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Читать книгу: «Die Sanduhr in meinem Kopf», страница 2

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Nachtrag

Diese kurze Erzählung über die Ärztin Agnodike war längst aus den Bildern in meinem Kopf zu Wörtern auf dem Papier verwandelt, als ein nicht ganz unbekannter Regisseur bei mir anrief, um anzufragen, ob ich für die Wormser Festspiele ein Stück schreiben könne. Was für ein Stück? Das Thema könne ich mir aus dem antiken Griechenland fischen.

Noch den Hörer am Ohr fiel mir Agnodike ein. War sie ein Thema für die Bühne? Drei Akte: Leben auf der Agora, Szenen im Gefängnis, Treffen der Frauen. Das könnte gehen.

Was mich von Agnodike Abstand nehmen ließ, war der Einwand, wer denn diese Frau, auf die ich durch einen Zufall gestoßen war, überhaupt kenne?

Agnodike hat einfach das Pech, zu sehr eine unbekannte Bekannte der Geschichte zu sein. Das attische Licht der Frauen wurde nicht völlig vergessen, aber auf die Erinnerung an sie fiel der breite Schatten der herrschenden Männerwelt. Sie ist und bleibt auf jeden Fall ein Juwel für meine Sammlung bemerkenswerter Frauen und steht zu Recht am Anfang dieser Geschichten.


Die Gefährtin
Maria Magdalena, Zeugin der Auferstehung

Immer habe ich die chaotischen Bilder dieser Sturmnacht vor Augen, denke ich an die Frau, die ich Mirjam nenne. Vor einigen Tagen habe ich Mirjam tot in der Höhle gefunden. Nachdem ich dem Ältesten der Gemeinde die Kunde brachte, holten sie die Tote und taten, was ihnen ihr Glaube gebot.

Ich sitze auf der Bank vor meinem Haus und denke über Mirjam nach. Hinter dem Kiefernwäldchen weiß ich das Meer. Es kann rau, sogar wütend, meist aber ebenso friedlich und lockend sein. Über den jetzt dunklen Bäumen ist gerade der Feuerball des Tagesgestirns versunken, malt noch das Firmament rot an. Das idyllische Bild verleiht meinen Gedanken Flügel, lässt den alten Mann, der ich bin, fliegen.

Mein Sinnen trägt mich leicht in die Zeit zurück, als mein Leben von einem zum anderen Tag einen wirklichen Sinn bekam. Bis dahin lebte ich, wie alle meine Kameraden, den geregelten Ablauf eines Soldaten des römischen Reiches. In meinem Fall das eines Hilfssoldaten in der kaum im Licht stehenden Region Provincia.

Dafür, dass ich kein Römer war, hatte ich viel erreicht, was auch meiner besseren Bildung – ich konnte lesen und schreiben – zu danken war. Ich hatte die Führung über zwanzig Soldaten, Teil einer Kohorte, die im Kastell Massalia (Marseille) stationiert war, um einen bestimmten Strandabschnitt und das dahinter liegende Land bis zum nächsten Schnittpunkt zu kontrollieren.

Seit Tagen wurden wir von wütendem Sturm und peitschendem Regen heimgesucht, zu dieser Jahreszeit allerdings kaum ungewöhnlich. Bist du bei diesem Wetter als Soldat auf einem Kontrollgang, musst du die Unbilden stoisch hinzunehmen lernen.

Ich hatte die Protokolle vom Abend und dem ersten Teil der Nacht fertig gemacht, mich gerade eben auf die Pritsche gelegt. Wieder einmal war ich hundemüde, hatte keinen dankbaren Gedanken übrig für die Wohltat der kurzen Ruhezeit im Trocknen und Warmen, da fühlte ich mich an der Schulter gepackt und angerufen.

Noch duselig im Kopf erfasste ich, es ging um ein Schiff, das den Felsen zu nahe gekommen und zerschellt war. Darauf eingeübt im Schlaf noch richtig zu funktionieren, sprang ich vom Lager, warf mir den noch feuchten Umhang über, stülpte mir den breiten Hut auf den Kopf. Gleich waren wir draußen in der so hässlichen wie finsteren Nacht. Sturm und Regen kamen immer noch vom Meer her. Besser würde es erst, wenn sich die Richtung änderte.

