Читать книгу: «666 Der Tod des Hexers», страница 5

Шрифт:

Im nächsten Frühjahr machten sie und Selina ihr Abitur. Danach würden ihre Wege sich vermutlich trennen. Lena war bereits fertig mit der Schule und begann demnächst ein Studium in Frankfurt. Fortan würde die Schlagzeugerin nur noch am Wochenende Zeit haben, da sie die Woche über ein Zimmer in der Mainmetropole bewohnte. Fabienne Luca, die Rhythmus-Gitarristin der Band, studierte BWL in Siegen und dachte seit Wochen laut über ein Auslandssemester in den USA nach. Nein, wenn Sarika ehrlich zu sich selbst war, dann musste sie zugeben, dass die Band bereits Geschichte war, bevor es richtig begonnen hatte.

Obwohl sie in der letzten Nacht wegen des Sonnenbrandes und der ganzen blöden Gedanken kaum geschlafen hatte, fühlte sich Sarika, als sie die Polizeiwache in der Friedrichstraße betrat, hellwach und topfit. Vermutlich lag es daran, dass sie total aufgeregt war, obwohl sie ja eigentlich gar nichts getan hatte. Mit dem Mord an Fabrice hatte sie nichts zu tun und musste sich eigentlich daher auch keine Sorgen machen. Über die Sprechanlage meldete sie sich bei dem uniformierten Beamten an der Pforte an. Dann wartete sie brav, bis eine Polizistin in Zivil sie abholte. Gesehen hatte sie die Frau schon mal, die sich ihr als Kriminaloberkommissarin Sandra Frings vorstellte. Sie folgte ihr zu einem Raum in der zweiten Etage, in dem Kübler bereits wartete. Auf dem Tisch vor ihm lag ein Schreibblock, daneben ein Mikrofon. In der Ecke entdeckte sie eine Kamera. An der Wand rechts von ihr gab es eine große verspiegelte Scheibe.

„Hallo Sarika, schön, dass du so schnell Zeit für uns hast“, begrüßte Kübler sie freundlich und mit Du und reichte ihr die Hand.

Auf dem Weg hierher hatte sie überlegt, wie sie ihn ansprechen sollte. Normalerweise duzten sie sich, wenn sie sich trafen. Thomas war ein Freund ihres Vaters und ihrer Stiefmutter. Gelegentlich hatte sie auch schon mal auf deren Kinder aufgepasst, wenn Inge und Hans Peter keine Zeit hatten, weil sie wieder mal mit dem Wohnmobil durch die Weltgeschichte fuhren.

„Ja, kein Problem. Ist doch selbstverständlich“, erklärte sie und setzte sich auf den Stuhl, den er ihr anbot. Zu ihrer Verwunderung blieb die Polizistin nicht bei ihnen, sondern ließ sie mit Kübler allein. Sarika kannte Thomas Kübler seit nunmehr anderthalb Jahren. Praktisch seit dem Tag, als sie nach Betzdorf gekommen war. Er war ihr nicht unsympathisch. Nein, das nicht. Dennoch wurde sie nicht wirklich warm mit ihm. Der Typ hatte das, was man im Volksmund auch gerne mal als einen Stock im Arsch bezeichnete. Auf den ersten Blick ein Spießer. Ein Klischeebeamter aus dem Bilderbuch. Andererseits war der aber auch mit einer total durchgeknallten Hippietussi verheiratet. Was nun so gar nicht passen wollte. Kurzum, sie wurde aus Kübler nicht schlau. So locker wie gerade hatte sie den Typen überhaupt noch nicht erlebt. Vielleicht war da doch etwas dran, dass Leute auf der Arbeit ganz anders waren als in ihrem privaten Umfeld. Andererseits hätte sie aber auch gedacht, dass es in diesen Fällen genau andersherum wäre. Zu Hause der lustige Familienpapa und im Dienst ein aalglatter Beamter. Bei Kübler schien das umgekehrt.

„Magst du einen Kaffee oder ein Wasser?“, fragte er nun sogar. Mit so einem Service hatte sie bei der Kripo nun gar nicht gerechnet.

„Ein Kaffee wäre toll … aber nur, wenn es keine Umstände macht.

„Nee, kein Problem. Mit Milch?“, erkundigte er sich.

Sie nickte und sah ihm hinterher, wie er den Raum verließ. Ihr Blick fiel auf die verspiegelte Wand rechts von ihr. Ob da jetzt jemand dahinterstand und sie beobachtete? War das mit dem Kaffee vielleicht nur ein Trick, um zu sehen, was sie tat, wenn sie alleine im Raum war? Vielleicht hockten da jetzt sogar mehrere Polizeibeamte und begafften sie. Bei dem Gedanken wurde ihr mulmig.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam Kübler mit zwei Tassen in den Händen und einer Brotdose unter den Arm geklemmt zurück. Er schob Sarika eine der Tassen hin, öffnete den Deckel der Brotdose und bot ihr dann noch einen Keks an.

