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Читать книгу: «Wiener Hochzeitsmord», страница 2

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Zweites Kapitel:
28. Juni

Das einzige Geräusch, das an sein Ohr drang, war das langsame Ziehen der Tür, die sich dem Schloss annäherte, und abschließend das harte Klicken, als sie in selbiges fiel. Danach war es still. Von einem Fenster oben am Ende der Stiege drang schwaches Tageslicht ins Innere. Dr. Fried hätte den Hausgang eher als halbdunkel denn als halbhell bezeichnet.

Als er zum ersten Gespräch mit dem Priester hier gewesen war, vor einigen Monaten, war ihm eine ältliche Frau in grauer Schürze und mit einem Wischmopp in den kralligen und fleckigen Händen entgegengekommen. Ihr Rücken war krumm gewesen und sie hatte schief zu ihm hinaufgeblickt. Es war schwierig gewesen, ihr die Information zu entlocken, die er damals benötigte, nämlich die Antwort auf die Frage: »Wo ist der Herr Pater?«

»Herbata? Herbata?«, hatte die Frau ein paarmal kopfschüttelnd wiederholt, bis Dr. Fried nach einigen weiteren Versuchen seinerseits bemerkte, dass die Frau kaum oder gar nicht Deutsch sprach und wohl aus dem slawischsprachigen Raum stammte. Herbata – war das nicht das polnische Wort für Tee? Der Priester, den er gesucht hatte und der für die Stanislaus-Kostka-Kapelle zuständig war, war ein gebürtiger Pole und hatte sich wohl Unterstützung aus der alten Heimat geholt.

Dr. Fried hatte sich auf Gesten und andere Worte verlegt. »Priester«, »Pfarrer«, hatte mehr Kreuzzeichen geschlagen, als er es normalerweise während einer Messe tat, und war erleichtert gewesen, als er endlich ein Lachen über das Gesicht der alten Frau huschen sah.

Sie hatte mit zitterndem ausgestrecktem Arm die Stufen hinaufgewiesen, den Stiel mit dem Wischmopp am Ende gegen ihren dürren Körper gelehnt.

»Na górze«, hatte sie mit ihrer kratzigen Stimme gesagt, und Dr. Fried hatte verstanden: »Na gusche.« Oben, hatte das wohl geheißen, denn sie hatte ja in das obere Stockwerk gewiesen. Abgesehen davon, dass es sowieso keinen anderen Weg ins Innere des Hauses gab, hatte Dr. Fried beschlossen, die Stufen hinaufzusteigen und dort nach einem Pfarrbüro zu suchen.

Nun kannte er den Weg natürlich. Er wusste, dass Pater Anzelm Szczepczyk ein kleines Büro hinter den Räumlichkeiten der Kapelle zugewiesen bekommen hatte. Offiziell gehörte das alles zur »Kirche zu den neun Chören der Engel« am Hof, von deren Altane aus im Jahre 1804 das Erbkaisertum Österreich proklamiert worden war. Dr. Frieds Vater hatte ihm oft davon erzählt, so lebhaft und begeistert, als ob er selbst dabei gewesen wäre. Als Kind war es Dr. Fried nicht klar gewesen, dass sich das rechnerisch mit dem Geburtsjahr des Vaters gar nicht ausgegangen wäre.

Die Stufen waren in der Mitte deutlich abgetreten. Es war ein altes Haus aus dem 15. Jahrhundert, dessen Grundsubstanz in den Jahrhunderten kaum verändert worden war. Das war zweifelsohne auch dem Umstand geschuldet, dass hier ein späterer Heiliger seine Wohnstatt gefunden hatte. Pater Anzelm hatte Dr. Fried die Geschichte des heiligen Stanisław Kostka ausführlich erzählt, nicht ohne eine gewisse Portion Nationalstolz, wie Dr. Fried amüsiert feststellen musste. Einmal hatte Pater Anzelm sogar die Formulierung »unser Heiliger« verwendet. Nun gut, jeder, wie es ihm gefällt. Dr. Fried hatte die Geschichte des heiligen Stanislaus natürlich bereits gekannt, nicht in allen kleinen Details, wie der Priester sie ihm darstellte, aber wer wusste schon, wie vieles davon erfunden war und der Begeisterung eines Polen für einen anderen entsprang.

Stanisław Kostka hatte gemeinsam mit seinem Bruder im zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts zwei Zimmer in diesem Haus bewohnt. Sie waren Söhne aus einem polnischen Adelsgeschlecht und der junge Stanisław besuchte in Wien das Jesuitenkolleg. Seine Frömmigkeit war schon zu seinen Lebzeiten legendär, und nachdem er im Alter von nur achtzehn Jahren in Rom verstorben war, wurde er wenige Jahrzehnte danach selig und bald darauf heiliggesprochen. Die ehemaligen Wohnräume in Wien wurden zu einer Kapelle umgestaltet, in der man ihn seitdem verehrte.