Wir stolperten zu viert tief gebückt dem Wald entgegen, der uns für eine Weile gegen den Wind schützte. Gleich darauf waren wir am oberen Strand, jetzt als Winzlinge den bösen Riesen hilflos ausgesetzt.

Wir eilten den flachen Hang im nassen Sand hinunter. Vor uns tauchten als dunkle Ungeheuer die schroffen Felsen auf. Die wildschäumenden Wellen umspülten immer wieder unsere Füße. Wir achteten nicht darauf, starrten in das diffuse Dunkelgrau, in dem wir das zerschlagene Segelschiff mehr ahnten als sahen. Wir konnten keine Lebenszeichen am Wrack erkennen. Nur ein helles Blitzen war hin und wieder auszumachen, die zerfetzten Reste des Segeltuchs.

Aus Erfahrung war uns klar: Zu machen war da im Moment nichts. Wir wandten uns ab, stapften im nassen Sand mit krummen Rücken den Strand entlang bis zu der Stelle, wo wir über uns die Höhlen wussten. Sehen konnten wir sie nicht. Dennoch zog es mein Gesicht in die Höhe, setzte es ungeschützt dem Regen aus. Ahnte ich da schon das Ungewöhnliche, das dort oben wartete und mein Leben verändern sollte?

Wir kehrten dem Sturm den Rücken und traten den Rückzug an.

Stunden später, der Sturm war zu einem harmlosen Wind geworden, der Regen kaum noch der Rede wert, der Himmel heller, ich saß am Tisch und schrieb, da wurden zwei fremde Männer in den Raum geführt. Mir wurde gesagt, sie seien vom Strand her ins Dorf gekommen. Immer wieder hätten sie vergeblich versucht, Kontakt aufzunehmen.

Die Fischer hier sprachen ihren Dialekt. Sie konnten kein Latein. Und die Fremden sprachen gutes Latein, was auf bessere Kreise, nicht auf Seeleute schließen ließ. Sie standen mitten im Raum, ich hörte ihnen vom Tisch aus zu, was sie zu sagen hatten.

Meine erste Vermutung, sie stammten von dem zwischen die Felsen geschleuderten Schiff, stellte sich schon nach den ersten Sätzen als richtig heraus. Sie hatten sich an Land gerettet, dem Himmel sei Dank. In einer der Höhlen über dem Strand hatten sie Zuflucht gefunden. Ihre Namen gaben die Männer mit Joseph und Lazarus an. Mit ihnen waren drei Frauen, ein kleines Kind und ein Seemann, der sie mit dem Segelschiff über das Meer gebracht hatte, gekommen. Dieser hatte sich bei der Rettung der Frauen verletzt. Er lag in der Höhle und brauchte Hilfe.

Für mich gab es also zwei Gründe, um unverzüglich aufzubrechen: zum einen der Verletzte, zum anderen, um mich mit meinen Augen zu versichern, ob die Männer die Wahrheit sagten. Die Schmuggler, von denen es nicht wenige gab, waren ziemlich findig und geschickt, um uns immer wieder an der Nase herumzuführen.

Wir waren zu Dritt, geführt von den Fremden. Als wir den Felsen näherkamen, brach der erste Sonnenstrahl durch die dahinfliegenden grauen Wolken. Vor dem Höhleneingang setzten zwei Männer Fackeln in Brand. Vorsichtig gingen wir in das vor uns liegende Dunkel. Unsere Augen gewöhnten sich an das flackernde Licht der Fackeln. Wir sahen drei Frauen und einen am Boden liegenden Mann.

Die eine Frau hatte einen Säugling im Arm, eine war tief Schwarz mit großen erschrockenen Augen, die dritte bemühte sich um den auf dem harten Fels liegenden Mann. Es war nicht zu übersehen, dass alle jämmerlich froren.

Es dauerte eine ganze Weile und kostete einige Anstrengung, um die Schiffbrüchigen, vor allem den Verletzten in Sicherheit zu bringen. Wir brachten die Fremden in einem Nebengebäude unseres Hofes unter, sorgten für Feuer, Essen und Trinken, und ließen vom Heilkundigen den Verletzten untersuchen. Er hatte sich ein Bein gebrochen und mehrere Schnittwunden durch die scharfen Felskanten erlitten.

