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Читать книгу: «Rulantica (Bd. 1)», страница 3

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Mats

»Ey, Mats, aufstehen!«

Die Tür zu Mats’ Zimmer fliegt auf. Sein Zimmernachbar trommelt mit den Fingern gegen den Türrahmen und macht dabei ein komisches Kratzgeräusch mit den Fingernägeln, als wollte er Mats mit Absicht in den Wahnsinn treiben.

»Lass mich in Frieden!«, murrt Mats und zieht sich trotz Sommerhitze die Decke über den Kopf.

»Geht nicht, Carla hat gesagt, ich soll dich um jeden Preis aus dem Bett schmeißen«, trompetet Rayk.

Mats stöhnt innerlich. Nie hat man hier im Kinderheim »Tre Bjørker«, was so viel wie »Drei Birken« heißt, seine Ruhe, ständig platzt einer rein und will irgendwas. Absperren kann er sein kleines, spärlich eingerichtetes Zimmer leider auch nicht. Dabei hat er noch Glück, wenigstens ein Einzelzimmer zu haben. Rayk muss seines mit Jannik teilen, Sven mit Bjarne und York mit Tom-Ole. Doch selbst Carla und Ignatz, seine Heimeltern, haben erkannt, dass er sich lieber zurückzieht, statt ständig mitten im Chaos zu sein. Für Chaos und Lärm sind die Jungs der »Wikingergruppe« nämlich Experten. Ignatz lässt ihnen einiges durchgehen, aber wenn Carla eine Ansage macht, dann hält man sich besser daran, sonst gibt es Ärger und zusätzlichen Küchendienst.

Das weiß Rayk und das weiß auch Mats, deshalb richtet er sich auf und schwingt die Beine aus dem Bett. »Na gut, ich bin gleich da!«

Rayk grinst schief. »Du hast zwei Minuten, sonst komme ich mit einem Eimer Wasser wieder!«

Bloß nicht Wasser!, denkt Mats, weil genau das der Grund ist, warum er heute besonders ungerne aus den Federn will. Es verspricht nämlich, ein extrem mieser Tag zu werden. Einer, den er seit haargenau einer Woche lieber aus dem Kalender streichen würde. Seit seine Sportlehrerin Frau Grenlind gedroht hat, ihn durchfallen zu lassen, wenn er heute nicht zu ihrem Unterricht erscheint. Das ganze bisherige Schuljahr hat er sich erfolgreich davor gedrückt. Ansonsten geht er ganz gerne zur Schule, auch gegen Sport hat er eigentlich nichts einzuwenden. Aber Schwimmunterricht? Für Rayk und Tom-Ole, die in dieselbe Klasse gehen wie er, und für seine restlichen Mitschüler ist es ein riesiger Spaß, das beste Unterrichtsfach von allen – für Mats ist es der blanke Horror. Seit er sich erinnern kann, hat er Albträume vom Wasser. Nicht vor dem, das man trinkt, oder vorm Duschen, sondern vor dem Meer. Es lauert ihm auf, wartet bloß darauf, dass er sich in seine Nähe wagt, um ihn in die Tiefe zu ziehen und zu ertränken. Deshalb hat Mats tausend Wege gefunden, um nicht direkt am Meer oder Strand vorbeizulaufen. Das ist in einer Stadt, die an drei Seiten vom Ozean umgeben ist, gar nicht leicht, sogar das Schulschwimmen findet hier nicht in einer Halle, sondern im Strandbad statt, und im Sommer verbringen so gut wie alle ihre Freizeit am und im Meer. Nicht nur deswegen fühlt Mats sich als Außenseiter, aber er kann nicht dagegen an. Er hat es probiert, immer wieder. Manchmal beobachtet er das Meer aus gebührender Entfernung von oben aus seinem geheimen Felsenversteck, nur um zu testen, ob es ihm noch Angst einjagt. Das Ergebnis ist immer dasselbe: Schweißausbrüche, Schnappatmung und zitternde Knie. Gesagt hat er das bisher niemandem, besser, sie halten ihn für einen Einzelgänger als für einen Spinner. Einer, der sich nicht ins Wasser traut, kann hier in Drei Birken einpacken, der wird den Spott und das Gelächter nie wieder los. Wenn er wenigstens Eltern hätte, richtige Eltern, die nur für ihn da sind und ihm zuhören. Nicht wie Carla und Ignatz, die ihre Aufmerksamkeit auf alle verteilen müssen und eigentlich immer fair, aber auch immer neutral bleiben. Wie es tatsächlich mit echten Eltern wäre, kann Mats sich bloß ausmalen – kennengelernt hat er seine Mutter und seinen Vater nämlich nie. Er wurde als Baby am Strand gefunden. Ob das etwas mit seiner Angst vorm Meer zu tun hat? Das kann ihm niemand sagen, auch in seinen Albträumen hat er darauf bisher keine Antwort gefunden. Es gibt also keinen Ausweg, heute muss er in Frau Grenlinds Schwimmunterricht …