Pater Anzelm war ein alter Mann. Hager, fast ausgemergelt war sein Körper, als würde er sich kasteien und nur der Verehrung »seines« Heiligen widmen. Sein Gesicht war von einem voluminösen Rauschebart bedeckt, sodass man dessen Formen kaum erahnen konnte. Eigentlich begann es erst so richtig ab der Nase und reichte über schmale Augen und eine breite Stirn hinauf bis zu einem wirren und dichten Gestrüpp von Haupthaar. Trotz seines höheren Alters befanden sich kaum graue Haare in seinem Bart oder auf seinem Kopf.

Sympathisch war der Mann Dr. Fried von Anfang an nicht gewesen. Aber das war letzten Endes egal, denn er sollte ja nur die Zeremonie leiten. Eigentlich hatte es lediglich zwei Themen gegeben, als sie einander zum ersten Mal begegnet waren, um abzuklären, ob eine Hochzeit in der Kapelle überhaupt möglich wäre: die breit erzählte Lebensgeschichte des heiligen Stanislaus und die Frage des Geldes. Weil, so Pater Anzelm, die Erhaltung der Kapelle sei eine kostspielige Aufgabe! Seine Lebensaufgabe. Und ein Auftrag Gottes, natürlich. Und wenn die Menschen das Geld hätten, um sich nach der Hochzeit eine feierliche Festtafel mit dem besten Essen zu leisten, dann wäre es nur recht und billig, wenn eine entsprechende Summe für die Kirche abfiele. Denn wieso sollte nicht auch der Ort des Segens Gottes seinen Wert haben?

Dr. Fried hatte den Eindruck gehabt, dass der Geistliche bereit gewesen war, zu feilschen. Jede Krone mehr, die er heraushandeln konnte, wäre ihm stundenlanges Reden und Argumentieren wert gewesen. Doch die großzügig bemessene Zeit eines Priesters hatte ein Kriminaloberinspektor nicht. Dr. Fried hatte schnell nachgegeben und sich eine Summe nennen lassen, die der Priester für den Ort und den Anlass als angemessen befand.

»Alles für die Kapelle, natürlich. Alles!« So seine Worte. Die schmalen Augen waren noch schmaler geworden, nur mehr erahnbare Striche. Dr. Fried hatte ihm kein Wort geglaubt.

Das Misstrauen war bei ihm zu einer Berufskrankheit geworden, die manchmal bis in sein Privatleben drang. Oder zumindest gewisse Symptome hervorrief. Vielleicht war es auch einfach ein geschärfter Spürsinn. Oder er hatte Überempfindlichkeiten entwickelt, wenn er auf einen gewissen Typus Mensch stieß – den unangenehmen, den, der etwas zu verbergen hatte. Als solcher Typus erschien ihm Pater Anzelm. Aber vielleicht lag seine Abneigung einfach daran, dass er Priestern generell nicht mit Sympathie gegenüberstand. Damals hatte er nur möglichst schnell einig werden wollen mit dem Mann und alle anderen organisatorischen Fragen auf einen späteren Zeitpunkt verschoben.

Jetzt lag fast alles hinter ihm. Die morgige Hochzeit würde der Höhe- und zugleich Endpunkt all dessen sein, worum er sich in den vergangenen Monaten gekümmert hatte. Und heute war der Tag der letzten Kontrolle.

»Herr Regierungsrat!« Die Stimme war unverkennbar jene von Pater Anzelm.

Gepresst kamen die Worte hervor und Dr. Fried konnte sich gut vorstellen, dass der unter dem Bart verborgene Mund ein ebenso schmaler Strich war wie die beiden Augen. Akzent war fast keiner zu hören, lediglich ein etwas anderer Klang, als man ihn vom Wiener Zungenschlag gewohnt war.

»Herr Regierungsrat!«, wiederholte er, lauter als beim ersten Mal, und eilte mit großen Schritten und ausgestreckter Hand auf den Oberinspektor zu.

Pater Anzelm war die übertriebene Freundlichkeit in Person. Dr. Fried hatte die vereinbarte Summe für den Tag vor der Hochzeit zugesagt, also für heute. Vielleicht war Pater Anzelms Laune deswegen so gut? Manchmal sah Dr. Fried nur das Schlechteste in einem Menschen.

