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1.3 Das »Fach«: Theologie der Spiritualität

In welchem Zusammenhang steht die Frage nach der Theologie des Gebets? In welchem theologischen »Fach« stellen wir sie? Das Gebet ist in allen Religionen Teil der Spiritualität. Nun gibt es an manchen theologischen Fakultäten wie z.B. in Wien einen eigenen Lehrstuhl für »Theologie der Spiritualität« oder sogar eigene (Master- bzw. Lizentiats-)Studiengänge wie in Münster oder Nijmegen, Rom oder Chicago. Meist aber wird dieser spezifische Zugang einem der anderen theologischen Fächer zugeschlagen. Zumindest gilt damit die theologische Reflexion der Spiritualität fast an allen Fakultäten als ein eigenständiger Zugang mit einzelnen Lehrveranstaltungen und einer eigenen Abteilung in der Bibliothek. Im deutschen Sprachraum haben sich daher die betreffenden TheologInnen aller Konfessionen, die aus unterschiedlichsten theologischen Disziplinen stammen, zur »Arbeitsgemeinschaft Theologie der Spiritualität« zusammengeschlossen und treffen sich regelmäßig zu Tagungen.

Was meint der Begriff Spiritualität? Der Begriff wurde erst in den 1960er und 1970er Jahren aus dem Französischen ins Deutsche und in andere Sprachen übertragen. Sein Gebrauch im nicht frankophonen Sprachraum ist mithin noch relativ jung. Historisch steht die weltweite Einführung des Begriffs Spiritualität für den kirchlichen Aufbruch in der Zeit des II. Vatikanischen Konzils: Das Konzil hat »spiritualité« dynamisiert und globalisiert.

Etymologisch steht am Ursprung die lateinische Wurzel »spiritualitas«, die bereits in frühchristlichen Schriften verwendet wird – erstmals im ersten Clemensbrief (als Adverb »spiritualiter«) und dann gehäuft bei Tertullian. »Spiritualitas« ist ihrerseits vom Adjektiv »spiritualis« abgeleitet – einem frühchristlichen Neologismus zur Übersetzung des neutestamentlichen Begriffs »πνευματικς«, geistlich (fünfzehnmal bei Paulus, bes. 1 Kor 2,10–3,3; fünfmal in Eph, Kol und zweimal in 1 Petr). Diesen wiederum setzt Paulus den Begriff σαρκικς, fleischlich, entgegen, was die theologische Verwendung des Adjektivs wie des Substantivs prägt: Fleischlich ist jemand, der sich völlig im Diesseits verschließt, spirituell der, der sich dem Wirken des Heiligen Geistes öffnet.

In den letzten beiden Jahrzehnten ist der Begriff »Spiritualität« ein Modewort geworden – mit dem Nachteil, dass er sehr schillernd verwendet wird. Für seine Definition möchte ich vier Elemente vorschlagen:

1) Spiritualität ist Leben aus dem Heiligen Geist (aus der göttlichen Gnade, aus der Verbundenheit mit Jesus Christus).

2) Spiritualität ist Leben im Umgang mit der Wirklichkeit. Dualistisch verstandene Weltferne oder Wirklichkeitsenthobenheit ist kein Kennzeichen authentischer Spiritualität. Vielmehr wird diese gerade in der alltäglichen Wirklichkeit die Spuren Gottes zu entdecken versuchen. Spiritualität deutet die »Zeichen der Zeit« (GS 4). Nichts in dieser Welt ist von einem spirituellen Umgang prinzipiell ausgeschlossen. Spiritualität meint eine bestimmte Form der Wahr-Nehmung der je geschichtlich vorfindbaren Situation in Einheit von Erkennen und Tun.

3) Spiritualität ist eine »Gestalt des Glaubens« (Bernhard Fraling 1970, 193): Sie ist mehr als eine bloße innere Grundhaltung, etwa der Hingabe, des gläubigen Vertrauens, der Hoffnung (vgl. Hans Urs von Balthasar 1965, 715). Sie umfasst diese zweifellos, schließt aber zudem deren geschichtlich bedingten, je konkreten Ausdruck ein, ist also »fleischgewordene«, in einem Lebensstil gelebte Grundhaltung.