»MATS!«, brüllt Rayk. »Ich hole jetzt den Eimer!«


GROTTENARREST


Skyrn, der Lehrer für Wassermagie, beweist einmal mehr, dass ihm für Zuspätkommen jegliches Verständnis fehlt. Als Aquina versucht, sich heimlich von hinten auf die Korallenbank zu mogeln, fährt er herum.

»Euer Hochwohlgeboren Prinzessin Aquina gibt uns höchstselbst die Ehre. Wie ausgesprochen reizend von ihr!« Mit einer einzigen zackigen Bewegung seines Fischschwanzes, auf dem die gelben Streifen wie Blitze am schwarzen Nachthimmel wirken, ist er bei ihr und deutet eine Verbeugung an, die so gar nichts mit einer unterwürfigen Geste zu tun hat. »Dürften wir alle erfahren, was dich bisher davon abgehalten hat, an unserer kleinen, unbedeutenden Veranstaltung teilzunehmen? Wichtige Regierungsgeschäfte nehme ich an?«

Aquina senkt den Kopf und schüttelt ihn wortlos.

»Nicht?«, fährt Skyrn spitz fort. »Es ist doch nicht etwa deine liebe Mutter erkrankt und bedurfte deiner Pflege?«

Aquina schüttelt erneut den Kopf.

»Auch nicht? Würdest du mir dann freundlicherweise verraten, wieso du erst kurz vor Ende des Unterrichts erscheinst?« Jetzt ist die Verachtung in seiner Stimme unverhohlen. »Oder beherrschst du den Wasserwirbel inzwischen und glaubst, dir deshalb weitere Anleitung sparen zu können? Das wollen wir doch sehr gerne sehen!«

Aquina regt sich nicht, obwohl sie genau weiß, dass sie dieser Vorführung nicht entgehen wird.

»Bitte schön, Aquina! Wir sind alle gespannt.«

Was soll’s, dann wird sie es eben versuchen. Sie strafft den Rücken, bevor sie sich erhebt. Vorhin hat es auch geklappt, immerhin ein bisschen. Vielleicht lässt Skyrn sie danach in Ruhe. Sie streckt den Zeigefinger aus. »Va…a…t galdu…r…ch.«

Nur ein kratziges Flüstern kommt aus ihrer Kehle. Das Wasser um Aquinas Finger bleibt, wie es ist, nicht einmal der Mückentanz, den sie Snorri gezeigt hat, findet statt.

Skyrn zieht spöttisch eine Augenbraue nach oben. »Nicht schlechter, als ich es erwartet habe.« Sein Finger schnellt auf Aquina zu, augenblicklich fängt das Wasser um sie herum zu wirbeln an, ihre weißblonden langen Haare wickeln sich um ihren Kopf wie ein dichtes Netz, sie versucht, es mit den Händen zu bändigen, kommt aber gegen die Strömung nicht an. Sie verliert komplett den Halt und dreht sich immer schneller um die eigene Achse. So muss sich ein Sandkorn fühlen, das vom Meeresboden aufgewühlt durch das Wasser fliegt, ohne beeinflussen zu können, wohin es treibt. Jade, Orchid, Larima, Ruby und alle anderen Schüler auf der Korallenbank sausen wie bruchstückhafte Schemen an Aquina vorbei. Sie richtet den Blick nach unten, bemüht sich, mit ihrem Fischschwanz gegenzusteuern, um sich nicht auch noch zu überschlagen. Jetzt werden aus den Gesichtern Farben. Die Farben ihrer Schwanzschuppen drehen und vermischen sich, aus Blau wird Silber, aus Silber wird Türkis, immer schneller, immer verschwommener. Aquina gibt auf, es hat überhaupt keinen Sinn, sich dagegenzustemmen. Entfernt dringt eine Stimme an ihr Ohr, die an Manati erinnert.