Während das alles geschah, saß ich in meinem Raum, dachte nach. Zweifel hatte ich keine mehr, dass diese Menschen Flüchtlinge waren. Ihre Angabe, sie stammten aus Palästina, also aus einer römischen Provinz, musste ich erst einmal glauben. Ich hatte keine Möglichkeit, das zu prüfen.

Erst am nächsten Tag fand ich die Gelegenheit ohne Zeugen mit dem Mann, der sich Joseph nannte, zu reden. Er war hochgebildet, sprach das reine Latein der Elite, war diplomatisch, versteckte sehr geschickt Fakten hinter allgemeinen Worten. Das Wort Flucht kam bei ihm nicht vor. Er behauptete, Kaufmann zu sein. Was natürlich wahr sein konnte.

Ich machte schließlich dem Getue ein Ende mit der Bitte, mir die Frauen vorzustellen. Wir gingen über den Hof, Joseph schritt voraus in das kleine Haus, winkte mich gleich darauf hinein. Die Frauen saßen auf der Bank an der Feuerstelle.

Da war Mirjam, die Frau mit dem Kleinkind. Sie schien der Mittelpunkt der Gruppe zu sein. Auch Joseph begegnete ihr mit auffallender Ehrfurcht. Martha war eine stille, auch noch junge Frau, und die schwarze Frau, Sarah, ihre Dienerin.

Es wurde mir erst einige Zeit später klar, dass das Kind, das sie David nannten, der unbedingte Mittelpunkt des kleinen Kreises war. Lazarus, ein netter, fröhlicher Mann, bezeichnete das Kind eines Tages, wohl aus Unachtsamkeit, als Heiliges Blut. Das war schon zu einer Zeit, als ich mir über den Sinn hinter dem Versprecher bereits einen Reim machen konnte.

Ich hatte mir keine Eile auferlegt, um über den Schiffbruch und die betroffenen Menschen nach Massalia zu berichten. Meine Worte dazu klangen harmlos und es wurde nie nachgefragt. Ich konnte weiterhin meine Hände über die Fremden halten. Sie stellten keine Gefahr dar, obwohl ich mir sicher war, dass sie ein Geheimnis hatten, das unmittelbar mit ihrer Fahrt über das Meer zusammenhing.

Nachdem die Fremden ihre Besonderheit im kleinen Fischerdorf verloren hatten, sich niemand mehr mit neugierigen Augen nach ihnen umdrehte, ihnen keine bösen Blicke mehr folgten, hielt ich die Zeit für gekommen, noch einmal mit Joseph zu sprechen. Ich wusste von ihm, dass sie keine armen Leute waren, sie nicht das blanke Leben gerettet hatten, sondern auch die prallen Säckchen mit den geprägten Münzen. Nicht direkt am, aber in unmittelbarer Nähe des Dorfplatzes stand ein Haus zum Kauf. Ich bot es Joseph an, machte den Vermittler zum Besitzer, dem Bürgermeister. Als sie wenige Tage später von unserem Hof übersiedelten, machte das kein Aufsehen im Ort. Sie sprachen bereits den provenzalischen Dialekt, schon besser als ich am Anfang hier.

Der Sommer kam ins Land und Joseph betrat meinen Amtsraum. Er fragte, ob ich ihn hindern würde, wenn er seine Reise fortsetzen würde. Allein? Ja, allein. Wohin? Zur Nebelinsel im Westen. Um was zu machen? Auch dort vom auferstandenen Erlöser zu erzählen.

Inzwischen wusste ich, von was er sprach, und ließ ihn ziehen.

Nur einige weitere Monde vergingen, als Lazarus mit dem gleichen Auftrag nach Massalia aufbrechen wollte. Er versprach, uns hin und wieder zu besuchen.

Wenn er dann tatsächlich für einige Tage vorbeikam, hoch zu Pferde, leuchteten seine Augen, berichtete er vom Leben der wachsenden Gemeinde in der Stadt. Er setzte sich mit Mirjam zusammen. Im Kreis erinnerten sie sich an den, dessen Gefährtin Mirjam gewesen war. Ein Wort, das ich aus ihrem Mund nie hörte. Sie sagte auch nicht Witwe, nur Erbin ließ sie gelten.