4) Spiritualität im Singular ist die eine, »epochale Grundgestalt des Glaubens« (Bernhard Fraling 1970, 193): Natürlich gibt es notwendig (!) Spiritualitäten verschiedener Individuen, Gruppen oder Bewegungen im Plural. Zunächst aber bezeichnet Spiritualität die in einer Zeit und einer Religion vorfindbare Grundgestalt geistlichen Lebens. Vorrangige Trägerin christlicher Spiritualität ist demzufolge die Kirche, deren Überlieferung in Schrift und Tradition die Gestaltwerdung der Spiritualität in eine konkrete Zeit hinein erst ermöglicht und deren Liturgie ihr den zentralen Kristallisationspunkt bietet. Christliche Spiritualität ist – bewusst oder unbewusst, gewollt oder nicht – immer kirchlich.

Aus diesen vier Komponenten lässt sich nun die Definition der Spiritualität in einem Satz zusammenfassen:


Gegenstand der Spiritualität ist immer die Einheit von individueller und struktureller Wirklichkeit. Strukturelle Rahmenbedingungen als Ermöglichungsgrund individuellen Verhaltens müssen gleichermaßen spirituell durchdrungen und gestaltet werden. Klassisches Beispiel hierfür sind die Ordensregeln, Meisterstücke einer in Normen und Leitbilder gegossenen Spiritualität. Die Sorge um angemessene Strukturen in Kirche und Staat – in demokratischen Gesellschaften vorwiegend eine (kirchen-)politische Aufgabe – ist folglich keinesfalls nebensächlich. Im Gegenteil: Mystik und Politik sind untrennbar miteinander verbunden. Politik ohne Spiritualität wäre herz-los: Ihr fehlte die tragende Mitte. Und Spiritualität ohne politischen Biss bliebe halb-herzig: Sie wäre in romantischen Träumen gefangen. Die klassische Zweiteilung von Weltdienst und Heilsdienst als material voneinander abtrennbaren Bereichen ist damit überholt: In allem menschlichen Tun und Überlegen geht es um das Heil der Welt.

Spiritualität markiert in einer pluralen Welt einen Glaubensstandpunkt. Dieser mag pointiert und dezidiert vertreten werden, er bleibt rechtfertigungspflichtig (!) und wird zugleich gerade so, nämlich als dezidiert vertretener kommunikabel, rechtfertigungsfähig gegenüber Menschen anderer Religion oder Weltanschauung (vgl. Andreas Renz/Hansjörg Schmid/Jutta Sperber 2006 [Hg.]), aber auch zwischen Menschen desselben christlichen Glaubens – sei es, um strittige Fragen zu klären, sei es, um diese Spiritualität weiterzugeben. Dazu muss er freilich vernunftmäßig erschlossen und plausibel dargestellt werden. Denn die Vernunft ist in der abendländischen Tradition die anerkannte Basis jeden Dialogs.

Genau dieser vernunftbasierte Dialog ad intra und ad extra über christliche Spiritualität ist Aufgabe des Fachs »Theologie der Spiritualität« als eines eigenen Faches oder Fachbereichs innerhalb des theologischen Fächerkanons. Sein Materialobjekt ist die christliche Spiritualität. Sein Formalobjekt ist einerseits die (primär) philosophische Anthropologie. Sie stellt aus der Außenperspektive des (relativ) distanzierten Beobachters die Frage, inwieweit Spiritualität dem menschlichen Existenzvollzug dient, ihn spiegelt und etwas über den Menschen und seine Gottesvorstellung sagt. Sein Formalobjekt ist andererseits die theologische Analyse. Diese untersucht aus der Binnenperspektive des engagierten Teilnehmers (also des spirituell lebenden Christen), inwieweit das Evangelium etwas von der christlichen Spiritualität und diese etwas von Gott sagt. Nach Karl Rahner ist Theologie immer zuerst und zuletzt Anthropologie: Da Gott verborgen bleibt, können wir letztlich nur über uns und über unsere Offenheit auf das absolute Geheimnis hin sprechen. Die beiden Formalobjekte der Theologie der Spiritualität lassen sich also gar nicht voneinander trennen.