»Skyrn, bei allen Göttern! Was treibst du da? Du kannst doch nicht den magischen Wasserwirbel an Schülern testen!«

Skyrn lacht höhnisch. »Gibt es eine bessere Methode, gleichzeitig Wirkung und Pünktlichkeit zu lehren?«

»Ich kenne die Probleme«, entgegnet Manati. »Trotzdem geht das zu weit. Und sie ist immerhin Kailanis Tochter!«

Widerwillig senkt Skyrn den Finger. »Das sollte ein zusätzlicher Ansporn und keine Ausrede sein!«

Der Strudel legt sich und hinterlässt eine blasse Aquina, die es nicht wagt, etwas zu sagen. Ein peinliches Ereignis am Tag ist schon schlimm genug, aber gleich zwei, das nagt an ihr. Am schlimmsten ist, dass nicht nur Jade mitleidig guckt, sondern sogar Larima! Sie könnte Skyrn erwürgen und würde sich selbst am liebsten in einer Muschel verkriechen, wo niemand sie sieht und sie niemanden sehen muss. Wenigstens beinahe geht dieser Wunsch in Erfüllung.

»Ihr könnt jetzt gehen«, meint Skyrn. »Morgen sind hoffentlich alle auf die Lektion Wasserklinge vorbereitet …« Ein Seitenblick zu Aquina. »… und pünktlich anwesend!«

So schnell sie kann, paddelt Aquina los, aber nicht schnell genug.

»Das war echt fies!«, sagt Jade und schließt zu ihr auf.

»Oberfies!«, bekräftigt Ruby und schlägt entrüstet ihren feuerroten Schwanz ins Wasser, während sie die runden Wangen aufbläst. So sieht sie fast aus wie ein Kugelfisch.

»Das kann er doch nicht bringen, ausgerechnet bei dir!«, empört sich Orchid und sein eigentlich weißer Fischschwanz leuchtet gelb auf vor Wut.

»Hätte er lieber einen von euch verzaubern sollen?«, fragt Aquina matt. »Das wäre doch genauso fies gewesen! Ihr wart immerhin pünktlich.«

»Na, hör mal, deine Mutter ist unsere Königin!«

»Meine Mutter ist keine Königin, sondern bloß unsere Anführerin«, korrigiert Aquina.

»Das ist doch dasselbe«, meint Jade.

»Ist es nicht! Sonst wäre ich nämlich eine Prinzessin und dürfte wahrscheinlich noch weniger als jetzt«, seufzt Aquina.

»Trotzdem ist sie eine der Unsterblichen, ihr hat Frigg die Prophezeiung hinterlassen. Das kann Skyrn doch nicht einfach ignorieren!«, schimpft Jade weiter.

Sie merken nicht, dass sie Aquina damit noch mehr zusetzen, als Skyrn es mit seinem magischen Wasserwirbel getan hat. So lieb ihre Freunde es auch meinen, aber sie verstehen einfach nicht, wie es ist, immer bloß die Tochter von Kailani zu sein. So gut wie jeder nimmt Rücksicht. Außerdem bewundern sie Kailani alle und haben keine Ahnung, wie sie als Mutter ist. Manchmal wäre Aquina lieber die Tochter von niemandem.

»Du solltest es deiner Mutter sagen!«, beharrt Orchid.

»Nein! Dann bekomme ich bloß noch mehr Ärger!«, sagt Aquina.

»Wieso du?«, wundert sich Orchid. »Skyrn hat doch dich verzaubert, nicht du ihn!«

Aquina zuckt mit den Schultern. »Das wird meine Mutter aber sehr viel weniger interessieren als die Tatsache, dass ich zu spät war!«

»Wo warst du überhaupt so lange?«, fragt Jade neugierig dazwischen.