»Ein schöner Tag heute«, stellte Pater Anzelm fest, und es war Dr. Fried nicht klar, ob er das Wetter meinte oder den Umstand seines geldversprechenden Erscheinens.

Pater Anzelm ergriff Dr. Frieds Hand und schüttelte sie bedächtig. Er hielt sie lange fest, Dr. Fried wollte sie ihm nicht brüsk entreißen, es wäre ihm als ein doch zu unfreundlicher Akt erschienen. In Pater Anzelms schmalen Augen zeigte sich ein Glanz, den Dr. Fried nicht einer seligen Entrückung zuschrieb.

»Sie wollen sicher die Kapelle besichtigen?«, fragte der Geistliche eher rhetorisch.

»Darum bin ich hier«, antwortete Dr. Fried und erhielt endlich seine Hand zurück.

Sie standen in einem kurzen Gang, an dessen Ende eine dunkelbraune Holztür einen Spalt geöffnet war. Dahinter, so wusste Dr. Fried von seinen früheren Besuchen, lagen ein paar kleine Räumlichkeiten, eine davon das Büro des Paters.

Links an der Längsseite des Ganges gab es zwei weiß lackierte Türen. Die erste stand weit offen, die zweite war geschlossen. Es waren die Türen zu den beiden ehemaligen Wohnräumen Stanisław Kostkas und seines Bruders, die später zu einem Raum zusammengelegt worden waren, um eine Kapelle von halbwegs ausreichender Größe zu gestalten. Sie war im 18. Jahrhundert mit viel Stuck, Marmor und Goldplattierungen ausgestattet worden und wirkte seitdem protziger, als ihre übersichtlichen Ausmaße es eigentlich zuließen. Dr. Frieds verstorbene Frau war von Kindesbeinen an in diese Kapelle verliebt gewesen und hatte die Gottesdienste dort regelmäßig besucht. Als nicht intensiv religiöser Mensch hatte Dr. Fried ihren Wunsch, dort zu heiraten, von vornherein respektiert, und seine Schwiegereltern hatten mit viel Freude das Aufgebot übernommen.

Mit ähnlicher Freude war nun Dr. Fried als Brautvater am Werke. Der Blumenschmuck sollte üppig sein, das würde er gleich zu sehen bekommen, weiße Rosen in rauer Menge. Dazu – ebenfalls reichlich – großflächige tiefgrüne Blätter, vor allem seitlich vom Altar. Jede der Stuhlreihen war mit einem zarten Bukett geschmückt, hier dominierte die Farbe der Liebe: ein inniges, ein tiefes Rot.

Ja, Dr. Fried konnte auch kitschig sein. Wer behauptete, dass ein Kriminaloberinspektor nicht in der Lage war, romantische, gefühlvolle Saiten zum Klingen zu bringen, hatte keine Ahnung. Seine Frau – Gott hab’ sie selig – hatte das immer gewusst.

»Nach Ihnen, Herr Regierungsrat«, sagte Pater Anzelm und ließ Dr. Fried den Vortritt durch die offen stehende Tür. Der erste Eindruck erschütterte Dr. Fried, aber in positiver Weise. Schon allein der Duft, der den kleinen Raum erfüllte, umschmeichelte ihm das Vaterherz und trieb ihm beinahe Tränen der Rührung in die Augen, als er sich Amalia und Max vor dem Altar kniend vorstellte.

Die Bestuhlung war schlicht. Auf der Sitzfläche jedes mit weinrotem Plüsch bezogenen Stuhles lag eine cremeweiße Karte aus stärkerem Papier, auf die in goldenen Lettern ein passendes Zitat aus der Bibel gedruckt war sowie die Namen des Brautpaares und das Hochzeitsdatum. Max Becker und Amalia hatten sich gemeinsam für Johannes 15,12 entschieden:

Das ist mein Gebot: Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe.

Wiederholte sich alles im Leben von Generation zu Generation? Oder waren das nur die sentimentalen Gefühle und Interpretationen eines alt werdenden Vaters? Dr. Fried sah vor seinem geistigen Auge sich selbst in jungen Jahren durch diese Tür schreiten, seine Braut am Arm, die Musik kam von einer mobilen Orgel, wie er sie auch für morgen organisiert hatte.

Das Instrument stand ganz hinten in dem Raum, unter dem von außen mit einem Schmiedeeisengitter geschützten Fenster, das auf die Kurrentgasse hinauswies. Er hatte dafür auf die letzten beiden Stuhlreihen verzichtet, aber angesichts der überschaubaren Festgemeinschaft war das kein Problem. Es gab ausreichend Sitzplätze für alle.