„Umsorgt ihr eure Gäste immer so?“, fragte sie erstaunt und bediente sich. So ein Keks würde schon nicht schaden.

„Nein, nur die netten“, erwiderte er und zeigte dann auf die Tüte neben ihrem Stuhl.

„Was ist denn in dem Müllbeutel?“

Sarika erklärte es ihm knapp, doch er unterbrach sie bereits nach den ersten Sätzen.

„Okay. Ich denke, darüber reden wir dann offiziell, wenn es so weit ist. Ich starte jetzt erst einmal die Aufnahme und dann legen wir los“, meinte er und wollte bereits auf eine Taste neben dem Mikro drücken.

„Ähm, Thomas, muss ich dich, wenn du das aufnimmst jetzt siezen oder …?“, wollte sie auf Nummer sicher gehen.

Er lächelte.

„Nee, wir sind hier ja nicht in der Politik oder auf der Schauspielschule“, antwortete er und startete dann die Aufnahme.

„Befragung der Zeugin Sarika Zielner. Anwesend KOK Kübler. Sarika, du weißt, dass du hier derzeit lediglich als eine Zeugin vernommen wirst und dass du die Wahrheit sagen musst?“, belehrte er sie.

Sarika schluckte und nickte. Thomas lächelte und deutete auf das Mikro.

„Es wäre hilfreich, wenn du mit Ja oder Nein antwortest, da das Mikrofon dein Nicken nicht hört“, meinte er.

Sie beugte sich vor und sprach langsam und deutlich in das Mikrofon.

„Ja, das habe ich verstanden.“

Dann forderte Kübler sie auf zu erzählen, was an dem Abend vorgefallen war. Von Anfang an. Sarika holte tief Luft und begann an dem Punkt, als sie nach dem in ihren Augen ziemlich verpatzten Auftritt die Open-Air-Bühne verließ. Sie erzählte alles und wurde dabei von Minute zu Minute ruhiger. Kübler machte sich währenddessen eifrig Notizen. Einige Male unterbrach er sie, um nach einer Uhrzeit oder einem Namen zu fragen. Bei den Zeiten war Sarika sich ziemlich unsicher, da sie den ganzen Abend und auch in der Nacht nicht ein einziges Mal auf eine Uhr gesehen hatte. Als Kübler, nach etwas mehr als einer Stunde, die Befragung für beendet erklärte, war sie total erleichtert. Nur wenige Sekunden, nachdem er mit einem weiteren Knopfdruck an dem Mikro die Aufnahme beendet hatte, wurde die Türe geöffnet und Nina trat ein. Sie lächelte und schien zufrieden. Sarika war nun davon überzeugt, dass zumindest sie hinter der verspiegelten Scheibe zugehört hatte.

„Siehst du, Liebes? War doch gar nicht so schlimm“, meinte ihre Stiefmutter und wandte sich dann an Thomas.

„Sandra holt gerade die nächsten zwei Kandidatinnen hoch. Mach du bitte mit Selina Marksdorf weiter, ich bringe Sarika und den Jungen in der Zeit hoch zu Torsten, damit er die beiden erkennungsdienstlich behandelt“, sagte sie und stibitzte sich ebenfalls noch einen der Kekse aus der Plastikdose.

Sarika erschrak bei ihren Worten.

„Wie … wieso, erkennungsdienstlich?“, erkundigte sie sich irritiert.

„Das ist reine Routine. Wir brauchen eure DNA und Fingerabdrücke, um sie mit eventuellen Spuren am Tatort oder an Fabrice abzugleichen“, erklärte Nina ruhig.

„Aber …“, versuchte Sarika einzuwenden, doch Nina fiel ihr ins Wort.

„Sarika, das ist ein ganz normaler Vorgang, deine Daten werden auch nur für diesen Fall gespeichert und anschließend wieder gelöscht. Das kann euch Torsten aber im Labor noch mal genauer erklären.“

Sarika folgte ihrer Stiefmum auf den Flur und erfuhr nun, wen diese mit „dem Jungen“ gemeint hatte.

„Hallo Sarika“, grüßte Leon Balke sie und strahlte irgendwie total begeistert.

„Ach, du“, antwortete sie nicht gerade erbaut. Im selben Moment tat es ihr aber bereits leid, dass sie ihn nicht ein wenig freundlicher begrüßt hatte. Leon war ja im Grunde ganz nett. Ein stiller Typ, der sich, bedingt durch seine Art eben halt wunderbar für das Klassenopfer prädestinierte. Dennoch war er hilfsbereit, stets freundlich und hatte sie in der Nacht nach der Party nach Hause gefahren.

