würde etwas bedeutet, beugt sich nicht vor denen, die den Tod verbreiten.

Drei Jahre später kam der italienische Präsident Sandro Pertini in die Locride, um Roccos Familie die Goldmedaille für zivile Tapferkeit zu verleihen. Dennoch ist ihm nie volle Gerechtigkeit widerfahren: Die mutmaßlichen Mörder konnte man zwar ermitteln, Mario Simonetta und Luigi Ursini vom Ursini-Clan, und sie wurden später wegen schwerer Erpressung zu sieben und zehn Jahren Haft und einer Geldstrafe von zwei Millionen Lire verurteilt. Von der Anklage des Mordes aber wurden sie aus Mangel an Beweisen freigesprochen.


Einer der Märtyrer im Kampf gegen die Mafia und eine zentrale Bezugsfigur für die kalabrische Linke war Peppe Valarioti. Er stammte aus einer einfachen Bauernfamilie in Rosarno, doch durch seine Zielstrebigkeit schaffte er es, zu studieren und Gymnasiallehrer zu werden. Er war hochgebildet und hatte eine große Leidenschaft für alte Geschichte, weshalb er oft bei archäologischen Ausgrabungen in der Region mitarbeitete. Und er war ein Freigeist, was in seinem Fall bedeutete, dass er eine Provokation für die ’Ndrangheta darstellte, die die Alleinherrschaft darüber haben wollte, in welche Richtung sich die süditalienische Gesellschaft entwickeln sollte.

Mitte der 1970er-Jahre wurde Valarioti Vorsitzender der Kommunistischen Partei PCI (Partito Comunista Italiano) und anschließend Stadtrat in Rosarno. Voller Tatkraft machte er sich daran, dem schlechten Ruf der örtlichen Politik zu begegnen, indem er sich für die Rechte der Landarbeiter und den Fortschritt von Freiheit und Gerechtigkeit einsetzte. Es war eine Zeit des starken Wandels für die Region: Man war gerade dabei, mit den Arbeiten für den Bau des Hafens von Gioia Tauro zu beginnen, der einer der größten und meistgenutzten Häfen Europas werden sollte. Auch die ’Ndrangheta wartete schon mit Spannung auf ihn, und bis heute ist er für den Drogenschmuggel von allerhöchster Bedeutung.

Der Kampf gegen die ’Ndrangheta war für den PCI von Rosarno eines der drängendsten Probleme, und an der Seite Valariotis kämpfte sein Freund und Namensvetter Peppino Lavorato. Im Mai 1980 konnten die beiden einen unerwarteten Wahlsieg feiern, denn eine beträchtliche Anzahl der Bürger von Rosarno schenkte der Kommunistischen Partei ihr Vertrauen und votierte damit gegen die althergebrachte Überzeugung, dass sich in dieser geschundenen Region nie etwas ändern würde. Der Wahlkampf war jedoch von einer langen Reihe von Einschüchterungsversuchen und Schikanen gegenüber den beiden Politikern begleitet, und man hatte unter anderem Lavoratos Auto und den Parteisitz des PCI in Brand gesteckt.

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