In der hier vorgeschlagenen Ausrichtung ist die Theologie der Spiritualität Teil der systematischen Theologie. Natürlich muss sie auf biblische, historische und praktische Erkenntnisse zurückgreifen. Doch wird sie diese in einen systematischen Fragehorizont einordnen. Das gilt logischerweise auch für die hier vorgelegte Abhandlung einer Theologie des Gebets. Diese kann v.a. – und das soll von vorneherein eigens betont werden – nicht primär oder ausschließlich liturgiewissenschaftlich erfolgen. Zu keiner Zeit war christliches Beten beschränkt auf die Liturgie. Wenngleich dem liturgischen Beten im kirchlichen Leben eine herausragende Rolle zukommt, wäre es doch eine Verkümmerung der Spiritualität, würden die ChristInnen nur in der Liturgie und nur in liturgischen Formen beten. Eine Theologie des Gebets muss also material weiter ausgreifen als eine liturgiewissenschaftliche Untersuchung, sie hat aber auch formal eine viel fundamentalere Perspektive: Es geht ihr nicht um Ort und Bedeutung des Gebets in der Liturgie, sondern im menschlichen Leben ganz allgemein.

1.4 Die spezifische Rolle einer Reflexion des Gebets für die Theologie

»Oratio est propriae religionis actus« – »Das Gebet ist der ureigenste Vollzug der Religion« (Thomas von Aquin, s.th. II–II, q 83 a 3). Mit diesem lakonischen Satz charakterisiert Thomas das Gebet als innersten Kern der Religiosität – wir würden heute sagen: der Spiritualität. Ohne Gebet wäre Religion nicht Religion und ein spirituelles Leben unmöglich. Die Reflexion dessen, was Gebet ist, kann also nicht beliebig zur Disposition gestellt werden. Ohne Theologie des Gebets wäre Theologie keine Theologie und eine Theologie der Spiritualität nicht möglich.

Insbesondere aber schlägt die Theologie des Gebets zu zwei theologischen Disziplinen eine besondere Brücke:

– Im Sinne des alten Satzes »Lex orandi est lex credendi« (»Das Gesetz des Gebets ist das Gesetz des Glaubens«) ist jedes Gebet »sprechender Glaube« (Gisbert Greshake 2005, 57) und ein Bekenntnis. Die Lehre der Kirche darf der Praxis ihres Betens nicht widersprechen, sondern muss sich vielmehr daran orientieren. Und wiederum möchte ich betonen: es geht hier nicht nur um das Gesetz liturgischen Betens! Nicht nur die Orationen der liturgischen Bücher sind normgebend für die kirchliche Dogmatik, sondern auch die persönlichen Gebete und Gebetsformen der Gläubigen – von den Gebeten großer Heiliger bis zu Ausdrucksformen des gläubigen Volkes in anderen Kulturen, von den Gebetsvertonungen der Gregorianik bis zu den Gebetstänzen in Afrika. Sie alle sind loci theologici, theologische Orte, auf die die kirchliche Lehre zurückgreifen muss. Dass umgekehrt dogmatische Festlegungen auch kritisierend und korrigierend auf die Gebetspraxis der Gläubigen einwirken müssen, versteht sich von selbst. Niemand glaubt allein, niemand betet allein. Beten ist immer Ausdruck gemeinschaftlicher Vollzüge und Bezüge.

– In einer Abwandlung möchte ich aber ebenso sagen: »Lex orandi est lex vivendi« (»Das Gesetz des Gebets ist das Gesetz guten Lebens«). Beten ist »praktischer Glaube« – es gibt menschlichem Handeln Orientierung und Korrektur, Motivation und Gelassenheit. Die christliche Gebetspraxis ist also nicht nur normgebend für die kirchliche Dogmatik, sondern auch für die kirchliche Morallehre. Wie sich Glaubende im alltäglichen Leben praktisch verhalten, wird durch ihr Beten maßgeblich mitbestimmt. – Wiederum gilt auch die Umkehrung: Moraltheologische Einsichten müssen kritisierend und korrigierend auf die Gebetspraxis der Gläubigen einwirken. Es gibt im christlichen Beten Auswüchse der Unbarmherzigkeit und Intoleranz, aber auch der Passivität und falsch verstandenen Gottvertrauens. Solche Auswüchse dürfen nicht unkommentiert hingenommen werden.

