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Ein Räuspern. Er hatte sich gefasst. Eben noch mit zitterndem Kinn, nun wieder gerade und ohne zu blinzeln. Eine Zigarette zwischen den Lippen ging er hinter das Gebüsch. Ein Reißverschluss zurrte auf und wieder zu. Das Knacken von Ästen. Ich hatte zu viel gesehen. Noch bevor er zurückkam, war ich auf den Beinen und davongelaufen. Aus dem Park hinaus, über die Kreuzung, an Fujimotos Gemischtwarenhandlung vorbei. Nach Hause. In mein Zimmer. Das Einrasten des Schlosses. Ich war in Sicherheit. Staubiges Flirren, ich zog die Vorhänge zu.

Am nächsten Morgen schlief ich länger als sonst. Ich überhörte das Läuten des Weckers nebenan, blieb liegen, schlief wieder ein. Träumte von einem unsichtbaren Faden, der mir die Luft zum Atmen nahm. Japsend wachte ich schließlich auf. Nichts war geschehen. Mit diesem Satz, nichts war geschehen, und seinen Folgesätzen, nichts geschieht, nichts wird jemals geschehen, machte ich mich auf den Weg.

Als ich den Park betrat, saß er zusammengekrümmt über seiner Zeitung. Neben ihm die leere Bentō-Box. Er schnarchte. Die Giants und das Geheimnis ihres Erfolges, las ich, an ihm vorüberschleichend, auf seinen Knien. Die Krawatte hatte er aufgeknüpft. Sie baumelte lose um seinen Hals. Gekräuseltes Nackenhaar. Ich gab es auf. Und auch das war eine Entscheidung. Es aufzugeben und ihm, der da schnarchte, einen Namen zu geben. So weit war es gekommen, dass ich ihm einen Namen gab. Nicht Honda. Nicht Yamada. Nicht Kawaguchi. Ich nannte ihn einfach Krawatte. Der Name passte zu ihm. Rotgrau.

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Krawatte also.

Es ist die Krawatte, die Sie trägt, nicht umgekehrt. Später war das ein Scherz zwischen uns. Die Krawatte trägt Sie. Woraufhin er lächelte, dann lachte, in lautes Gebrüll losbrach. Du hast Recht. Es ist ein Irrtum, zu glauben, ich sei derjenige, der sie trägt. Ich trage nichts, gar nichts. Woraufhin er abrupt abbrach, dann schwieg, nur mehr schwieg. Hätte ich dieses Schweigen vorausgesehen, ich hätte ihm einen anderen Namen gegeben. Doch um seines Lachens willen, des Lachens, das seinem Schweigen voranging, hat es sich wohl gelohnt, ihn so zu nennen. Viel zu selten hat er gelacht.

Der Name verpflichtete mich ihm. Wie davor schon ein vages Mitgefühl, begann ich, eine vage Verantwortung zu empfinden. Bei ihm zu sein, ihn nicht alleine zu lassen. Grotesk das, Verantwortung für einen Menschen zu empfinden, von dem man nicht mehr nur sagen konnte: Ich erkenne ihn wieder. Sondern: Ich kenne ihn. Ich weiß, wie er atmet, wenn er schläft. Der Name verwickelte mich. Nicht länger fühlte ich die Freiheit, einfach aufzustehen und davonzugehen. Dass ein Name solch eine Macht besitzt.

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Ein halber Monat verging. Er erschien jeden Montag, Punkt neun, jeden Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag. Nur an den Wochenenden blieb er aus. Er fehlte mir dann. Ich hatte mich so weit an seine Anwesenheit gewöhnt, dass mir der Park in seiner Abwesenheit, meine eigene Anwesenheit darin irgendwie sinnlos vorkam. Ohne ihn, der mir Fragen aufgab, war ich ein Fragezeichen, das keinen Zweck erfüllt. Auf einem weißen Blatt Papier steht es da und fragt ins Leere hinein.