»Siehst du«, sagt Aquina zu Orchid. »Exakt so würde meine Mutter auch reagieren. Deshalb halte ich besser meinen Mund.«

»Wieso? Wo …?«, fragt Orchid, bis Ruby ihn unterbricht: »Merkt ihr nicht, dass Aquina uns das nicht sagen will?«

Jade zuckt zusammen. »Du warst nicht wirklich oben, oder? Das hast du doch nicht ernst gemeint vorhin?«

»Nein, natürlich nicht«, schwindelt Aquina, »die Sonne trocknet doch unsere Schuppen aus, das weiß schließlich jedes Kind!«

Die anderen drei nicken einhellig, aber Aquina rollt innerlich mit den Augen. Gibt es denn außer Snorri niemanden, der neugierig ist, ob diese ollen Märchen überhaupt stimmen? Jemanden, der mit ihr die Nase über Aquamaris hinausstrecken würde? Es muss doch mehr geben als Sirenengesang, Wassermagie und die Korallenbank! Vor allem mehr als diese idiotische Quelle, die sie seit Jahrhunderten beschützen müssen. Wenn sie das jetzt allerdings laut sagt, fallen die drei direkt in Ohnmacht. Oder verpetzen sie sogar bei Manati. Den Schutz der Quelle infrage zu stellen ist noch schlimmer, als an die Oberfläche oder zur Eisstadt zu schwimmen oder die Quellwächter cool zu finden oder vor Svalgur keine Angst zu haben oder keinen Fisch zu essen … Manchmal hat Aquina das Gefühl, ihr Leben besteht überhaupt nur aus Verboten.

»Dann bis morgen!«, verabschiedet sich Ruby mitten in ihre Gedanken.

»Bis morgen«, kommt das Echo von Orchid und Jade.

»Bis morgen!« Aquina biegt ab zu der großen Palastgrotte, in der sie mit ihren Eltern lebt. Mit den Muschelmosaiken ist es die schönste in der ganzen Stadt. Die Außenwände erstrahlen im edlen Weiß der Perlmuschel. Das Portal ist umsäumt von Säulen aus Tropfsteinen, statt massiver Türflügel versperrt ein Wasserfall den Eingang. Aquina dreht an der zweiten Säule von links und klopft auf einen Felsvorsprung an der rechten Seite, um eingelassen zu werden.


Die Pracht setzt sich im Inneren fort und hat dem Palast völlig zu Recht den Namen Muschelpalast eingebracht: Die Gänge glänzen in Silber mit kleinen, verspielten Ornamenten und Ranken aus Muscheln, und jeden einzelnen Raum hat Kailani mit Dingen ausstatten lassen, die sie an ihr früheres Leben erinnern. Aquina durchquert den offiziellen Empfangsraum. Es ist ihr sehr recht, ihn leer vorzufinden, ihre Mutter hat wahrscheinlich gerade anderweitig zu tun. Trotzdem muss Aquina zugeben, dass es der schönste Raum im ganzen Palast ist mit seinem halbkugelförmigen Himmelszelt, den funkelnden Sternen und in der Mitte die Sonne in glänzendem Gold, die das Abbild der Göttin Frigg umrahmt. Frigg wird von allen Sirenen als Retterin geliebt und verehrt.

Den Speise- und Aufenthaltsraum zieren Blumen wie von einer Sommerwiese. Und das Schlafzimmer von Kailani und Bror gleicht mit seinen Bäumen einem Wald, durch dessen Baumkronen in der Deckenmitte der Mond herableuchtet, genau über der Schlafstelle, einem Felsenbett gepolstert mit beigegelbem Meerschwamm.

Aquina darf ihr Zimmer nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten. Sie mag es am liebsten kunterbunt und verwendet nicht nur Muscheln, sondern alles Mögliche, was sie auf ihren Streifzügen findet: Turban- und Kreiselschnecken, farbiger Sand, Steine, Holzstückchen, Algen und Gräser bilden ein hübsches Mosaik an den Wänden. Selten ist es etwas Außergewöhnliches, weil Odins Fluch es ihnen nicht erlaubt, sich weiter als drei Meilen von Rulantica fortzubewegen. Und genau deshalb empfindet Aquina ihre Unterwasserwelt oft als zu eng und klein für ihre große Neugierde.

Wenigstens in ihrem Zimmer will sie regelmäßig etwas verändern, nur das Bild von Snorri hängt schon immer dort. Sie kennt ihn seit ihrer Geburt – oder eher andersrum – er kennt sie seit ihrer Geburt, denn sie kann sich an ihr erstes Jahr natürlich nicht mehr erinnern. Aber ihre Mutter hat ihr erzählt, dass er schon auf sie aufgepasst hat, als sie noch ein Baby war, und sie in den Schlaf gewiegt hat. Im Gegensatz zu den Meermenschen kann Snorri auch außerhalb der Dreimeilengrenze frei herumschwimmen. Aquina beneidet ihn glühend darum, aber zumindest bringt er ihr oft den ein oder anderen Schatz von dort mit. Snorris Geschenke wandern dann ebenfalls in das Mosaikbild.