„Danke noch mal fürs Nachhausebringen“, schlug sie deshalb nun direkt mal einen versöhnlichen Ton an.

„Keine Ursache. Hab’ ich gerne gemacht. Lag ja auch auf dem Weg“, erklärte er, während sie Nina die Treppe hinauf in die Etage unter dem Dach der Wache folgten. Das Labor der Kripo war kleiner, als Sarika sich das vorgestellt hatte, und auch überhaupt nicht mit den Kriminallaboren zu vergleichen, die sie aus dem Fernsehen von CSI und den anderen Krimiserien kannte. Kriminalhauptkommissar Liebig, dem sie ebenfalls schon einmal bei der Geburtstagsfeier ihrer Stiefmutter begegnet war, klärte sie noch einmal über ihre Rechte und den Datenschutz auf. Dann nahm er sowohl von ihr als auch von Leon eine Speichelprobe sowie Fingerabdrücke.

„Hui, ihr seid hier ja richtig modern“, rutschte es ihr heraus, als Torsten sie aufforderte, ihre Finger über eine Art Scanner zu rollen.

„Wie meinen Sie das?“, fragte er und schien irgendwie ein bisschen beleidigt.

„Ähm … nee … ich wollte Sie nicht beleidigen oder so. Aber ich hatte tatsächlich gedacht, dass man da erst noch die Finger in Tinte wälzen muss, so wie in den Krimis“, bemühte Sarika sich um Schadensbegrenzung und schielte zu Nina, die am Türstock lehnte und wartete.

Während Leon an der Reihe war, sah Sarika sich um. Auf einem Tisch lagen eine Axt sowie mehrere Pinsel. Auf einem anderen entdeckte sie in einer durchsichtigen Plastiktüte einen dunkelgrauen Rucksack, auf dem sich mehrere Aufnäher von Metal Bands befanden. Daneben lag der Müllbeutel mit ihrer Jacke. Sarika trat näher und betrachtete den Rucksack genauer.

„Der ist von Fabrice“, sagte sie tonlos.

„Ja, das wissen wir“, antwortete Nina und zog sie an der Schulter zum Ausgang.

„Ja, is ja gut. Ich fass hier schon nichts an“, beeilte Sarika sich zu sagen.

„Das hat niemand behauptet“, erwiderte Nina. Sarika sagte nichts, sondern beobachtete Hauptkommissar Liebig, wie er weiter Leons Fingerabdrücke scannte.

„Sag mal, Nina, kann man hier bei euch nicht mal ein Praktikum machen?“, fragte sie aus einer spontanen Eingebung heraus.

Nina sah sie erstaunt an.

„Ich dachte, du wolltest Jura studieren?“

Sarika zuckte mit den Schultern. Den Plan, Jura zu studieren, hatte sie bereits seit der Grundschule. Wobei sie sich mittlerweile nicht mehr sicher war, ob die Idee von ihr selbst stammte oder ihr dies von ihrem Opa und ihrer Mutter seit ihrer Geburt eingeredet worden war. Das Kind studiert Jura, wird Anwältin und übernimmt die Kanzlei Zielner, genau wie drei Generationen der Zielners vor ihr. Ja, so war der Plan gewesen.

„Man kann ja mal über den Tellerrand hinausschauen. Ein Praktikum bei der Polizei wird einem ja auch nicht schaden, wenn man später mal böse Jungs verteidigen muss“, antwortete sie, wie sie fand, sehr diplomatisch. Was sie wirklich wollte, ihren Traumjob, den behielt sie lieber für sich. Nur die wenigsten schafften es, vom Gitarrespielen leben zu können. Bei ihrem Papa hatte es auch nicht funktioniert.

Kapitel 5

Montag, 9. August 2021, 11:49 Uhr

Betzdorf/Kriminalinspektion Friedrichstraße

„Was meinen Sie, hatte Fabrice Gladenberg Feinde?“, erkundigte sich Thomas Kübler bei der jungen Frau ihm gegenüber.

Selina Marksdorf, mit der er seit gut und gerne zwanzig Minuten im Verhörraum hockte und die ihm brav Rede und Antwort stand, überlegte einen Moment.

Für seinen Geschmack allerdings bereits einen Moment zu lange.

„Nein, eher nicht“, antwortete sie schließlich und schüttelte dabei vehement ihren zugegebenermaßen sehr hübschen Kopf.