Einmal, im Juni, es war ein wolkenschwerer Freitag, war er gerade dabei einzunicken, als es zu nieseln anfing. Er schreckte hoch, stülpte sich die Zeitung über den Kopf, während ich, vorsorglicher Freigänger, meinen Schirm aufspannte, die Beine einzog, mich ganz unter das schützende Dach kauerte. Erst tröpfelte es, aus Tropfen wurden bald Schnüre. Er streckte die Hände in den Regen, ließ die Zeitung fallen, schloss die Augen. Ich beobachtete, wie sich das Wasser in seinen Händen sammelte. Er hatte sie zu einem Becher geformt. Plitsch-platsch, es sprenkelte ihn an. Ich war überrascht. Kein Salaryman setzt sich gerne dem Regen aus. Ringsherum war der Park undeutlich verwaschen. Fliehende Leute überall. Kein Mensch, der gesund ist, setzt sich gerne dem Regen aus. Ganz und gar hingegeben, schien er, schon nass bis auf die Knochen, kein größeres Glück zu kennen als derart nass zu werden. Ich starrte gebannt auf sein glückliches Gesicht. Er öffnete die Augen. Blickte mich, unvermutet, durch den Regen hindurch an. Ich sprang auf. Damit hatte ich nicht gerechnet. Nicht mit diesem unvermuteten Blick, der um mich wusste. Ich bin nicht allein, stand darin, du bist da. Dann schloss er erneut die Augen.

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Ich war aus meiner Unbemerktheit gefallen, aus meinem Gehäuse. Aber das stimmt so nicht. Sein Blick und die Anerkennung, die mir daraus entgegengeleuchtet war, hatten lediglich den Raum um mich herum ein wenig gelichtet. Morgens nickte er mir zu. Ich nickte zurück. Abends hob er die Hand, wenn er ging. Ich hob die meine. Ein stummes Einverständnis. Du bist da. Ich bin da. Wir haben beide das Recht, einfach nur da zu sein.

Was sich zwischen uns verändert hatte, war bloß eines. Ich ahnte es. Dass ich jetzt, da er mich bemerkt hatte, ein Bild in ihm geworden war. Er hatte jetzt eine Vorstellung von mir, und seine tägliche Begrüßung galt dem Bild, das er sich von mir gemacht hatte. Er besah es sich. Ruhig. Sein Schauen war nicht aufdringlich. Ich wurde aufgenommen in seine Erinnerungen. Er erinnerte sich an einen Tag am Meer, feinkörniger Sand, struppiges Dünengras, er erinnerte sich an den Bart seines Vaters, harte Stoppel am Kinn, an ein bestimmtes Licht, wie es an einem Morgen im Spätherbst über den Rücken seiner Frau hinfiel, an ein Lächeln im Schaufenster, zufällig, das warme Fell einer Katze, die sich an ihn schmiegte. Er hatte tausend Erinnerungen, tausend Bilder, und ich war jetzt, da er mich bemerkt hatte, eines davon.

Ich ließ es zu. Ich bot ihm mein Profil, hielt still, damit er es in sich aufnehmen konnte. Schaute selbst auch zu ihm hin. Nahm ihn weiter in mich auf. So wurde aus unserer minimalsten Bekanntschaft eine minimale Freundschaft.

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Miteinander zu sprechen wäre zu diesem Zeitpunkt noch eine Übertretung gewesen. Da war eine Grenze, der Kiesweg. Hier meine, dort seine Bank. Dazwischen Grashalme, ein rollender Ball, ein Kind, das hinterherpurzelte.

Zwei Jahre lang hatte ich mich darin geübt, das Sprechen zu verlernen. Zugegeben, es war mir nicht gelungen. Die Sprache, die ich gelernt hatte, durchdrang mich, und sogar, wenn ich schwieg, war mein Schweigen beredt. Ich sprach innere Monologe, sprach unentwegt in die Sprachlosigkeit hinein. Der Klang meiner Stimme jedoch hatte sich in mir verfremdet. Nachts wachte ich zuweilen schweißgebadet aus einem Albtraum auf, nur um ihn fortgesetzt zu finden in dem rohen Aaah, das aus meinem Bauch, meinen Lungen, meiner Kehle drang. Wer ist das, der da schreit, fragte ich mich und schlief wieder ein. Wanderte durch eine Landschaft, in der jeder Laut im Moment seines Entstehens verhallte. Der letzte Satz, den ich ausgesprochen hatte, war gewesen: Ich kann nicht mehr. Punkt. Ein vibrierender Punkt. Danach war etwas zugeschnappt. Die Anstrengung, die es kosten würde, dort weiterzusprechen, wo ich aufgehört hatte, stand gegen die Sinnlosigkeit, in Worte zu fassen, was sich nicht ausdrücken ließ.