Während Aquina hin- und hergerissen zwischen Stolz und Wehmut ihre Wände betrachtet, fällt ihr etwas ein. Hatte diese Frucht von heute Mittag nicht im Inneren Kerne? Sie wühlt in ihrer Fischledertasche, holt die rote Frucht heraus und beißt herzhaft hinein – hm, genauso lecker wie vorhin! Sie knabbert sich bis zu Mitte durch und … da sind sie! Winzige braune Kerne, deren Form Aquina an Tropfen erinnert oder an Tränen. Zehn Kerne pult Aquina aus ihrer Frucht. Daraus lässt sich bestimmt ein prima Muster machen. Andererseits … vielleicht sind die Kerne sogar richtige Samen. Ob die Riesenpflanze auch hier in ihrem kleinen Unterwassergarten wachsen würde? Einen Versuch ist es wert!


Aquina steckt zwei der Kerne beiseite, die restlichen sollen an die Wand, gleich neben Snorri ist noch eine freie Stelle, wo sie aus den Kernen die Umrisse der Frucht nachformen könnte …

»Da bist du ja, mein Schatz! Wie war der Unterricht?«

Ohne dass sie es bemerkt hat, ist Kailani in ihr Zimmer geschwommen. Ihre Mutter ist einen knappen Kopf größer als sie, hat einen kräftigen grünblauen gezackten Fischschwanz mit einer elegant gebogenen Flosse, und für eine Sirene, die ansonsten eher schlank und feingliedrig sind, hat Kailani erstaunlich muskulöse Oberarme. Dazu passen ihre nur schwer zu bändigende dunkelbraune Haarmähne, die ebenso dunklen, aufmerksamen Augen und die markante Nase.

Aquina ist immer wieder überrascht, wie wenig sie ihrer Mutter ähnelt, auch äußerlich. Sie hat ihr eigenes Gesicht zwar bisher nur als Spiegelung auf der Wasseroberfläche gesehen, entsprechend unscharf und verzerrt. Trotzdem fühlt sich ihre Nase, wenn sie sie betastet, zierlicher an und mit einer runden Spitze. Aquina hat helle Augen, auch wenn sie die genaue Farbe nicht kennt, und ihre Haare sind genauso weiß wie der Sand an Rulanticas Strand, noch viel heller als Papas inzwischen spärliche Haare.

Ihre Mutter gibt ihr einen Kuss auf die Wange, dabei fällt ihr Blick in Aquinas halb geöffnete Handfläche.

»Ah, hast du wieder Schätze ges…?«

Aquina ballt die Hand zu einer Faust, aber sie reagiert zu spät, ihre Mutter hat die Kerne bereits gesehen. Kailanis fröhliche Stimmung schlägt sofort um. »Was hast du da, Aquina?«

»Nichts!«

»Zeig mir sofort, was du da in der Hand hast!«

»Das geht dich gar nichts an!«

»Wenn es das ist, was ich glaube, dann geht es mich sehr wohl etwas an!«

»Wenn du es schon weißt, muss ich es dir ja nicht mehr zeigen!«

»Du öffnest jetzt augenblicklich deine Faust!«

»Nein!«

»Doch!«

Kailani greift nach ihrer Hand und zwingt sie, die Finger zu öffnen. Aquina ist völlig überrumpelt und leistet kaum Gegenwehr. Mit Drohungen und dem harschen Ton ihrer Mutter hat sie gerechnet, das kennt sie, doch noch nie hat ihre Mutter ihr körperlich zugesetzt. Die Tränen steigen ihr in die Augen, eine Mischung aus Wut und Schock macht sich in ihr breit. Ihre Mutter scheint es nicht zu bemerken und hält ihr einen der kleinen braunen Kerne unter die Nase.

»Woher hast du das?«

Aquina zuckt mit den Schultern.

»Ich will eine Antwort, Aquina, woher hast du diese Apfelkerne?«

Apfelkerne dringt es in Aquinas Gedanken, nun weiß sie wenigstens, wie die Frucht heißt.