Dieses Erbe hatte Mirjam im Laufe der Zeit in eine leicht verständliche Form gegossen. Mit ihrem Charisma, ihrer Beredsamkeit, mit ihren blauen Augen, ihrer Lebendigkeit war sie eine Menschenfischerin. Mit der Zeit sammelte sie eine immer größere Anhängerschar aus dem Dorf und der Umgebung, in der Mehrzahl Frauen, um sich. Geeignete Mitglieder ihrer Gemeinschaft bildete sie selbst aus, um die frohe Botschaft weiter ins Land zu tragen. Meine Aufgabe, die ich mir selbst gestellt hatte, weil auch ich inzwischen an ihre Botschaft glaubte, war es, ihrem unbedingten Wollen den Rücken frei zu halten. Ein nicht immer leichtes Unterfangen.

Jesus, dem Mirjam und ihre Schar nachfolgten, der von sich sagte, »ich bin der, der ich bin«, war nach Mirjams Worten ein Nachkomme eines gewissen David von königlichem Blut. Mirjam war ein wichtiges Mitglied unter den Begleitern, die sie Jünger nannte, von diesem Jesus. Beide hatten eine besonders innige Verbindung zueinander gehabt. Er hatte sie ganz selbstverständlich in aller Offenheit auf den Mund geküsst. Mit verklärtem Gesicht schilderte sie mir einmal die Szene, wie sie Jesus die Füße mit kostbarem wohlriechendem Öl gesalbt hatte. Das war kurz vor dessen Tod gewesen. Er war am Kreuz gestorben, ein politischer, ein grausamer Tod. Und Mirjam war ihm bis zum Ende beigestanden. Sie war es auch, als alle seine Anhänger sich ängstlich versteckt gehalten hatten, die zum Grab gegangen war und es leer vorgefunden hatte. Kurz darauf war ihr der Gekreuzigte erschienen, der von den Toten Auferstandene.

Was für eine rührende Geschichte. Nicht nur allein weil Mirjam die Zeugin war, glaubte ich ihren Worten. Ich fühlte auch in mir die Wahrheit der Geschichte. Zudem meinte ich zu wissen, dass das eine völlig neue, eine große Geschichte war, deren Worte sie, Joseph und Lazarus mit dem Wind verbreiteten.

Und ich war dabei. Das empfand ich als Auszeichnung.

So oft es mir möglich war, betrat ich Mirjams Haus, nahm die gelassene Stimmung in mich auf. Alles war wahr in diesem Haus, die Lüge hatte keine Chance, Friede ging von hier aus.

In späteren Jahren zeigte sich bei dem Kind eine starke Persönlichkeit. David spielte die wilden Spiele der Dorfkinder mit, bestimmte allerdings mit feinem Gespür die Regeln. Streit schlichtete er schon geschickt, bevor er richtig ausbrach. War Mirjam von dunklem Typ, so war der Junge ihr Gegenteil. Er hatte eine leicht braune Haut, aber hellblonde dichte Locken. War Mirjams Gesicht eher voll, war seines schmal. Aber beide hatten dieses durchdringende Blau der Augen.

Eines Tages, David war inzwischen zehn Sommer alt, erschien wieder einmal Lazarus bei uns. Irgendwie ahnte ich, dass er dieses Mal mit einem Vorsatz gekommen war. Ich ließ ihn nicht aus den Augen. Er saß lange mit Mirjam im Schatten der Bäume im Garten.

Am nächsten Morgen ritt David, der Erbe des Heiligen Blutes, auf einem Esel neben Lazarus aus dem Dorf in Richtung Massalia. Aus welchem Grunde Lazarus ihn von den Frauen wegholte, habe ich nicht erfahren.

Kaum war David weg, zog sich Mirjam in die Höhle zurück, wie sie es von Zeit zu Zeit tat. Sie war für Mirjam ein Rückzugsort, an dem sie Zwiesprache mit ihrem Gefährten hielt, wie ich vermutete.

Irgendwann, David war schon länger nicht mehr da, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und wagte es, Mirjam in der Höhle aufzusuchen, sie in ihrer Ruhe zu stören. Ich meinte, sie trotz des schwachen Lichts lächeln zu sehen, als ich im Eingang meine Entschuldigung stotterte. Mirjam lud mich zum Sitzen neben ihr auf dem harten Boden ein. Lange schwiegen wir. Dann begann sie von dem Mann zu erzählen, den sie Rabbi nannte, von seinem Leben als Wanderprediger, seiner radikalen Gewaltlosigkeit. Sie malte mit Worten die Bilder vieler Menschen am Hang eines Berges, wo er von der Nächstenliebe predigte und die Leute fragten, »wer bist du?«.