„Sie haben einen Moment gezögert“, hakte er noch einmal nach, da ihm unter anderem das Wörtchen „eher“ ein wenig irritierte. Es klang nämlich beinahe wie ein „Aber“ zwischen den Zeilen.

Selina Marksdorf schien sich ertappt zu fühlen. Sein Blick ruhte auf ihrem Hals. Sie schluckte und schien nervös. Dieses Gefühl hatte er allerdings schon, seit sie den Raum betreten hatte. Er selbst fühlte sich heute merkwürdig ruhig und gelassen. Gar nicht so angespannt wie sonst. Die Befragungen der jungen Frauen heute waren aber auch sehr angenehm.

„Keine Ahnung, ob der Typ Feinde hatte … muss er ja wohl … Ich meine, sonst hätte den ja wohl keiner umgebracht“, wurde sie nun ein wenig patzig.

Thomas lächelte. Die Antwort war gut, half ihm aber nicht weiter.

„Ein anderer Zeuge hat ausgesagt, dass es innerhalb der Band Streit gab. Es soll sogar zu Handgreiflichkeiten gekommen sein“, bohrte er weiter.

Selina starrte auf die Tischplatte und zuckte mit den Schultern.

„Ja, der Gig am frühen Abend in Weiselstein … der ist irgendwie suboptimal gelaufen. Fabrice hat nicht einen ordentlichen Ton getroffen. Laut ihm war es aber nicht seine Schuld, sondern die von allen anderen. Er meint, wir hätten kacke gespielt, der Typ am Mischpult hätte ihn beschissen abgemischt, der Sound sei grottig gewesen … bla, bla, bla. Sogar die Leute vom Imbissstand waren angeblich schuld“, schimpfte sie.

„Was hat der Imbissstand damit zu tun, dass der Sänger einer Band keinen Ton trifft?“, interessierte es Thomas jetzt mal, da er da überhaupt keinen Zusammenhang sah.

Selina lachte gekünstelt auf.

„Hah …! Angeblich hätte der Wind ihm die ganze Zeit den Bratwurstgestank in die Nase geweht, weshalb er nicht ordentlich Luft bekommen hätte“, erklärte sie.

Thomas nickte. Er wusste genau, was Selina meinte. Er vertrug den Geruch von heißem Bratenfett aus der Pfanne auch nicht wirklich. Da hatte er immer sofort die Nase zu.

„Und deshalb gab es nachher Streit?“, fragte er weiter.

„Ja … nee … da war schon länger der Wurm drinnen. Der passte einfach nicht zu uns. Als Sarika ihn abends aus der Band werfen wollte, ist er uns irgendwie zuvorgekommen und von selbst ausgestiegen“, berichtete sie weiter.

„Na, dann war doch alles gut“, fand Kübler.

„Na, eben nicht. Sie hätten mal hören sollen, was der uns alles an den Kopf geknallt hat. Das war echt unterste Schublade“, wurde sie nun immer lauter.

Thomas musste sich ein Grinsen verkneifen. Selina quatschte sich langsam, aber sicher in Rage. Und mit den Emotionen kam oft auch die Wahrheit.

„Und dann sind Sie auf ihn losgegangen und haben auf ihn eingeprügelt“, behauptete er nun einfach einmal, obwohl er bereits wusste, dass es nicht Selina, sondern deren Freundin Sarika gewesen war, die Fabrice eine verpasst hatte. Allerdings war ihm immer noch nicht klar, wie es sein konnte, dass von einem einzigen Schlag in das Gesicht des Jungen Sarikas Jacke so viel Blut abbekommen konnte, dass ihr Vater diese morgens in die Wäsche stecken musste.

„Nein, Quatsch. Ich hab’ den Typ nicht angerührt“, schrie Selina nun fast.

„Wer dann?“

Selina hielt kurz inne.

„Sarika hat ihm eine reingehauen“, knirschte sie schließlich.

„Wie muss ich mir das vorstellen? Hat sie ihm einfach eine mit der flachen Hand geklatscht? Oder mit der Faust auf die Nase?“, bohrte er weiter. Sarika Zielner hatte zugegeben, dass sie Fabrice mit der Faust auf die Nase geschlagen hatte. Thomas war nun gespannt auf die Aussage der Freundin.

„Ja, so mit der Faust“, sagte nun auch Selina.

„Einmal oder mehrmals?“

„Na ja … zuerst nur einmal. Dann ist Fabrice auf sie los“, berichtete sie und starrte nun wieder kleinlaut auf die Tischplatte.

„Fabrice ist also auf sie los … und was dann?“

„Ja, nichts. Ein paar von den Jungs haben Fabrice von hinten gepackt und ihn weggezogen. Lena und ich haben dann Sarika aufgeholfen und sind mit ihr rein in meine Bude“, berichtete sie genau das, was auch Sarika vorhin ausgesagt hatte.