»Hat Snorri sie dir gegeben?«, bohrt Kailani unerbittlich weiter.

Es wäre so einfach. Sie könnte so tun, als hätte Snorri ihr die Kerne mitgebracht, wie er es ab und zu tatsächlich mit einem besonders schön geformten Stück Holz, einer Muschel oder einem Stein tut. Aquina müsste bloß nicken und sie wäre aus der Schusslinie. Snorri bekäme den Ärger, wenn überhaupt. Ihm kann Kailani schließlich nicht verbieten, an die Oberfläche zu schwimmen.

Aber etwas in Aquina wehrt sich gegen diese simple Ausrede. Sie will sich nicht drücken, sie will nicht lügen, sich nicht hinter Snorri verstecken und schon gar nicht soll er etwas für sie ausbaden müssen! Aquina streckt den Rücken durch und blickt ihrer Mutter in die Augen.

»Wir … ich habe die Frucht, die du Apfel nennst, von oben, von der Insel. Und wenn du es genau wissen willst: Sie war das Leckerste, was ich je gegessen habe!«

Kailanis Nasenflügel beginnen zu beben, ein sicheres Zeichen für einen bevorstehenden Wutanfall. »Habe ich dir nicht gesagt, dass du oben nichts zu suchen hast?«

»Doch«, sagt Aquina. »Hast du. Ständig.«

»Würdest du mir dann bitte verraten, was du trotz meines Verbots dort gemacht hast?«

Aquina denkt an die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht, an Snorri und seinen eingeklemmten Fangarm, an das einmalige Naturschauspiel … nichts davon wird ihre Mutter verstehen, nichts wird sie gelten lassen. »Es ist schön dort«, erklärt sie schlicht.

Es geht los, mindestens so heftig wie der Feuerberg explodiert Kailani: »Es ist schön? Mehr fällt dir dazu nicht ein? Dafür gehst du dieses Risiko ein?«

»Aber ich habe mich doch nur ein bisschen umgesehen«, sagt Aquina.

»Wozu? Du hast hier alles, was du brauchst!«

»Ich will nicht eingesperrt sein und auch noch etwas anderes erleben als Singen und Muschelmosaik!«

»Und für dein persönliches Vergnügen glaubst du, du dürftest unser aller Leben aufs Spiel setzen?«

»Aber ich war nicht einmal in der Nähe der Quelle und habe nicht in ihr gebadet«, verteidigt sich Aquina. »Das würde ich auch nicht, das weißt du!«

»Weiß ich das?«, tobt ihre Mutter weiter. »Kann ich dir überhaupt vertrauen, wenn du dich über alle unsere Gesetze hinwegsetzt?«

Der Satz trifft Aquina mehr, als sie zugeben will. Es ist schreiend ungerecht. Entweder muss sie Regeln beachten, die aus ihrer Sicht überhaupt keinen Sinn ergeben, oder sie muss mit der bitteren Enttäuschung leben, die sich im Gesicht ihrer Mutter mehr als deutlich abzeichnet.


»Wieso kann ich nicht selbst entscheiden, was richtig für mich ist?«, gibt Aquina fast verzweifelt zurück. Ihre Mutter will sie einfach nicht verstehen.

»Weil du mit einer falschen Entscheidung nicht nur dein Leben riskierst, sondern den Untergang der ganzen Insel. Du kennst unseren Fluch!«

Und ob Aquina den kennt! Seit sie sich erinnern kann, hört sie die Geschichte von Loki, dem listigen Gott, der die Insel Rulantica mit der magischen Quelle erschaffen hat, um die Menschen in Versuchung zu führen. Denn wer in der Quelle badet, erlangt Unsterblichkeit, obwohl die eigentlich den Göttern vorbehalten ist. Aber als Viken, der Anführer der Wikinger, zu denen auch ihre Mutter Kailani gehörte, sich so schwer verletzte, dass er beinahe gestorben wäre, schlugen die Menschen alle Bedenken in den Wind, um ihn zu retten. Er überlebte und ließ seinen Stamm in der Quelle baden.

Doch leider stieg die heilende Magie einigen zu Kopf, sie hielten sich selbst für Götter und verhöhnten ihre bisherigen Götter. Genau das wollte Loki erreichen. Besonders Odin, der Göttervater, war erzürnt über die Anmaßung der Menschen. Er eilte von Asgard ins Menschenland Midgard und hatte eigentlich vor, die Insel Rulantica mit Mann und Maus zu vernichten.