»Ich bin der Menschensohn und immer da.«

Nach seinen so unverständlichen wie aufwühlenden Worten speiste er die Menge mit ein wenig Brot und einer Handvoll Fische.

Mirjam starrte an die Höhlenwand, wo sie in den springenden Schatten ihre Erzählung lebendig sah. Ich wusste von ihren Visionen, kannte diesen abwesenden Blick.

Sie sprach auch von der Hochzeit in einem Ort mit Namen Kana, wo es lustig zugegangen und voller Übermut gefeiert worden war. Ich fragte mich im Stillen, ob es ihre Hochzeit mit dem Rabbi gewesen war.

Mirjam sagte mir, ich dürfe immer zu ihr in die Höhle kommen, um mit ihr zu schweigen und auf ihre Worte zu hören. Einmal war ich bei ihr, als sie sich traurige, fast sehnsuchtsvolle Gedanken um ihre früheren Kameraden, den Jüngern des Herrn, machte. Wo waren Andreas, Simon, Philippos, Johannes, Jakobus, Thomas geblieben? Diese Namen habe ich mir gemerkt. Es können auch mehr gewesen sein.

Noch viel später, ich war längst zu einem Vertrauten geworden, sprach sie häufig über das Mysterium des Kreuzes. Diese mir dennoch rätselhaft gebliebene Frau betrachtete dieses Marterholz als ein göttliches Symbol. Für sie war es kein Zeichen des Todes sondern vielmehr eines des Lebens. Sprach sie solche Worte aus, leuchtete Mirjam von innen.

Viele Jahre gingen über unsere friedliche Gegend und sie erscheinen mir heute wie ein schöner langer Tag. Ich durfte diese Zeit nicht neben ihr, aber ganz in der Nähe Mirjams sein. Sie war zu einer bekannten Frau geworden und schon rankten sich Legenden um sie. Was da an Erzählungen entstand, hatte mit dem, was ich erlebte und hörte, nicht viel gemein. Die Menschen brauchen Leitbilder und schaffen sich aus besonderen Menschen gern Märchenfiguren. Ich weiß, dass es nicht wenige gibt, die im Namen Maria Magdalenas, meiner Mirjam, in Nöten den Himmel anrufen.

Eines Tages habe ich Mirjam in der Höhle gefunden. Obwohl mir der Weg, früher ein Katzensprung, viel Mühe, auch Schmerzen bereitete, verließ ich voller Freude mein kleines Haus. Es war mir nach den vielen Jahren Dienst zum Geschenk gemacht worden. Zudem war ich jetzt ein Römer. Ich hatte mir beides wahrlich verdient.

Mirjam lag im hellen Bereich der Höhle, nahe dem Eingang. Ihre blauen Augen sahen direkt in den ebenso blauen Himmel. Auf ihrem noch immer schönen Gesicht war ein Lächeln zurückgeblieben. Kein Zweifel, sie war freudig hinübergegangen in das unbekannte Land, das sie ewiges Leben nannte.

Wo ist Mirjam jetzt? Ist sie bei ihrem Gefährten, dem, der gesagt hat, »ich bin der, der ich bin«, dem von den Toten auferstandenen Rabbi?

Wenn ich heute auf meiner Bank über Mirjam nachdenke, geht mein Blick ebenfalls in eine helle Zukunft. Ich habe meine Angst vor dem Tod verloren. Im Jenseits werde ich Mirjam wiedersehen und für immer in ihrer Nähe bleiben.


Mein Bild von Roxane
Die Prinzessin aus der Wüste

Roxane.

Ich habe Roxane gesehen. Das war vor zwei Tagen. Mir gelingt es nicht, ihr Bild festzuhalten. Sie widersetzt sich dem Stift, erst recht dem Pinsel, will sich partout nicht auf Papier oder Leinwand sehen.

Seit dem flüchtigen Moment im Mark Twain hat sie mein Herz in der Hand und sitzt in meinem Kopf. Was hat sie dagegen, dass ich sie malen will? Wer ist sie überhaupt?

Roxane?