Thomas überlegte einen Moment.

„Wir haben auf Sarikas Jacke Blut gefunden … viel Blut“, übertrieb er. Bisher wussten sie von dem Blut ja lediglich von Sarika selbst.

„Ja, kann sein. Fabrice hat ziemlich stark geblutet. Einer aus der Klasse hat ihm sogar noch ein feuchtes Handtuch geholt“, erzählte sie jetzt etwas, das Kübler noch nicht wusste.

„Von einem Schlag ins Gesicht?“, fragte er noch einmal, da er immer noch glaubte, dass sie ihm nicht alles erzählte.

„Ja … nee … schon … Das war halt wohl auch wegen dem Schlüssel“, stammelte sie und verdrehte die Augen.

„Was meinen Sie damit? Wegen welchem Schlüssel?“, verstand er nicht.

„Sarika hatte ihren Haustürschlüssel in der Hand … die haben da wohl so ein bisschen zwischen ihren Knöcheln rausgeguckt … zufällig“, gestand sie. Thomas sah sie ungläubig an. Er hatte solche Fälle von Körperverletzung schon öfter erlebt. Die Nummer mit dem Schlüsselbund, dessen Spitzen aus der geballten Faust wie ein Schlagring hervorlugten, war nichts Neues. Rocker, Zuhälter oder andere kriminelle Schläger taten solche Dinge. Aber doch nicht die liebe nette Tochter seines Freundes Klaus.


Nina stand hinter dem Spanischen Spiegel und lauschte der Befragung von Selina Marksdorf. Sie kannte die beste Freundin ihrer Stieftochter nur zu gut. Selina ging bei ihnen zu Hause ein und aus. Der Eindruck, den Nina bisher von der Achtzehnjährigen gehabt hatte, war nur der beste. Selina war stets freundlich und höflich.

Das, was Nina da gerade aus ihrem Mund hörte, machte sie jedoch ein wenig nachdenklich. Sie wusste genau, wer Sarika beigebracht hatte, den Schlüsselbund als Waffe zu nutzen. Sie selbst, Nina Moretti, hatte ihrer Stieftochter erklärt, wie sie sich wehren konnte. Es war ihr wichtig gewesen, dem Mädchen zu zeigen, wie man sich als junge Frau verteidigen konnte, wenn man angegriffen wurde. Fabrice hatte Sarika jedoch nicht angegriffen. Zumindest nicht körperlich. Nein, der Junge hatte Sarika lediglich verbal provoziert. Die Wunden im Gesicht von Fabrice Gladenberg waren, das hatte Nina im Obduktionsbericht gelesen, nur oberflächlich und nicht sehr tief gewesen. Doch es hätte auch anders sein können. Was, wenn Sarika in ihrer Wut ein Auge des Jungen getroffen hätte? Nina würde später zu Hause mit ihr ein ernstes Wort reden müssen. Zumindest wussten sie aber nun, dass diese Verletzungen von Sarikas Schlag stammten und nicht vom Täter. Dass Sarika etwas mit dem Mord an Fabrice zu tun hatte, konnte Nina sich immer noch nicht vorstellen. Laut Wagner war der Tod des jungen Mannes am Morgen gegen fünf Uhr plus/minus einer Stunde eingetreten.

Leon, der Junge, der Sarika in der Nacht nach Hause gefahren hatte, wollte sie gegen halb vier vor der Villa am Alsberg rausgelassen haben. Laut seiner Aussage war die Achtzehnjährige so betrunken gewesen, dass sie kaum noch hatte laufen können. Dass Sarika also noch einmal, nachdem Leon sie abgesetzt hatte, zu Fabrice gefahren war, schien Nina nicht plausibel. Die Auswertung von Sarikas Handy sagte das Gleiche. Das Gerät hatte sich um exakt drei Uhr sechsundzwanzig in der Funkzelle am Alsberg eingeloggt. Sie konnten damit auf die Minute belegen, wann sie nach Hause gekommen war.

Auch die Daten des Gerätes von Fabrice lagen mittlerweile vor. Es hatte sich von einundzwanzig Uhr zehn bis kurz vor sechs Uhr am Morgen in der Funkzelle in Friesenhagen befunden, in der die rote Kapelle, aber auch der Luftlinie nur ein paar Hundert Meter entfernte Hof von Selinas Eltern lagen. Seitdem war das Gerät ausgeschaltet. Vermutlich unmittelbar nachdem damit das Video mit dem vermeintlichen Schuldbekenntnis des Jungen in den sozialen Netzwerken hochgeladen worden war. Von dem Gerät selbst fehlte jegliche Spur. Entweder war es noch immer im Besitz des Täters oder er beziehungsweise sie hatte es zerstört oder endgültig entsorgt.