Mein Zimmer glich nach wie vor einer Höhle. Hier war ich groß geworden. Hier hatte ich im eigentlichsten Sinne meine Unschuld verloren. Ich meine, groß zu werden bedeutet einen Verlust. Man glaubt zu gewinnen. In Wahrheit verliert man sich. Ich trauerte um das Kind, das ich einmal gewesen war und das ich in raren Momenten in meinem Herzen wild um sich schlagen hörte. Mit dreizehn war es zu spät gewesen. Mit vierzehn. Mit fünfzehn. Die Pubertät ein Kampf, an dessen Ende ich mich verloren hatte. Ich hasste mein Antlitz im Spiegel, das Sprießende, Treibende darin. Die Narben an meiner Hand stammen alle von dem Versuch, es wiedergutzumachen. Unzählige Spiegel, zerschlagen. Ich wollte kein Mann sein, der glaubt, er gewinnt. In keinen Anzug hineinwachsen. Kein Vater sein, der seinem Sohn sagt: Man muss funktionieren. Vaters Stimme. Mechanisch. Er funktionierte. Wenn ich ihn ansah, sah ich eine Zukunft, in der ich langsam, zu langsam ums Leben kommen würde. Nichts funktioniert, hatte ich zurückgegeben. Und dann: Ich kann nicht mehr. Dieser letzte Satz war mein Leitspruch. Das Motto, das mich überschrieb.

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Derart überschrieben saß ich auf meiner Bank, als er wieder einmal, Punkt neun, plötzlich aufgetaucht war. Es war ein Donnerstag, ich erinnere mich: Er kam, gebeugt wie unter einer schweren Last. Ich bildete mir ein, er sei über Nacht gealtert. Die Falten an seinem Hals, als er mir zunickte. Da bist du ja. Ich nickte zurück. Und mehr noch als das: Ich nickte eine Einladung. Mir selber unbegreiflich, nickte ich ihm, der gealtert war, zu und nickte selbst dann noch, als er mir entgegenkam, zögernd, über die Grenze hinweg, und mir eine Zigarette anbot.

Ōhara Tetsu. Er verbeugte sich leicht. Hajimemashite.* Du rauchst nicht? Ist gut. Fang besser gar nicht damit an. Es ist eine Abhängigkeit. Siehst du, ich brauche das. Er setzte sich neben mich, zwischen uns seine Aktentasche. Das Klicken des Feuerzeugs, er paffte. Eins dieser Dinge, sagte er, die ich nicht lassen kann. Wieder nickte ich. Ich habe alles probiert. Umsonst. Ich komme nicht los davon. Mir fehlt der Wille. Sicher kennst du das. Belegte Stimme, er hüstelte. In der Firma, sagte er weiter, rauchen alle. Es ist der Stress, der nie aufhört. In der Firma. Er bückte sich, drückte die Zigarette aus. Den Rest des Morgens verbrachten wir schweigend auf unserer Bank. Mit einem Nicken war sie zu unserer geworden.

Hin und wieder kam jemand vorbei. Eine Mutter, die einen Kinderwagen schob. Ein hinkender Mann. Ein Grüppchen Schulschwänzer in zerknitterten Uniformen. Die Erde drehte sich. Auffliegende Vögel. Ein Schmetterling, der sich für Sekunden auf der Bank gegenüber niederließ. Nebeneinander sitzend, schauten wir ihm nach, wie er davonschwebte. Leise Ahnung, dass es von nun an kein Zurück mehr gäbe.

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Von Kyōko, sagte er, als er zu Mittag sein Bentō auspackte. Karaage* mit Kartoffelsalat. Von meiner Frau. Sie ist eine wunderbare Köchin. Magst du? Nein? Er lächelte verlegen. Du musst wissen, sie steht jeden Morgen um sechs Uhr auf, um mir mein Bentō zuzubereiten. Dreiunddreißig Jahre lang. Jeden Morgen um sechs. Und das Beste daran: Es schmeckt! Er rieb sich den Bauch. Fast zu gut, stockend, für einen wie mich. Aber, nicht wahr, ich habe Glück! Mit diesen Worten wandte er sich seinem Essen zu.