Auf den ersten Blick habe ich sie erkannt. Da kann sie noch so schnell geflohen sein. Natürlich hat sie mein Erstaunen bemerkt, und gewusst, was es bedeutete.

Ich werfe den Stift auf den Holzboden, sodass er bis auf Kniehöhe wieder hochspringt. Es ist eine Mischung aus Zorn und Verzweiflung, die mich so heftig werden lässt.

Spontan lasse ich alles stehen und liegen, eile hinüber ins Seniorenheim, finde den Professor im Café. Dort sitzt er meist, mit einem Buch oder einer Zeitung, immer alleine, immer mit einer leeren Tasse Kaffee vor sich.

»Herr Professor, erzählen Sie mir von Roxane«, fordere ich mehr als ich bitte gleich nach meinem Gruß.

»Schau ins Internet, mein Junge.«

»Ach, das Internet. Ich traue ihm nicht. Sagt es mir die Wahrheit, so wie Sie es tun werden?«

Er macht eine Bewegung mit der Hand, bietet mir den Platz ihm gegenüber an. Also setze ich mich, sehe den weißhaarigen, hageren alten Mann an.

»Wie kommst du auf Roxane, Simon?«

»Ich habe sie getroffen, Professor.«

»Roxane ist seit ungefähr 2300 Jahren tot. Wo willst du sie getroffen haben?«

»Vor zwei Tagen im Mark Twain.«

»Sie hat gesagt, sie sei Roxane? Das ist ein Name, Simon. Aber ich gebe zu, viele Frauen heißen nicht so.«

»Machen Sie sich nur lustig, Professor. Sie hat nicht mit mir gesprochen. Ich habe sie angesehen und sofort erkannt.«

»Woher willst du Roxane kennen?«

»Vom Fresko in der Villa Farnesina in Rom.«

»Und sie ist dir entwischt und du möchtest sie wiedersehen?«

»Natürlich möchte ich sie wiedersehen. Das ist aber nicht das Problem.«

»Sondern?«

»Ich habe versucht, sie zu zeichnen, auch auf die Leinwand zu bringen. Immer wenn ich glaube, sie vor Augen zu haben, entzieht sie sich, verschwindet in einem Dunst. Ich bekomme es einfach nicht hin. Was ich auf dem Papier sehe, das ist sie nicht.«

»Diese Schwierigkeiten sind dir doch nicht neu.«

»Das hier ist was anderes. Sie hat meinen Stift und den Pinsel störrisch gemacht.«

»Und was versprichst du dir davon, wenn ich dir von Roxane erzähle?«

»Dass sich dadurch der Zauber löst und ich sie malen kann.«

»Du bist ein Spinner, Simon.« Der Professor lächelt mich an. »Wer Roxane war, weißt du?«

»Die Frau von Alexander dem Großen. Sie stammte aus dem heutigen Afghanistan.«

»Das ist doch schon mehr als nichts. Gut«, sagt er, »höre also:

Roxane war eine baktrische Prinzessin, die Tochter des Fürsten Oxyartes. Andere Quellen sagen, sie sei eine Tochter des Perserkönigs, der Name fällt mir gerade nicht ein, gewesen, der sie

Alexander als Friedensangebot zugeführt haben soll. Es gibt viele Geschichten um Roxane. Neben der Gattin des persischen Großkönigs nannte man sie die schönste Frau der damaligen Welt. Auch gibt es die krude Geschichte, sie habe versucht,

Alexander zum Islam zu bekehren. Zu dieser Zeit lag der Islam noch in weiter Ferne.

Zu stimmen scheint, dass Roxane nicht allein sehr schön war, sondern auch klug. Ihr Name bedeutet Morgenröte oder auch die Strahlende.

Alexander, der noch nicht der Große war, befand sich auf seinem Weg nach Indien. Als der Heerzug immer näherkam, brachte der Fürst seine Familie, also auch Roxane, in einer Felsenburg in Sicherheit, die als uneinnehmbar galt. Doch Alexander ließ sich keine Hindernisse in den Weg legen. Auch Roxane wurde seine Gefangene.

Und hier werden nun zwei Versionen berichtet: Als der Eroberer die schöne, junge Frau erblickte, verliebte er sich auf der Stelle, besagt die eine. In der anderen sah Alexander Roxane mit einem Kreis junger Frauen ihm zu Ehren auf einem Fest, das ihr Vater für den Sieger gab, tanzen.