Sarika hatte keine Ahnung, warum sie Leons Einladung auf einen Kaffee im Lakö angenommen hatte. Vermutlich lag es an ihrem schlechten Gewissen dem Klassenkameraden gegenüber. Sie hatte bisher noch nicht einmal ein „Guten Morgen“ für ihn übergehabt. Allerdings hatte sie sich bisher auch nie an den Sticheleien und Gemeinheiten ihrer Mitschüler gegen ihn beteiligt. Jetzt, wo sie so alleine mit ihm im Außenbereich des Cafés hockte, war er gar nicht so übel. Im Gegenteil, sie empfand es sogar als sehr angenehm, hier zu sitzen und sich mit ihm zu unterhalten. Dass sie beide zur gleichen Zeit bei der Polizei und dort sogar gemeinsam zum Erkennungsdienst gemusst hatten, machte sie zu einer Art Verbündete. Zumindest fühlte es sich so irgendwie für sie an. Überhaupt war Sarika total beschwingt und gut drauf, seit sie die Kriminalinspektion verlassen hatte. Es war, wie Nina schon gesagt hatte, gar nicht so schlimm gewesen. Ihr Kopf war noch dran. Ehrlichkeit währte halt am längsten. Sie hatte alles offen erzählt, was an dem Abend vorgefallen war – fast alles. Die Wut, mit der sie auf Fabrice eingeprügelt hatte und über die sie sich selbst erschrocken hatte, da sie sich so gar nicht kannte, hatte sie ein wenig heruntergespielt. Vor allem die Tatsache, dass sie, als sie zuschlug, noch ihren Schlüsselbund in der Faust versteckt hatte. Dennoch hatte es gutgetan, mit Thomas Kübler zu reden. Für einen Moment hatte sie dabei sogar beinahe vergessen, dass der ein Polizist war und nicht ihr Psychiater.

„Hast du auch einen Kaffee und Kekse bei den Bullen bekommen?“, erkundigte sie sich nun bei Leon.

„Ähm … nee. Du etwa?“, war der verwundert. Sofort war ihr die Frage peinlich. Anscheinend hatte Thomas Kübler ihr tatsächlich eine Sonderbehandlung zukommen lassen. Sie nickte knapp und wechselte das Thema.

„Ist ja schon schlimm, was mit Fabrice passiert ist“, meinte sie es genau so, wie sie es sagte.

Leon überlegte einen Moment und zuckte dann mit den Schultern.

„Siehst du das anders?“, war sie erstaunt.

„Nee … klar. Ist schon schlimm. Wobei sich meine Trauer über seinen Abgang in Grenzen hält“, gab er zu.

„Du mochtest ihn nicht?“, erkundigte sie sich, obwohl sie doch genau wusste, dass Fabrice einer von denen gewesen war, die kein gutes Haar an Leon gelassen und ihn ständig geärgert hatten.

„Nein, sorry, wenn ich das so sage, aber der Typ war einfach nur ein arrogantes Arschloch. Um den ist es echt nicht schade“, gestand er, und Sarika war über seine Offenheit doch sehr erstaunt.

„Ja, okay … Fabrice konnte ein ganz schönes Ekel sein“, gab sie zu.

„Ich hab’ dich beim Konzert am Samstag gar nicht gesehen“, wechselte sie nun wieder das Thema, da es ihr nicht gerade behagte, über einen Toten zu lästern. So etwas machte man einfach nicht.

Leon hatte ihr nämlich vorhin, auf dem Weg zum Lakö, berichtet, dass er am Samstag als Zuschauer in Weiselstein bei „Rock am Hang“ gewesen war. Sarika hatte ihn gar nicht bemerkt. Gut, sie hatte auch nicht auf ihn geachtet. Der Typ war nun mal irgendwie unscheinbar. Nachher auf der Party bei Selina war er ihr aufgefallen. Da hatte sie nämlich noch gedacht, dass der bestimmt nicht eingeladen gewesen war. Nein, sie hätte mit ihm weder beim Konzert noch bei der Aftershowparty auf dem Hof in Friesenhagen gerechnet.

„Na ja, wie hättest du auch … da waren ja so viele Menschen und du so in Aktion …“, winkte er ab und sah dann an ihr vorbei in das Lokal.

„Da sind deine Mutter und der andere Polizist“, flüsterte er nun.

Sarika drehte sich um und sah in die gleiche Richtung wie Leon.

An einem der Tische im Innenbereich saßen Nina und Kübler und bestellten gerade bei der Bedienung. Sarika sah auf ihr Handy, es war bereits halb eins.