Vor meinem inneren Auge sah ich Kyōko, seine Frau, im Nachthemd in der Küche stehen. Zischendes Öl. Ein Klecks Marinade an ihrem Ärmel. Sie hackt und rührt. Schält. Schneidet. Salzt. Das ganze Haus ist erfüllt von den Geräuschen des Hackens und Rührens. Des Schälens. Schneidens. Salzens. Er wacht auf. Noch halb im Schlaf, denkt er: Ich habe Glück. Er denkt es mit einer in ihrer Unermesslichkeit kaum erträglichen Traurigkeit: Ich habe verdammt großes Glück. Er steht auf. Geht ins Badezimmer. Beugt sich über das Waschbecken und dreht kaltes, sehr kaltes Wasser auf. Hält das Gesicht hinein, die Haare, den Nacken. Dreht weiter. Taucht auf. Und wieder unter. Bleibt untergetaucht. Dreht zu. Bleibt unten. Hört das Glucksen im Abfluss. Dreht auf. Zu. Auf. Zu. Sieht, wie das Wasser sich in Tropfen, die Tropfen sich in Tröpfchen teilen. Ein Klecks Zahnpasta am Beckenrand. Weiß auf Weiß. Er greift mit dem Finger hinein und –

– Kyōko weiß es nicht. Ein leichtes Aufstoßen. Er sprach wie zu sich selbst: Kyōko weiß nicht, dass ich hierher komme. Ich habe es ihr nicht gesagt. Gedehnte Silben: Ich ha-be ihr nicht ge-sagt, dass ich mei-ne Ar-beit ver-lo-ren ha-be.

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Die Pause danach. Ich war zum Mitwisser geworden. Eben erst ausgesprochen, hatte uns sein Geheimnis zu Verbündeten gemacht. Es war das Gewicht in meinen Füßen, die Unmöglichkeit, endgültig, auf und davonzugehen. Er hatte sich mir anvertraut, allein mir. Ich schaute auf die Schuhe, die mich drückten. Ausgebeult und abgegangen. Einen halben Meter vor sich stellte er die Fersen auf. Schwarzes Leder, glattpoliert. Vaters Schuhe, schoss es mir durch den Kopf. Ob wohl auch er manchmal Sehnsucht danach hat, sich jemandem anzuvertrauen? Mit einiger Bitterkeit bemerkte ich: Ich wusste weniger über ihn als über den, dessen Namen ich vor knapp drei Stunden erst erfahren hatte. Ein Grund mehr, neben ihm sitzen zu bleiben und ihm erneut, über seine Aktentasche hinweg, zuzunicken.

Schon komisch. Er nahm den Faden wieder auf. Es ist nicht so, dass ich es Kyōko nicht sagen wollte. Nein, ich wollte es. Aber dann. Ich brachte es nicht übers Herz. Irgendetwas hielt mich zurück. Vielleicht die Gewohnheit. Grauer Rauch aus seinem Mund. Die Gewohnheit, in der Früh aufzustehen und mir das Gesicht zu waschen. Sie bindet mir die Krawatte. Im Hinausgehen rufe ich: Einen schönen Tag. Sie ruft: Dir auch. Sie winkt mir nach. Bei der ersten Wegbiegung drehe ich mich noch einmal nach ihr um. Ihre Gestalt vor dem Haus. Wie eine wehende Fahne. Ich könnte zurücklaufen. Aber da kommt schon der Bus. Ich steige ein. Es geht zum Bahnhof. In den Schnellzug. Nach A. In die U-Bahn. Nach O. Auf eine Art, er lachte, geht es. Nicht ich. Er lachte noch immer. Es geht.

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Und du? Was treibt dich her? Ich zuckte mit den Schultern. Keine Ahnung? Hm, du bist ja noch jung. Achtzehn? Ich fror ein. Neunzehn? Zwanzig? Unglaublich, so jung. Alles vor sich zu haben. Nichts hinter sich. Er seufzte. Unglaublich, selbst einmal so jung gewesen zu sein. Dabei. Was heißt das schon? Ich meine, es gibt für jeden nur ein Alter. Ich war und bin, werde immer achtundfünfzig sein. Du aber. Pass auf, welches Alter du dir aussuchst. Es klebt an einem. Es klebt einen zu. Das Alter, das du dir aussuchst, ist wie Klebstoff, der sich um dich herum verhärtet. Diese Weisheit stammt allerdings nicht von mir. Ich habe sie aus einem Buch. Einem Film. Ich weiß es nicht mehr. Man merkt sich Sachen. Unglaublich. Man merkt sich ein Leben lang Sachen.