»Nun?«, fragte Pater Anzelm. Er stand mit gefalteten Händen neben Dr. Fried und dünstete geradezu eine unerträgliche Selbstzufriedenheit aus. Als ob das alles hier sein Verdienst wäre.

Dr. Fried nickte. Sollte der Priester sich doch in seinem Wohlgefühl baden. Im Grunde war er die unwichtigste Person von allen, wenngleich er sie nicht völlig ausschließen konnte. Auch zur Festtafel direkt nach der Trauung würde er ihn einladen. Er musste ihn ja nicht gerade neben sich platzieren. Vielleicht neben Amalias Tante, der Schwester seiner verstorbenen Frau? Sie führte gerne Gespräche mit Geistlichen.

»Es ist genau so, wie es sein soll«, stellte Dr. Fried fest.

»Das war nicht anders zu erwarten«, bestätigte Pater Anzelm. »Ich habe auf alles höchstpersönlich geachtet. Als der Blumenschmuck geliefert wurde … Ach, übrigens: Dürften wir diesen nach der Zeremonie in der Kapelle behalten? Sozusagen als Spende. Er würde unseren geweihten Ort noch wenigstens eine Woche lang schmücken.«

Der Priester grinste Dr. Fried an, der, ohne eine Miene zu verziehen, nickte. Was sollte er mit dem vielen Blumenzeug auch zu Hause anfangen?

»Wie gesagt, ich habe alles überwacht. Der Bursche vom Floristen hat den Schmuck pünktlich gebracht heute Früh und ich habe ihn genauestens angewiesen, wie die Blumenpracht zu arrangieren ist.«

Wenn man ihm länger zuhörte, bemerkte man, dass Deutsch nicht seine Muttersprache war. Er sprach perfekt, kein Zweifel, aber Vokale, die lange ausgesprochen gehörten, gerieten bei ihm regelmäßig etwas zu kurz.

Wiederum nickte Dr. Fried. »Gute Arbeit, wirklich«, stellte er fest und meinte nicht Pater Anzelms Überwachungstätigkeit.

»Bald darauf kam die junge Dame von der Druckerei, die Sie beauftragt haben. Ich bin die ganze Zeit hier gestanden«, Pater Anzelm deutete auf den Türrahmen hinter ihnen, »während die junge Dame gewissenhaft jede Karte einzeln aufgelegt hat. Ich war so frei, mir eine zu nehmen. Als Erinnerung sozusagen.« Wieder grinste er. »Und ich war ebenfalls so frei, dem Burschen und der jungen Dame jeweils ein angemessenes Trinkgeld zu geben …« Seine Augenbrauen schossen in die Höhe, die plötzlich groß gewordenen Augen waren starr auf Dr. Fried gerichtet.

Der verstand, was dies zu bedeuten hatte, und erinnerte sich an das Kuvert, das er in der Innentasche seiner Jacke verwahrte. Bei dieser Summe sollte sich das Trinkgeld locker ausgehen, dachte er sich, ließ sich aber nichts anmerken. Wichtig war einzig und allein, dass das Fest morgen gelang.

»Dann wollen wir vielleicht …« Pater Anzelm zögerte.

Dr. Fried ließ noch einmal den Blick wandern. Das Altarbild war eine der vielen kleinen Besonderheiten der Kapelle. Es war auf Goldgrund gemalt und stellte die Kommunion des heiligen Stanislaus aus der Hand eines Engels dar. Auf diesem als Wunder deklarierten Ereignis basierte seine spätere Heiligsprechung. Und hier, in diesen Räumen, in Dr. Frieds Heimatstadt Wien, hatte sich dieses Wunder ereignet. Wenn man denn daran glaubte.

Dr. Fried jedoch war ein nüchterner Mann. Insofern beeindruckte ihn der Raum nur als Ort der Erinnerung an seine eigene Hochzeit, seine jungen Jahre. Auch der an Girlanden erinnernde Stuck an der Decke war sicherlich beachtenswert, Dr. Fried aber nahm ihn schlicht und ergreifend als gegeben hin.

Der Stuck umrahmte zwei Deckenmedaillons, die Szenen aus dem Leben des Heiligen darboten. Das eine zeigte die aufregende Flucht Stanisław Kostkas aus Wien vor den Jesuiten, die ihn aus Angst vor seiner Familie nicht in ihren Orden aufnehmen wollten. Das andere stellte seine Aufnahme in den Jesuitenorden in Rom durch den damaligen General Francisco de Borja dar.