Wenn die Theologie des Gebets somit gerade zu Dogmatik und Moraltheologie eine Brücke schlägt, darf sie zu Recht als Herzstück der Theologie insgesamt bezeichnet werden. Im komplexen Gebäude theologischer Traktate und Themen kommt ihr durchaus eine besondere Rolle zu. Das Gebet ist der ureigenste Gegenstand der Theologie.

1 »Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.« Marx/Engels-Werke, Berlin 1946ff, Bd. 1, 378.

2 E θεοόγος ε, π ροσεύξ ληθς, κα ε ληθς π ροσεύξ, θεολόγος ε.

2. Jenseits von Selbstsucht und Selbstflucht

Beten als Sich-Hineinstellen in das Geheimnis des Lebens (Anthropologie des Gebets)

»Wer bin ich? Sie sagen mir oft,

ich träte aus meiner Zelle

gelassen und heiter und fest

wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,

ich spräche mit meinen Bewachern

frei und freundlich und klar,

als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,

ich trüge die Tage des Unglücks

gleichmütig, lächelnd und stolz,

wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?

Oder bin ich das, was ich selbst von mir weiß?

Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,

ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,

hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,

dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,

zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,

umgetrieben vom Warten auf große Dinge,

ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,

müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,

matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener?

Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?

Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler

und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?

Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,

das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.

Wer ich auch bin, du kennst mich, dein bin ich, o Gott!

(Dietrich Bonhoeffer 1980, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, Gütersloh, 179)

Mit diesem berühmten und packenden Gedicht führt uns der Theologe Dietrich Bonhoeffer in die Abgründe des Zweifelns und Fragens hinein, in denen er sich im Juli 1944 während seiner Haft befindet. Die Wahrnehmung seiner Angehörigen und Freunde, die ihn im Gefängnis in Berlin besuchen, steht seiner eigenen Wahrnehmung so fern, wie man es sich nur vorstellen kann. »Wer bin ich?« Immer wieder stellt Bonhoeffer die Frage nach seiner Identität. Erst im allerletzten Satz wird das Gedicht zum Gebet – an das Du Gottes gerichtet. Mit größter Vorsicht tastet sich Bonhoeffer an den geheimnisvollen Gott heran. Und doch legt er die Antwort auf die Frage nach dem Geheimnis der eigenen Person am Ende sehr bewusst und entschlossen in das größere, umfassendere Geheimnis Gottes hinein. Das Beten hilft ihm, sich dem Geheimnis anzuvertrauen und die lebensbedrohlichen Ungewissheiten der Gegenwart auszuhalten.

Kann Beten helfen, sich selbst zu erkennen und zu finden? Kann es den Betenden mit allen Unsicherheiten des eigenen Lebens versöhnen, obgleich diese bestehen bleiben? Was sagt das Gebet über den (betenden) Menschen? Diese Frage soll hier zunächst unabhängig davon beantwortet werden, ob es Gott gibt oder ob er nur eine Chiffre, ein literarisches Stilmittel oder eine psychologische Hilfskonstruktion ist. Denn selbst wenn dem so wäre, würde das Beten etwas über den Menschen und seine existenziellen Herausforderungen sagen, und auch über seine Versuche, mit diesen umzugehen. Selbst dann könnte Beten hilfreich sein zur Bewältigung der eigenen Existenz.

Das Formalobjekt dieses Kapitels ist also die Philosophie, näherhin die philosophische Anthropologie. Weitgehend rezipieren wir Positionen von (Religions-)PhilosophInnen. Wo darüber hinaus Anregungen von TheologInnen aufgegriffen werden, sind es solche, die per se keine dezidiert theologische Imprägnierung tragen. Die hier dargelegten Ausführungen sollten also auch Nichtglaubenden relativ plausibel sein.