Während er in der Zeitung las, dachte ich darüber nach, was er gesagt hatte. Doch je mehr ich darüber nachdachte, entglitt mir das Was und stattdessen war es das Wie, das mich gefangen nahm. Der verbrauchte Tonfall, mit dem er den Wörtern einen herben Geschmack beigegeben hatte. Ob jung oder unglaublich, beides hatte so, wie er es gesagt hatte, eine würzig schwere Note bekommen und beides war so, wie ich es gehört hatte, ein und dasselbe Wort gewesen. So spricht man, dachte ich, wenn man sehr lange geschwiegen hat. Alle Wörter sind einem dann gleich und man kann kaum verstehen, was das eine vom anderen trennt. Ob Klebstoff oder Leben, es machte keinen allzu großen Unterschied.

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Sein Schlaf kam jäh. Auf Seite zwei des Sportteils hatte er ihn erwischt. Die Lehne im Rücken war er mit gesenktem Kopf eingedöst. Seine Handflächen offen über dem Mannschaftsbild der Giants. Ein Netz aus Linien. Die des Herzens durchkreuzt. Schmierige Druckerschwärze am rechten Zeigefinger. Wieder glich er einem Kind. Harmlos. In seiner Harmlosigkeit unbeschützt. Und wieder spürte ich den Wunsch, ihn zuzudecken, diesen natürlichen Wunsch, ihn, wie auch immer, vor einem Unheil zu bewahren.

Als er erwachte, war es schon halb sechs vorbei. Gähnend streckte er sich und wischte sich den Sand aus den Augen. Ein paar Minuten noch, sagte er zwinkernd, dann geht der Tag zu Ende. Keine Überstunden heute. Er faltete die Zeitung zusammen. Das Schönste am Arbeiten ist das Nachhausekommen. Mein erster Satz, wenn ich, durch die Tür herein, im Eingang stehe. Es riecht nach Knoblauch und Ingwer. Frisch gedünstetem Gemüse. Ich stehe im Eingang, sauge diesen Geruch in mich ein und sage: Das Schönste am Arbeiten ist das Nachhausekommen. Kyōko schimpft mich einen Dummkopf dafür. Aus ihrem Mund klingt es wie das zärtlichste Du. Ganz ohne Beleidigung. Verstehst du? Sie könnte mich weitaus Schlimmeres nennen. Einen Lügner, einen Betrüger. Und trotzdem wäre darin, ich hoffe es inständig, dieselbe Zärtlichkeit, mit der sie mich einen Dummkopf schimpft. Obwohl. Ich will es lieber nicht wissen. Solange noch Hoffnung ist, will ich nicht wissen, wie es wäre, wenn ich ihr die Wahrheit sagte. Und wozu überhaupt? Sie hat Besseres, sehr viel Besseres als die Wahrheit verdient.

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Fünf vor sechs. Er zupfte sich die Krawatte zurecht. Nicht zu hastig. Eher, als ob er sich zurückhalten müsste. Ein gezäumtes Pferd, das sich selbst am Riemen reißt. Immer wieder schüttelte er seinen Arm in die Höhe, schob den Hemdsärmel beiseite, schaute auf die Uhr. Ich gehe jetzt. Drei vor sechs. Nein, ein bisschen noch. Zwei vor sechs. Nun aber wirklich. Eins vor sechs. Also dann. Bis morgen? Ich nickte. Er sagte leise, fast nicht hörbar: Ich danke dir. Ein letzter Blick auf das Handgelenk. Punkt sechs. Mit einem Ruck hatte er sich erhoben. Ich tat es ihm nach. Wir standen Aug in Aug, gleich groß. Auf Wiedersehen. Meine Stimme. Nach zwei Jahren des Schweigens war sie von gläserner Durchsichtigkeit. Auf Wiedersehen. Das war es. Ein krispes Aufeinandertreffen von Konsonanten und Vokalen. Noch einmal verstummte ich. Danach brach es aus mir heraus: Mein Name ist Taguchi Hiro. Ich bin zwanzig Jahre alt. Zwanzig ist das Alter, das ich mir ausgesucht habe. Ich verbeugte mich, linkisch, blieb in der Verbeugung, bis er gegangen war. Sonderbare Genugtuung: Ich kann das noch. Mich jemandem vorstellen. Ich habe es nicht verlernt. Auch wenn mir mein Name auf der Zunge zerkrümeln mag.