Als Dr. Fried sich gerade zum Gehen umwandte, fiel sein Blick erneut auf den Altar. Unscheinbar standen dort zwei hölzerne Statuen. Ein Petrus, einige Jahrhunderte alt, etwa sechzig Zentimeter hoch und braun. Von seinem Heiligenschein waren ein paar Strahlen abgebrochen. Daneben war eine aus Holz geschnitzte Darstellung der Taufe Christi durch Johannes aufgestellt. Dr. Fried näherte sich dem Petrus, der fein gearbeitet war und doch ausgesprochen massiv wirkte, und besah ihn sich genauer.

»Eindrucksvoll«, murmelte er so leise, dass Pater Anzelm ihn wohl nicht hörte.

»Dann wollen wir vielleicht in mein Büro gehen?«, setzte der Geistliche erneut an, bekreuzigte sich bei einem angedeuteten Kniefall vor dem Altar und ging voraus. Dr. Fried machte ebenfalls das Kreuzzeichen, eher aus alter Gewohnheit als aus religiöser Überzeugung, und folgte dem Mann in der schwarzen Soutane.

»Ja, der Petrus«, schwadronierte Pater Anzelm, während sie über den Gang schritten. Er hatte Dr. Frieds Interesse voller Genugtuung zur Kenntnis genommen. »Die Statue ist mehrere hundert Jahre alt. Dafür ist ihr Zustand ausgezeichnet«, beurteilte Pater Anzelm, wohl unter Anspielung auf den lädierten Heiligenschein.

»Ein kostbares Stück«, überlegte Dr. Fried. »Und Sie lassen den Petrus einfach so offen und ungeschützt auf dem Altar stehen?«

Pater Anzelm lächelte milde. »Ja, wahrhaft kostbar. Der Wert der Statue ist pekuniär nicht zu bemessen. Sie ist wahrlich unersetzlich. Aber in unserer Stanislauskapelle ist noch nie etwas passiert. Die Menschen sind ehrlicher, als Sie denken, Herr Regierungsrat. Doch bei Ihrem Beruf kann ich Ihre Bedenken verstehen.«

Pater Anzelm zog die braune Tür am Gangende auf und ließ Dr. Fried den Vortritt, bevor er wieder die Führung übernahm. Der kurze Gang dahinter führte in drei weitere Räume, von denen Dr. Fried einen bereits kannte. Genau diesen betraten sie.

Ein kleiner massiver Schreibtisch dominierte das Zimmerchen, dessen minimales Fenster auf die Straße wies. Es spendete ausreichendes Tageslicht, um den günstig aufgestellten Schreibtisch auszuleuchten.

Der Stuhl des Priesters war ein schwarz lackierter Drehholzstuhl. An der Seite des Tisches stand ein vierbeiniger Stuhl mit einer hellen Rattansitzfläche. Man saß nicht sonderlich bequem darauf, wie Dr. Fried bereits wusste, doch er nahm auch diesmal darauf Platz, nachdem er den Staubmantel über die Lehne geworfen hatte. Den Hut legte er sich auf den Schoß und schob die rechte Hand in das Innere seiner Jacke.

Pater Anzelm sah ihm aufmerksam dabei zu. Wäre Dr. Fried Maler gewesen und hätte den Auftrag erhalten, eine Allegorie der Geldgier zu malen, er hätte die Augen und Stirnpartie dieses Mannes gewählt.

Dr. Fried zog ein weißes Kuvert hervor. Es war verschlossen und bedruckt mit dem Schriftzug »Institut der k. u. k. Polizeiagenten in Wien«. Er hatte den Umschlag aus dem Büro mitgenommen. Langsam reichte er ihm dem Priester hinüber, der nur mehr an der äußersten Kante seines Stuhles saß und fast herunterzukippen drohte.

»Haben Sie besten Dank, besten Dank, Herr Regierungsrat!« Pater Anzelm drehte das Kuvert kurz in den Händen, tastete es mit Zeige-, Mittelfinger und Daumen ab und legte es dann ungeöffnet auf seinen Schreibtisch.

»Wollen Sie nicht nachzählen?«, fragte Dr. Fried und musste sich eingestehen, dass er dem Geistlichen brennendes Interesse daran unterstellte, das Kuvert wild aufzureißen und die Geldscheine herauszuziehen.

»Aber Herr Regierungsrat!«, widersprach Pater Anzelm vehement. »Ich habe natürlich das vollste Vertrauen zu Ihnen. Sie würden mir sicher nicht weniger als die angemessene Summe überreichen.« Er klopfte mit den Fingern auf den Umschlag. »Außerdem: Morgen ist ja auch noch ein Tag, und ich denke, die Kollekte bei der Hochzeitsmesse wird noch einiges bringen. Die Stanislauskapelle wird es Ihnen danken. Ich werde es Ihnen danken. Ach, was sage ich: Unser heiliger Stanislaus wird es Ihnen danken!«

Sein Blick richtete sich hinauf gen Himmel, wurde jedoch abrupt abgebremst von der schmutzig weißen Decke des kleinen Zimmers, in dem die beiden Männer beisammensaßen.