2.1 Beten – sich seine Identität schenken lassen. Entdeckungen der Analytischen (Sprach-)Philosophie

Eine wichtige Inspirationsquelle der philosophischen Annäherung an das Phänomen des Betens ist die Analytische Philosophie. Entwickelt am Beginn des 20. Jh., sucht sie die Lösung philosophischer Probleme durch die Analyse des alltäglichen Sprachgebrauchs philosophischer Schlüsselbegriffe. Sie entwickelt sich zunächst zu einer eigenen »Schule«, später zu einer eher pluriformen Richtung der Philosophie, die schließlich als Methode in zahlreiche philosophische Ansätze Eingang gefunden hat. Im Gegensatz zur vorwiegend kontinentaleuropäischen Existenzphilosophie findet sie ihren Verbreitungsraum hauptsächlich im angloamerikanischen Bereich. Auch ihre deutschsprachigen Vertreter wie Rudolf Carnap und Ludwig Wittgenstein wandern dorthin aus. Ihre Begründer sind George Edward Moore (1873 London–1958 Cambridge) und Bertrand Russell (1872 Trellech, Wales–1970 Penrhyndeudraeth, Wales). Ziel ist nicht wie in der zeitgleich entstehenden Phänomenologie die Etablierung von Wahrheiten, sondern die Analyse von Begriffen. Dies führt zur »linguistischen Wende«, d.h. zur Beschäftigung mit der Sprache als zentralem Ansatz. Treffend charakterisiert das eine programmatische Äußerung von John Langshaw Austin (1911 Lancaster–1960 Oxford): Es gehe um die Analyse der Alltagssprache unter der Frage, »was wir wann sagen würden und … warum, und was wir damit meinen« (John Langshaw Austin 1975, 185). Die Sprachanalyse könne damit als »linguistische Phänomenologie« (John Langshaw Austin 1975, 182) bezeichnet werden, denn in der Sprache schienen die Phänomene der Wirklichkeit auf.

Bezogen auf unser Thema fragt die Analytische Philosophie v.a.: Was meinen Menschen, wenn sie beten, d.h. einen Gott oder eine göttliche Sphäre ansprechen? Welchen Gehalt, welche Bedeutung, welchen Sinn erschließt derartiges Reden? Welche Potenziale stecken darin? Fakt ist, dass viele Menschen beten – es kann also nicht sein, dass das völlig sinnlos ist. Umso mehr muss aber kritisch gefragt werden, worin denn die wirkliche Bedeutung des Betens als Sprechen liegt. Genau hier liegt die genuine Kompetenz von PhilosophInnen als SprachlehrerInnen.

Im deutschen Sprachraum hat der Religionsphilosoph Richard Schaeffler mit seiner »Kleine[n] Sprachlehre des Gebets« von 1988 wohl die umfassendste Anwendung sprachanalytischer Kategorien auf das Gebet präsentiert. Schaeffler gründet seine Überlegungen ganz »klassisch« auf die Sprechakttheorie. Nach ihr sind sprachliche Äußerungen Handlungen, die jemand vollzieht, indem er einen Satz äußert. Sprache ist Interaktion – sie bewirkt etwas.3 Was also bewirkt das Gebet? In seiner Beantwortung orientiert sich Schaeffler an dem jüdischen Philosophen Herrmann Cohen (1842 Coswig–1918 Berlin), der Kants Religionsanalyse weiterführt und zwei wesentliche Äußerungen des Gebets sieht:

a) Beten heißt, den Namen (Gottes) anrufen und sich so Identität schenken lassen: Im Anrufen eines Namens erinnert sich der Rufende an die Identität des Angerufenen und kann diesem begegnen. Er erinnert sich damit aber zugleich an seine eigene Identität, die wesentlich von der Beziehung zu dem Angerufenen geprägt ist. So kann er sich diese neu aneignen in Kontinuität und Differenz: Er bleibt derselbe, indem er sich wandelt und die alte Beziehung neu aufnimmt. Gerade wenn sich zwei Menschen begegnen und mit Namen ansprechen, die sich jahrelang nicht gesehen haben, kann man das intensiv erleben und beobachten.