»Wir verdanken es allein Odins Frau Frigg, dass wir überhaupt noch leben«, wiederholt Kailani auch jetzt die alte Leier.

»Als ob ich das nicht wüsste«, platzt es aus Aquina heraus. »Das habe ich schon tausendmal gehört: Frigg erkannte, dass alles eigentlich Lokis Schuld war, und bat Odin, uns zu vergeben. Der ließ dich und deinen Stamm daraufhin am Leben und verwandelte euch nur in Meermenschen. Dann befahl er euch, die Quelle zu bewachen und die Dreimeilengrenze rund um Rulantica nicht zu verlassen. Bla, bla, bla … ach ja und Svalgur hat er als Aufpasser dagelassen …»

»So ist es!«, nickt Kailani, immer noch mit vor Zorn funkelnden Augen. »Und nichts davon ist Blabla!«

»Aber die Monsterschlange liegt doch seit langer Zeit im Eistempel in der Eisstadt und regt sich nicht mehr!«

»Wenn du glaubst, dass Svalgur deshalb nicht mehr gefährlich ist, dann irrst du dich! Das Zeitalter der Götter mag inzwischen vorüber sein, aber er erfüllt seine Aufgabe bis in alle Ewigkeit«, beharrt Kailani. »In dem Punkt bin ich mir sogar mit Exena einig. Beim geringsten Fehltritt wird Svalgur erwachen und alles und jeden verschlingen, daran besteht kein Zweifel!«

»Selbst wenn du recht hast, aber warum darf ich deshalb nicht nach oben? Ich will doch nur ein bisschen in der Sonne baden!«, hält Aquina dagegen.

Kailani schnaubt: »Heute ist es die Sonne, morgen ist es ein Apfel und übermorgen eben doch die Quelle. Halt dich fern, mein Kind, oder es wird böse enden!«

»Aber die blöde Unsterblichkeit interessiert mich überhaupt nicht!«, beharrt Aquina. »Das ist doch bloß was für euch Erwachsene!«

»Die Quelle ist unser aller Schicksal!«, donnert Kailani. »Du lässt mir keine Wahl! Solange du das nicht begreifst, hast du Grottenarrest, haben wir uns verstanden?«

Aquina lässt die Kinnlade nach unten klappen. »Das kannst du nicht, das darfst du nicht …«

»Das ist sogar meine Pflicht«, erklärt Kailani. »Ich bin nicht nur deine Mutter, sondern verantwortlich für alle Sirenen und du bringst dich und uns in Gefahr! Also wirst du außer zum Unterricht den Muschelpalast nicht mehr verlassen!«

Wie vom Blitz getroffen, bleibt Aquina in ihrem Zimmer zurück. Grottenarrest. Das Wort hämmert in ihrem Kopf und legt sich wie ein unsichtbarer Würgegriff um ihren Hals. Grottenarrest, und das auf unbestimmte Zeit – das macht ihre Tage noch langweiliger und kleiner. Natürlich weiß sie, dass die Meerkinder nicht nach oben dürfen. Aber sie hätte nie im Leben damit gerechnet, dass ihre Mutter sie dafür tatsächlich bestrafen würde. Sie würde doch niemals etwas tun, das alle gefährdet. Wie kann ihre Mutter ihr derart misstrauen? Aus Wut und Verzweiflung kommen Aquina die Tränen. Das Meerwasser um sie herum spült sie zwar sofort weg, trotzdem brennen sie heiß in ihren Augen. Sie lässt sich auf ihre Schlafstelle plumpsen. Was jetzt? Tagein, tagaus ihren Gesang und die Wassermagie üben? Das würde ihrer Mutter und Skyrn so passen! Immer schön brav und angepasst, bloß nichts anders machen, als die Sirenen es seit Jahrtausenden halten. Lieb und nett und stets zum Wohl der Meermenschen. Die braunen Kerne schwimmen noch immer über ihr durch das Zimmer. Diese Verräter!

»Vatt Galdur!«, schleudert Aquina ihnen böse und ohne lange zu überlegen hinterher. Ein Wirbel erfasst die Kerne und schwemmt sie aus ihrem Blickfeld in die Ecke.

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9783649634904
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