Wie auch immer, Alexander heiratete Roxane schon bald, nachdem er sie gesehen hatte. War es eine Liebesheirat, wie erzählt wird? Oder wurde die Ehe aus politischem Kalkül geschlossen? Wer kann das sicher sagen, kein Epos schreibt Genaueres.

Übrigens am Rande: Marco Polo hat in seinem Reisebericht geschrieben, auf seinem Weg nach China die Stadt Baktra besucht zu haben. Er hat die Ruinen des Palastes gezeigt bekommen, in dem die Hochzeit gefeiert worden sein soll. Der Mongolenführer Dschingis Khan hatte die Stadt dem Erdboden gleich gemacht.

Nach der großen Vermählungsfeier nahm Alexander seine Frau mit auf seinen weiteren Eroberungszug. Der Aufenthalt durch die Begegnung der Liebe muss sehr kurz gewesen sein, denn Alexander ließ sich durch nichts lange aufhalten. Er glaubte nämlich, keine Zeit zu haben. Ein Orakel hatte ihm ein erfolgreiches, aber nur kurzes Leben prophezeit.

Unterwegs bekam Roxane einen Sohn. Das Kind starb schon bald. Aus welchem Grund, ist nicht übermittelt. Roxane hatte nicht die Möglichkeit zu trauern. Die wilde Jagd ging immer weiter.

Nicht allein seine unwiderstehlichen Landnahmen, auch seine geschickte Politik mit den besiegten Ländern machten Alexander zu einem Großen. So gehörte zu seinen machtpolitischen Schachzügen, dass er auf seinem Rückweg von Indien in Mesopotamien, in Susa, zwei Königstöchter heiratete. Der Status Roxanes als erste Gattin wurde dadurch nicht angetastet.

Erst 33 Jahre alt, lag der Weltbeherrscher auf seinem Totenbett. Roxane war als einzige Frau bei ihm. Mit all ihrer Überzeugungskraft redete sie ihm seine letzte Wahnvorstellung aus. Er wollte sich, auf den Tod krank, heimlich im Euphrat ertränken und durch sein spurloses Verschwinden den Menschen seine Göttlichkeit zum letzten Mal und damit endgültig vor Augen führen.

Roxane war von Alexander wieder schwanger, als dieser viel zu jung starb. Sein Reich stand auf sehr schwankendem Boden. Wie sollte es weiter gehen? Wer würde das zu große Vakuum der Macht füllen? Zu viele waren begierig, Alexanders Platz einzunehmen.

Roxane erwies sich in dieser Situation als wahre Fürstentochter. Sie zog sich nicht in die Frauengemächer zurück, überließ nicht den Diadochen das Feld. Nein, sie mischte mit, kämpfte mit offenem und verdecktem Visier für das Erbe ihres Kindes. Sie hoffte, einen Sohn zur Welt zu bringen.

Roxane hatte einen schweren Stand, da die makedonischen Feldherren, von denen fast jeder gegen jeden intrigierte, Alexanders Witwe als eine Perserin ansahen. Sie gehörte nicht zu ihnen, war für sie eine Fremde. Aber sie sorgte mit dafür, dass Perdikkas, Freund und General von Alexander, der von dem Sterbenden einen Siegelring an den Finger gesteckt bekommen hatte, als Regent für eine Übergangszeit bestätigt wurde.

Ein Teil der mächtigen Feldherren versuchte Alexanders Halbbruder Philipp II. Arrhidaios auf den Thron zu bringen, da der Geistesschwache keine Gefahr für die Vorhaben der Clique sein konnte.

Roxane hatte sich geschickt eine Hausmacht geschaffen, die Perdikkas den Rücken stärkte. Der mit allen Wassern eines Politikers gewaschene General brachte einen Kompromiss zustande, der auch seinen Vorstellungen entgegenkam. Er selbst würde als Reichsverweser das Erbe Alexanders verwalten. Philipp II. Arrhidaios und der mögliche Sohn der Roxane sollten gleichberechtigt als Könige gelten.

Mit dieser Vereinbarung konnten alle zufrieden sein. Der mögliche Sohn und dessen Onkel waren beide regierungsunfähig. Perdikkas konnte an der Konsolidierung des Riesenreiches arbeiten. Die Diadochen erkannten aber genügend Freiraum, um in ihren Machtspielen eine Zukunft zu sehen.