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Während ich nach Hause ging, spann ich seine Geschichte weiter. Vielleicht hatte es gereicht, dass er sich mir anvertraut hatte, und er würde an diesem Abend noch heimkehren und sich aussprechen. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht würde er es so lange hinausschieben, bis die letzten Ersparnisse aufgebraucht wären. Und vielleicht war es gerade das, worauf er wartete: Dass Kyōko dahinterkäme. Dass sie eines Tages aufwachte, mit dem mulmigen Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Sie würde Nachforschungen anstellen, ihm auf die Schliche kommen, ihn zur Rede stellen. Und vielleicht waren wir uns eben darin ähnlich. Wir sahen beide dabei zu, wie uns alles entglitt, und fühlten beide eine heimliche Erleichterung darüber, nicht in der Lage zu sein, die Dinge geradezubiegen. Vielleicht war das der Grund, warum wir aufeinandergetroffen waren. Um gleichzeitig und unabweisbar festzustellen: Dass es uns nicht möglich ist, nicht von hier, nicht von jetzt aus, das, was geschehen ist, rückgängig zu machen. Und vielleicht war deshalb seine Geschichte auch die meine. Sie handelte von dem, was er unterlassen hatte und was demnach nicht rückgängig zu machen war.

So viele Menschen, die nach Hause gingen. So viele Schuhe im Gleichschritt, ich kam aus dem Takt. Dort vorne, unter der Straßenlaterne, sah ich Vater, wie er an einem blühenden Strauch vorbei, den Blick stur zu Boden, von der Arbeit kam. Er sah mich nicht. Ich hatte mich rechtzeitig hinter einem Getränkeautomaten versteckt. Ich wollte uns, ihm und mir, die Peinlichkeit ersparen, uns auf offener Straße zu begegnen und nichts zu sagen zu wissen. Erst als er um die Ecke gebogen war, tat es mir leid, ihm nicht wenigstens einen Guten Abend gewünscht zu haben.

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Ein herrlicher Tag, was? Wenn der Himmel so blau ist, würde man am liebsten ans Meer hinausfahren. Schade eigentlich. Er sah kopfschüttelnd an sich herunter. Da habe ich frei und bin es doch nicht. Aber morgen ist auch noch ein Tag. Er setzte sich. Seufzte. Taguchi Hiro also. Ich dachte ja schon, du seist stumm und irgendwie, ich gebe es zu, wäre mir das sogar recht gewesen. Natürlich nicht wirklich, wenn du verstehst. Er kratzte sich am Kinn. Vor dem Grün der Bäume hinter ihm warf eine Läuferin die Arme in die Luft. Sie trabte weiter, rotes Stirnband. Von der Straße kam leises Gehupe. Das Geräusch von Autos, an- und abschwellend. Es verfing sich in den Büschen ringsherum, blieb außerhalb des innersten Kreises, der uns umschloss.

Er fuhr unvermittelt fort. Irgendwie wäre es mir recht, wenn Kyōko wüsste, dass ich hierher komme. Sie tröstet mich, die Vorstellung, sie wüsste, instinktiv, aus ihrem Bauch heraus, wäre, weil sie es wüsste, meine Komplizin, machte mir zuliebe mit. Erbärmlich, nicht wahr? Die Vorstellung, sie würde aus freien Stücken mitmachen. Heute früh, als sie mir die Krawatte band, sagte sie, und sie sagte es ernst: Wenn man nur verrückt genug wäre, alles anders zu machen. Einmal auszubrechen, sagte sie und holte kurz Luft. Das wäre der Moment gewesen, ihr zu gestehen, dass ich längst draußen bin. Aber da hatte sie die Krawatte schon fertiggebunden und was blieb, war alleine die Scham. Ich schäme mich meiner Scham. Wie viel Kraft ich dafür aufwende, sie vor mir selbst und Kyōko zu verbergen. Denn es ist doch so: Ich habe nicht nur meine Arbeit verloren. Der Verlust, der am schwersten wiegt, ist der der Selbstachtung. Mit ihm fängt aller Niedergang erst an. Wenn man am Ende eines überfüllten Bahnsteigs steht, die Lichter des herannahenden Zuges sieht und sich dabei ertappt, den einen Augenblick zu berechnen, in dem ein Sprung auf die Gleise den sicheren Tod bedeuten würde. Man tritt einen Schritt nach vorn. Man spürt jetzt! jetzt! jetzt! und dann: Nichts! So ein dunkles Nichts! Nicht einmal dafür taugt man noch. Der Zug fährt ein. Er ist voller Menschen. Man spiegelt sich in den Fenstern, die an einem vorübergleiten, und erkennt sein eigenes Gesicht nicht mehr.

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