„Nina ist nicht meine Mutter“, stellte sie klar und überlegte, ob es nicht doch an der Zeit wäre, sich ebenfalls eine Kleinigkeit zu essen zu bestellen. Seit ihrem Müsli am Morgen waren auch schon wieder fünf Stunden vergangen und der Keks von Kübler auch eher nur was für den hohlen Zahn gewesen.

„Ach so, ich dachte, sie wäre …“, begann Leon.

„Nein, Nina ist meine Stiefmutter. Die Frau meines Vaters. Meine richtige Mum ist vor zwei Jahren gestorben“, erklärte sie ihm und war erstaunt über sich selbst, wie selbstverständlich ihre Worte klangen. Ja, es wurde mit der Zeit tatsächlich einfacher, über dieses Thema zu sprechen, obwohl es immer noch verdammt wehtat, wenn sie an ihre Mama dachte.

„Ohhh, das tut mir leid“, meinte Leon und wurde nun sogar ein wenig rot im Gesicht.

„Muss es nicht“, antwortete sie. Sie mochte diesen Satz einfach nicht, da sie ihn schon so oft gehört hatte.

Sie griff nach der Speisekarte, die zwischen ihnen auf dem Tisch lag.

„Magst du etwas essen? Ich lad dich ein“, meinte Leon.

Sarika ließ die Karte wieder sinken.

„Nein … ja … Du musst mich aber nicht einladen, Leon. Ich möchte das nicht“, stellte sie klar. Sie hasste es, wenn Typen sich anbiederten und aufdrängten.

„Ähm, sorry… war nicht so gemeint. Natürlich darfst du auch gerne mich einladen, wenn es dich glücklich macht“, erwiderte er und fand das Ganze dann auch noch urkomisch. Und ja, auch Sarika musste nun lachen. Vielleicht war der Typ doch gar nicht so ein Depp, wie alle immer dachten.


Nina versuchte einfach nicht auf die beiden Teenager zu achten, die keine zehn Meter entfernt von ihr und Thomas auf der Außenterrasse an der Heller saßen. Dennoch würde es sie interessieren, über was die beiden da sprachen. Vielleicht ging es um Fabrice und was mit ihm geschehen war. Vielleicht war da aber auch etwas anderes. So wie dieser Junge ihre Stieftochter anhimmelte, wollte der vermutlich nicht nur Kaffee mit ihr trinken. Doch das ging Nina nichts an. Oder doch?

Thomas kicherte. Überhaupt war der heute Mittag seltsam drauf. Sie blickte ihn an. Seine Augen waren glasig wie bei einem … Mit einem Mal kam ihr so ein ganz dummer Verdacht. Aber das konnte eigentlich gar nicht sein. Nicht bei Kübler.

„Sag mal, hast du was genommen?“, musste sie jetzt dennoch einfach mal fragen.

Thomas lachte auf.

„Ich? Nee. Ich bin halt einfach ein entspannter Mensch“, fand er, worauf Nina nun noch misstrauischer wurde. Sie beugte sich vor und sah ihm direkt in die Augen. Seine Pupillen waren, wenn sie nicht alles täuschte, erweitert. Wenn sie es nicht besser wüsste und Thomas nicht so lange kennen würde … ja, dann würde sie glatt behaupten, er hätte gekifft.

„So, die Pizza mit Schinken, Zwiebeln und Ei für den Herrn und die Lasagne für die Dame“, meinte der Kellner, der ihnen das Essen brachte.

„Ich nehm’ dann noch eine Cola“, orderte Kübler, während Nina ihn immer noch beobachtete.

„Sag mal, Kübler, hast du noch welche von den Keksen, die deine Holde gebacken hat?“, erkundigte sie sich, als der Mann wieder außer Hörweite war.

„Klar, im Büro. Soll ich Alex fragen, ob sie dir das Rezept gibt?“, antwortete er.

Nina schüttelte den Kopf. Nein, Backen war eh nicht so ihr Ding. Dafür war bei ihnen zu Hause Klaus zuständig. Dennoch würde es sie interessieren, welche Zutaten ihre Freundin so in den Teig gemischt hatte. Nina hatte da nämlich gerade einen ganz bösen Verdacht. Andererseits konnte es eigentlich gar nicht sein, dass da Drogen drinnen waren. Sie selbst hatte ja ebenfalls drei von den Keksen gegessen und merkte keinerlei Veränderungen an sich. Sie wischte die bösen Gedanken beiseite und widmete sich nun ihrer Lasagne. Während sie aß, blickte sie mehrmals nach draußen zu den beiden Teenagern, die gerade ebenfalls etwas bestellten. Es war das erste Mal, dass sie ihre Stieftochter alleine mit einem Jungen sah. Zwar schien es schon den einen oder anderen Verehrer gegeben zu haben, doch hatte Nina das Gefühl, dass Sarika nicht wirklich ein Interesse an Männerbekanntschaften hatte. Nun, es konnte ihr aber auch egal sein. Schlimmer wäre es, wenn sie jede Woche einen anderen Typen anschleppte.