Roxane bekam den erhofften Sohn, der Alexander IV. Aigos genannt wurde. Hatte sie bisher schon alle ihre Beziehungen dafür eingesetzt, dem Erben Alexanders den Thron zu sichern, so kannte sie nun keine Gnade, ihm diesen Weg auch endgültig freizumachen. Wo sie Widerstand witterte, schlug sie erbarmungslos zu, ließ töten.

Es darf nicht vergessen werden, die Menschen damals, besonders die, die im engen Kreis der Mächtigen lebten, hatten andere Moralvorstellungen, andere Gewissensmaßstäbe als die Menschen heute. Wer die Macht hatte, den hemmten keine Schranken. Umso höher im Stand, desto gefährdeter war der Einzelne. Er musste ständig auf der Hut sein.

So muss auch Roxanes Leben gesehen werden. Ohne die schützende Hand von einem der starken Männer, konnte sie nur eine Feder im Wind sein. Sie hat sich eng an Perdikkas gebunden. Sie und er hatten sehr ähnliche Interessen, waren also unausgesprochen Verbündete. Aber es rächte sich, dass sie zu sehr, fast ausschließlich auf den mächtigen General setzte. Er wurde ermordet. Bis dahin hatte er geschickt das Gerangel der Diadochen im Griff behalten und die Lücken in den Machtgeflechten zu seinem Vorteil genutzt.

Der neue starke Mann hieß Antipatros. Die beiden machtlosen Könige und natürlich auch Roxane waren nun in seinen Händen. Der Herrscher wusste mit diesem Pfund zu wuchern. Doch Roxane wollte dieses ungute Spiel nicht mitmachen. Sie wusste genau, es war kein Spiel mehr. Sie musste kämpfen, um ihres und das Leben des kleinen Alexander. Und sie besaß immer noch Möglichkeiten. Und die nutzte sie. Sie war tatkräftig und wagte das Risiko. Sie verbündete sich mit ihrer Schwiegermutter Olympias. Die beiden Frauen stellten sich im zweiten Diadochenkrieg auf die Seite von Polyperchon gegen Antipatros Sohn Kassander. Nach anfänglichen Erfolgen erkannte Roxane, dass sie auf das falsche Pferd gesetzt hatte. Jetzt musste sie sprichwörtlich auf jeden ihrer Schritte achten, ob nicht ein Schatten hinter ihr auftauchte.

Kassander ging aus dem jahrelangen Durcheinander als Sieger hervor. Er ließ bei der ersten sich bietenden Gelegenheit Olympias umbringen. Roxane und den kindlichen König nahm er in Amphipolis unter Hausarrest. Mit hoher Wahrscheinlichkeit spielte er bereits zu diesem Zeitpunkt mit dem Gedanken, beide zu töten, wagte es aber aus politischen Überlegungen heraus noch nicht; er wollte das Pfand, das noch seinen Wert hatte, nicht verlieren.

Mutter und Sohn mussten hilflos miterleben, wie sie politisch zur Ware wurden und darum hochgradig gefährdet waren. Roxane ahnte, was der gefährlichste Moment werden würde: der Zeitpunkt der Mündigkeit ihres Sohnes. Dann würde er Anspruch auf den Thron erheben. Den Schritt wollte sicher keine Seite der Widersacher.

Kassander ließ seine Gefangenen ohne Vorwarnung töten, die Tat so lange im Dunkel, wie es ihm nützte.

Roxane und Alexander IV., das Blut Alexanders des Großen, starben 320 vor Christus. Und damit nahmen die fantasievollen Geschichten um Roxane ihren Anfang, die schöne Frau wurde endgültig zur Legende.

Mehr kann ich dir ad hoc nicht über Roxane erzählen, Simon.« Der Professor schaut den Maler an und lächelt.

»Wie hat sie ausgesehen, Professor?«

Der alte Mann hebt seine Schultern.

»Wie auf dem Fresko oder eher nicht?«

»Ich weiß von keiner Beschreibung in den alten Quellen. Es ist ja das Faszinierende, dass manche Menschen erst durch ihr Schattendasein in der Zeit für die Fantasie so interessant werden. Jeder darf seiner eigenen Vorstellung frönen, auch du, Simon.«

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