Genau das geschieht aber beim Anrufen nicht nur des Namens eines Mitmenschen, sondern auch des Namens Gottes: Im Gebet bindet der Mensch seine Identität und Kontinuität an den ewigen, stets da seienden Gott (Ex 3,15), dessen »uralte Taten« immer neu aufleuchten (so der Text der Oration zur Exodus-Lesung in der Osternacht). Diese Identität wird ihm geschenkt und garantiert. Er braucht keine Angst darum haben, dass sie verloren gehen könnte. Denn Gott wird als der angerufen, »dessen Treue allein sicherstellt, dass unsere Vergangenheit bei ihm … unverloren ist und dass wir auf dem Wege in unsere Zukunft unsere Identität nicht verlieren« (Richard Schaeffler 1988, 30). Bei Gott bleibt der Mensch in Erinnerung, er geht nicht verloren.

b) Beten heißt erzählen und so (diachron) die eigene Lebensgeschichte ordnen und (synchron) die Beziehung zum Gegenüber stärken: Im Beten bringt der Betende erzählend sein Leben vor Gott. Solches Erzählen hat nach dem US-amerikanischen Philosophen Arthur Coleman Danto (*1924 Ann Arbor, MI) die Funktion, die Gegenwart im Blick auf die Vergangenheit zu organisieren und umgekehrt die Vergangenheit im Blick auf die Gegenwart. Erzählen ordnet, deutet und klärt. Der Blick des Betenden auf die in der Bibel erzählte Heilsgeschichte klärt seine eigene, ganz persönliche Lebensgeschichte, indem sich Analogien auftun und umfassendere Perspektiven sowie durchgehende Linien sichtbar werden. Umgekehrt lässt seine Lebensgeschichte viele Begebenheiten der Heilsgeschichte leichter verstehen (diachron).

Erzählen verbindet aber auch die Lebensgeschichten der kommunizierenden Personen: Das »Weißt du noch?« dient der Vergewisserung und Stärkung ihrer Beziehung (synchron). Ob lang Verheiratete am Hochzeitstag nochmals von ihrer Hochzeit erzählen oder Eltern ihren Kindern Begebenheiten des eigenen Lebens – immer geht es darum, die kollektive Identität zu stärken und die Gemeinschaft zu vertiefen. Geteilte Erzählungen schweißen zusammen.

Beide Funktionen findet Schaeffler auch im Gebet verwirklicht. Diachron betrachtet wird Gott angerufen als »der, dessen vergangene Taten der Mensch so erzählen kann, dass er dadurch für seine eigene Lebensgeschichte Deutung und Maßstab empfängt … und dem der Mensch seine eigenen Taten und Leiden so erzählen kann, dass sie sich dadurch zu einem ›geraden‹ Weg zusammenfügen« (Richard Schaeffler 1988, 69). Und synchron stärkt und bereichert das Erzählen vor Gott die Beziehung zu ihm.

Aus Cohens und Schaefflers Analyse ergeben sich – noch immer unabhängig davon, ob es Gott gibt – zwei wesentliche Forderungen an gelingendes Beten: Es muss erstens ein angemessenes Anrufen des Namens vermitteln und zweitens erzählen. Beides ist nicht selbstverständlich.

– Viele der noch immer im kirchlichen Gebet verwendeten Gottesnamen treffen nicht das gesunde Empfinden (den »sensus fidei«) der Glaubenden. Sie verunmöglichen die religiöse Identitätsbildung mehr, als dass sie sie fördern. Hier könnte der Islam mit seiner Sammlung der »99 Gottesnamen«, die in Wahrheit weit über 100 sind, einen ehrfürchtigeren und aufmerksameren Umgang mit der Gottesanrede lehren. Und das Judentum, das seinen (einzigen) Gottesnamen nur schreibt und liest, aber nicht ausspricht, könnte die Kostbarkeit unterstreichen, die ein treffender Name für Gott bedeutet. Er ist wie der Kosename, den Geliebte einander geben. Er enthält eine Kraft, die Berge zu versetzen weiß.

– Auch das Erzählen ist bei weitem nicht immer die Grundmatrix christlichen Betens. Obwohl die sog. Anamnese des liturgischen Betens hier einen guten Anhaltspunkt böte, bleiben die narrativen Elemente des Gebets oft abstrakt und blass. Zudem wird oft nur von der allgemeinen Heilsgeschichte erzählt, nicht aber von der eigenen Lebensgeschichte – so als wäre das eigene Leben kein Teil der Heilsgeschichte. Dabei wäre im Sinne Schaefflers gerade die gelungene Verbindung beider das befreiende und eröffnende Element des Gebets.

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9783429060633
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