Drittes Kapitel:
29. Juni, vormittags

»Fräulein Dr. Amalia Wilhelmina Fried! Wollen Sie den hier anwesenden Herrn Ingenieur Maximilian Ritter von Becker zu Ihrem Gemahl nehmen, ihn lieben und ehren …«

Amalia Fried träumte vor sich hin. Sie stand in ihrem Brautkleid vor dem Spiegel und betrachtete sich ausgiebig von vorne, von links, von rechts und drehte ihren Oberkörper in alle Richtungen. Ihre beiden besten Freundinnen Julia und Veronika waren in der Rolle der Brautjungfern bei ihr, und das Lachen, Kichern und die endlose Freude nahmen kein Ende. In wenigen, sehr wenigen Stunden würde sie Frau Becker sein.

Das Collier ihrer verstorbenen Mutter trug sie um den Hals. Es lag auf dem züchtigen Ausschnitt und glänzte, als wäre es neu. Ihr Vater hatte es aufpolieren lassen. Eine dicke, hüfthohe Kerze stand neben dem Spiegel, weiß, mit der Aufschrift »Mama«. Amalia würde sie höchstpersönlich auf dem Altar platzieren und somit ihrer Mutter die Anteilnahme an ihrem bisher schönsten Lebensmoment ermöglichen. So hatte sie es sich immer in ihrer Fantasie ausgemalt, seinerzeit als Siebzehnjährige, bald nach Mutters Tod, und jetzt als neunundzwanzigjährige Frau mit einem abgeschlossenen Psychologiestudium. Sie hatte gelernt, als Frau ihren Mann zu stehen.

Ihr Vater war stolz auf sie. Sie hatte sich in schweren Jahren ihres Lebens bewährt, sie war nicht untergegangen. Sie wusste sehr wohl, dass es seine Angst gewesen war, dass die junge Frau, noch Schülerin, abstürzen könnte. Ja, es hatte Irritationen gegeben. Sie hatte sich schwer getan mit dem Lernen, ganz plötzlich. Was ihr zuvor leicht von der Hand gegangen war, hatte sich nun schwierig, zäh und mühsam gestaltet. Doch ihr Vater hatte sie immer unterstützt und ihr gut zugeredet. Er war ein guter Vater gewesen. Und war es noch.

Ihr Vater mochte Maximilian Ritter von Becker. Vielleicht sah er in ihm jenen Schutz und jene Sicherheit für seine Tochter, nach denen er immer gestrebt hatte. Ein klassisches Männer- und Ehebild. Sie nahm es ihrem Vater nicht übel, er gehörte schließlich einer anderen Generation an. Und sein Motiv war allemal ehrenhaft.

Julia und Veronika schwirrten um Amalia herum und zupften hier und zupften da. Nicht mehr lange und das Automobil, das ihr Vater bestellt hatte, würde vorfahren. Es würde Amalia mit ihren Brautjungfern und ihrem Vater in nicht einmal zehn Minuten von zu Hause zur Stanislauskapelle bringen.

»Idiotische Maschen!« Dr. Fried stapfte zornig in das Zimmer und unterbrach die flirrende Freude der jungen Frauen. »Das kann man einfach nicht binden!«, beklagte er sich und hielt Amalia die schwarze Schleife entgegen. Er weigerte sich standhaft, vorgebundene Fliegen anzulegen. Als Mann und Herr von Format hatte er gewisse Prinzipien.

Amalia lächelte milde. Tante Lucia hatte ihr oft erzählt, wie sich ihr Vater damals vor der eigenen Hochzeit mit der Schleife eine wahre Schlacht geliefert hatte. Schweißgebadet war er schließlich vor den Altar getreten. Ihr Vater erzählte die Geschichte freilich anders, allerdings doch nur in kleinen Details abweichend.

»Komm her, ich mach’ dir das!« Sie winkte ihn vor den Spiegel und band hinter ihm stehend geduldig eine wohlgeformte Schleife.

»Sehr gut«, zeigte sich Dr. Fried zufrieden und bedankte sich mit einem Kuss auf die Stirn seiner Tochter. Nun konnte er sich in aller Ruhe die Manschettenknöpfe anlegen und die dunkelgraue Weste anziehen.

»Max wird staunen!«, sagte er, als er das Zimmer wieder verließ. »Eine schönere Braut habe ich nie zuvor gesehen.« Und er dachte – ohne es auszusprechen – kurz an seine verstorbene Frau.

Er fühlte längst keinen Schmerz mehr, schon seit fast ewig empfundenen Jahren nicht. Es war eher ein sentimental-schönes Gefühl, das in ihm hochstieg, wenn er sich an seine Frau erinnerte. Ein wärmendes Erinnern. Ein Erinnern, das ihm immer wieder zuflüsterte: »Es war gut, wie es war. Und gut ist es auch jetzt.« Wäre Dr. Fried ein tiefgläubiger Mensch gewesen, er hätte sich einreden können, dass es die Stimme seiner Frau aus dem Jenseits war, die ihm diese Erkenntnis einflüsterte. Natürlich hatte er ein »Recht«, erfüllt weiterzuleben; die »Pflicht« in Gestalt des ihm anvertrauten Kindes verließ mit dem heutigen Tag seinen Haushalt.

Sein Leben würde sich massiv ändern. Es gab keine Amalia mehr, die sich um seine Wohnung, seinen Haushalt, seine alltäglichen Bedürfnisse kümmern würde. Sie hatte das immer getan, seinerzeit neben der Schule, später neben dem Studium und zuletzt neben ihrer Tätigkeit in der vor zwei Jahren gegründeten Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Professor Freud persönlich hatte sie dem Präsidenten der Vereinigung, Carl Gustav Jung, als Mitarbeiterin vorgeschlagen und der hatte sie sofort mit offenen Armen aufgenommen. Und das, obwohl sie keine Jüdin war. Das fand Dr. Fried beachtlich. Nicht dass er antisemitische Haltungen vertreten würde, aber er wusste doch, dass die Juden gerne unter sich blieben.

Dr. Fried erinnerte sich an den vor zwei Jahren verstorbenen Bürgermeister Dr. Karl Lueger und seinen berühmt gewordenen Ausspruch: »Wer ein Jud’ ist, bestimme ich.« Damit war eigentlich alles gesagt, fand Dr. Fried. Die Judenfrage war weder ein Problem noch ein politisches Thema, wozu manche Gruppierungen es machen wollten. Und ob man Juden mochte oder nicht, war eine ganz persönliche Entscheidung. Dr. Fried traf diese Entscheidung stets neu gegenüber einem jeden Individuum.

Auf der Konsole im Vorzimmer lag eine längliche weiße Schachtel mit geöffnetem Deckel. Darin befand sich achtlos zusammengeknüllt weißes Seidenpapier. In dieses würden sie die Kerze einpacken und in der Schachtel behutsam zur Kapelle transportieren. Es würde eng werden zu viert.

Dr. Fried fühlte sich wie im Staatsornat. Er hätte auch seine Paradeuniform anziehen können, aber schließlich war die Hochzeit kein offizieller Staatsakt, sondern ein privates Fest. Dementsprechend ging er in Zivil. Die weiße Nelke im Knopfloch seines Sakkos war das Einzige an Auszeichnung, was er zuließ: die Auszeichnung als Brautvater.

»Wir wären so weit, Paps!«, erklang von hinten Amalias Stimme.

Sie war noch nicht zu sehen, aber ihre beiden Freundinnen flatterten in ihren Brautjungfernkleidern wie Kolibris auf ihn zu. Dahinter tauchte wie ein Schemen Amalia auf. Mit beiden Händen umfangen trug sie die Kerze für ihre Mutter und ging zügig auf die Konsole zu. Gemeinsam mit Dr. Fried verpackte sie die Gedenkkerze und hielt kurz inne, einen festen Blick auf ihren Vater gerichtet. Der erwiderte den Blick, mild, bestimmt. Er nickte. Mehr nicht, das genügte. Es war der richtige Gedanke und es war die richtige Tat. Sie würden die Kerze nicht, wie den Blumenschmuck, in der Kapelle lassen, sondern zur anschließenden Festtafel mitnehmen. Am Ende würde Amalia sie in ihr neues Zuhause, in Max’ Wohnung, bringen und ihr dort einen angemessenen Platz geben.

Max Becker hatte von Anfang an Verständnis für die Idee mit der Kerze gehabt. Er hatte Amalia sogar darin bestätigt. Er selbst hatte seinen Vater verloren, als er ein kleiner Junge war. Er hatte noch viele Erinnerungen an ihn, und oft tauschten er und Amalia ihre Erinnerungen aus. Als Amalia ihn gefragt hatte, ob er nicht ebenfalls eine Kerze für seinen Vater aufstellen wollte, hatte er nur den Kopf geschüttelt. Er hatte für einen Augenblick das Gesicht abgewandt – vielleicht um Tränen zu verbergen? Amalia hatte ihn innig umarmt und in dieser Umarmung, die er nie wieder lösen zu wollen schien, hatte er es ihr wie eine Beichte erzählt: Sein Vater hatte sich das Leben genommen.

»Ich denke, der Wagen steht bereits unten«, sagte Dr. Fried.

Die Aufregung nahm zu. Sein Herz schlug heftiger, die beiden Brautjungfern waren überhaupt nicht mehr zu bremsen in ihrem Geplapper, und Amalia umklammerte mit weit aufgerissenen Augen die Schachtel mit der Kerze.

»Gehen wir«, hauchte sie, dann lachte sie ihren Vater und die beiden Brautjungfern an und schlüpfte als Erste zur Wohnungstür hinaus.

Der Motor des schwarzen H 10 Reichenberger mit aufgeschlagenem Verdeck tuckerte vor sich hin. Der Chauffeur saß in Livree und mit Kappe am Steuer und blickte geduldig, vielleicht sogar gelangweilt auf die Gruppe, die eben aus dem Haustor trat. Eine Person durfte neben ihm Platz nehmen und dieses Vorrecht hatte Dr. Fried vorab für sich ausbedungen. Wenn man schon einmal mit einem dieser modernen Geräte, die sich Taxis nannten, fuhr, dann wollte er es auch entsprechend auskosten.

Bezahlt war der Wagen bereits. Dr. Fried hatte vor einigen Tagen alles mit dem Chef des Chauffeurs ausverhandelt, eine einfache Fahrt, den Weg zurück würden sie zu Fuß gehen oder eine Pferdekutsche nehmen, jeder in einen Teil der Stadt.

Das Fahrzeug war laut. Die gute Stimmung der jungen Frauen sank in ungeahnte Tiefen, während sie rumpelnd und sich immer wieder die Ohren zuhaltend in Richtung Stadtzentrum unterwegs waren. Die Straßen waren teilweise holprig, ein Vergnügen war die Fahrt nicht. Aber sie bewegten sich wenigstens auf den modernen Höhen ihrer Zeit.

Dr. Fried ließ den Wagen in der Tuchlauben halten. Den Weg zur Kapelle durch die Steindlgasse wollten sie zu Fuß zurücklegen. Das Trinkgeld für den Chauffeur fiel angemessen aus, Dr. Fried erkannte es an dessen Gesichtsausdruck. Als Kriminalinspektor hatte er gelernt, die Gesichter der Menschen zu lesen – wenigstens bis zu einem gewissen Punkt. Geständnisse hatte er, zugegebenermaßen, bislang noch nicht aus dem Mienenspiel von Tätern herausfiltern können.

Der Weg führte sie an der Bierklinik vorbei, in der sie nachher die Hochzeitstafel haben würden. »Anton Polan’s Restauration« stand breit über dem Eingangstor, das in einen Hof führte.

Dr. Fried und die jungen Frauen waren nicht die Ersten. Tante Lucia stand mit ihrem Mann vor dem Haustor der Kurrentgasse 2 und schien schlagartig erleichtert, als sie die Braut und ihre Brautjungfern erblickte. Dr. Frieds Schwägerin war kinderlos geblieben, was ihr Mann Georg – so unterstellte Dr. Fried es jedenfalls, wenngleich er es nie gewagt hätte, das in Gegenwart von Lucia auszusprechen – als absoluten Vorteil betrachtete. Auch der andere, der neue Teil der Familie traf gerade ein. Maximilian Ritter von Becker, umrahmt von einer älteren und einer jüngeren Frau, schritt eilig in ihre Richtung.

»Diese Fiaker!«, schimpfte er vor sich hin. »Vermaledeite Kerle! Wissen die nicht, wie sie hierher fahren sollen?«

Da hatte es Dr. Fried mit seiner krachenden Maschinenkutsche wohl doch besser getroffen. Er küsste Frau Becker die Hand, erst der älteren, dann der jüngeren. Den Bräutigam hieß er sogar mit einer innigen Umarmung willkommen. Max Beckers Schwester war ein bildhübsches Geschöpf, aber anscheinend etwas simpel gestrickt. Ihr Lächeln, so strahlend und sympathiegewinnend es auch sein mochte, stand wie eingefroren in ihrem Gesicht und schien sich gar nicht mehr auflösen zu wollen. Hoffentlich kein Krampf, dachte Dr. Fried sich unwillkürlich und ermahnte sich in aller Stille sogleich wegen derart unpassender Gedanken.

937,48 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
222 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783839270127
Издатель:
Правообладатель:
Автор
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