Sooft Alexandra ihre medizinischen Kekse auch durchzählte, es wurden einfach nicht mehr. Fünf fehlten und bereiteten ihr somit gerade heftiges Kopfzerbrechen. Und das nicht nur, weil fünf eine ungerade Zahl war. Sie ging durch den Wintergarten ins Wohnzimmer und sah aus dem Erkerfenster hinunter in den Garten, wo Leah gerade die Hühner fütterte, während ihr Bruder in der Hängematte lag und in einem Buch las. Nein, die beiden wirkten ganz normal. Es schien ihr ausgeschlossen, dass sie sich einen oder gar fünf ihrer Haschkekse eingeworfen hatten. Aber wenn die Kinder nicht an den Keksen gewesen waren und sie selbst auch keinen genommen hatte, dann kam eigentlich nur noch einer infrage: Thomas!

Sie griff nach ihrem Mobiltelefon und suchte nach ihm im Telefonbuch. Eine Weile schwebte ihr Finger über dem Telefonbucheintrag mit dem Namen „MAUSBÄR“. Sollte sie ihn tatsächlich anrufen? Ja, schon! Aber was sollte sie sagen? „Hallo, Schatz, hast du von meinen Haschkeksen genascht? Wenn ja, dann solltest du jetzt kein Auto mehr fahren.“ Nein, das ging gar nicht.

Sie holte tief Luft und wählte seine Nummer. Es tutete endlos. Doch gerade in dem Moment, als sie bereits wieder auflegen wollte, wurde das Gespräch angenommen.

„Hallo Mausbär“, trällerte sie erleichtert und hörte dann ein Kichern, das definitiv nicht von Thomas stammte.

„Hallo, wer ist denn da?“, fragte sie vorsichtig und peinlich berührt, während die Frau am anderen Ende der Leitung in lautes Gelächter ausbrach. Die Lache war unverkennbar.

„Nina, gib mir mal Thomas“, schnaufte Alexandra genervt.

„Das geht nicht. Der ist gerade für kleine Mausbären“, gackerte diese wie von Sinnen. Ein übler Gedanke kam ihr. Hoffentlich hatte Thomas die Kekse nicht auch noch großzügig unter den Kollegen verteilt. Das wäre echt der Supergau.


Ich habe Angst vor mir selbst. Angst vor dem, was ich gefühlt habe, als ich zum ersten Mal zustach. Ich hadere mit mir und überlege, ob das, was ich in dem Moment fühlte, wirklich normal ist oder ob ich vielleicht verrückt bin? Nein, bestimmt nicht. Es war kein Mensch, den ich getötet habe, sondern ein Dämon.

Es war so leicht, ihn zu bezwingen. Mehr noch: Es hat mir Genugtuung und eine unglaubliche Befriedigung bereitet, als er endlich brannte. Das Abtrennen des Kopfes ohne ein Richtschwert, wie es in den alten Schriften genannt wurde, war schwieriger, als ich gedacht hatte, aber nicht unmöglich. Das, was ich getan habe, musste getan werden. Der Kampf zwischen Gut und Böse tobt seit Menschengedenken. Seit dem Tag, als Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis aßen, ist das Böse unter uns. Lange habe ich überlegt und mit mir gehadert. Die Entscheidung, aktiv zu werden, ist mir nicht leicht gefallen. Wer für das Licht gegen den Dämon kämpft, der muss in den Schatten treten. Diese erste Schlacht gegen den Dämon habe ich geschlagen. Doch er wird niemals Ruhe geben. Der Teufel erscheint in vielen Gestalten. Die Hexen sind überall unter uns. Manche im Verborgenen, andere ganz offensichtlich. Um sie zu besiegen, muss ich bis zum Äußersten gehen. Ich muss sie aufhalten. Sie sehen aus wie Menschen und wimmern um Gnade. Doch am Ende hat der Hexer gestanden und mir unter Schmerzen die Namen der anderen Hexen genannt. Sarika Zielner, Fabienne Luca, Selina Marksdorf und Lena Binenbacher. Doch sie sind nicht alleine. Es gibt noch viel mehr von ihnen und ich werde sie mir holen. Eine nach der anderen.

Бесплатный фрагмент закончился.

243,57 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
401 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783827184085
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают