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KILOMETER 101
Maxim Ossipow
KILOMETER 101
Skizzen und Geschichten
Deutsch von Birgit Veit
Lektorat: Regine Weisbrod
Umschlaggestaltung: Nikola Stevanović
Satz: Daniela Seiler
Hergestellt in der EU
Maxim Ossipow: Kilometer 101. Skizzen und Geschichten.
Deutsch von Birgit Veit
Die Übersetzung wurde vom Institut Perevoda gefördert.
Alle Rechte vorbehalten
© HOLLITZER Verlag, Wien 2021
ISBN 978-3-99012-888-6
INHALT
Sventa
Kilometer 101 – Skizzen aus dem Provinzleben
Auf heimatlichem Boden
Es könnte schlimmer sein
Unösterliche Freude
Die Kinder von Dzhankoj
Fantasie
Heimkino
Little Lord Fauntleroy
Die Zigeunerin
Figuren auf der Ebene
Luxemburg
Anmerkungen
SVENTA
Reiseskizze
Zum Andenken an meine Eltern
Wnukowo ist der kleinste, gemütlichste Flughafen von Moskau, und wenn du da landest, zumal am Samstag um elf Uhr abends, erwartest du kein Tohuwabohu. Eintragung in den Pass, Koffer, alles im Eiltempo:
„Woher?“
„Aus Vilnius.“
„Was bringen wir mit?“
Nichts Besonderes: Bücher, Käse. Die Normen der Einführung von Lebensmitteln werden von dir nicht überschritten: Geh durch. Aber gerade da, am Ausgang, erwartet dich eine Überraschung. Eine dichtgedrängte Menge Männer. So viele könnten zum Beispiel auf ein Flugzeug aus Tbilissi warten, aber nein, sie sehen nicht aus wie Grusinier. Es gibt auch keine Belästigungen: „Taxi, Taxi in die Stadt, preiswert“, es ist merkwürdig leise – trotz der Menge. Du drängst dich hindurch, aber sie wird nicht weniger dicht, die Leute weichen nicht aus, stören aber auch nicht absichtlich – sie stehen einfach da. Kräftige Männer mittleren Alters, bartlos, in dunklen Mänteln und Jacken, als würden sie dich gar nicht sehen. Sie reagieren nicht knurrig, machen keine Bemerkungen, wenn ihnen jemand mit den Rollen des Koffers über die Füße fährt. Es scheint, man könne sie kneifen oder stechen, sie rühren sich nicht. Eine unverständliche, dunkle Kraft aus einem Traum: Wer sind sie, wohin wollen sie – auf eine Pilgerreise oder einen Hadsch nach Mekka. Das klären wir gleich: Wo ist die Wache, die Polizei?
Wenn du dich zur Glastür durchdrängelst, entdeckst du, dass sie geschlossen ist – da auf der Straße ist ebenfalls eine Menge, aber eine andere, buntere, bestehend aus beiden Geschlechtern. Die Tür wird von einem Polizisten bewacht, er hat in der Hand ein Gefäß – wie spät du doch endlich begreifst: Das ist ein Altarlämpchen, es ist der Abend von Karsamstag, die Leute sind in Erwartung erstarrt, bald trifft das segensreiche Feuer ein.
„Spezialflug aus Tel Aviv. Wir warten auf den Flieger.“
„Rak ze chasér lánu“, das hat uns gerade noch gefehlt, das ist der einzige Satz, den du auf Ivrit beherrschst.
In einer oder zwei Stunden landet das Sonderflugzeug, die Obrigkeit verteilt das Feuer im Beisein des Fernsehens an die Männer, und sie bringen die Altarlämpchen nach Moskau, in das Gebiet um Moskau und die Nachbargebiete. Dann erst lässt man auch alle anderen ins Innere des Flughafens. Eine Reportage fällt hier nicht schwer: Die Menschen fahren von überall nach Wnukowo – „Wir kommen schon das sechste Jahr her“, „Wir glauben an das Volk, an unser Land“.
Nur die Ruhe, nur die Ruhe, keine Panik. Der Polizist deutet an: „Die dritte Tür dient als Ausgang.“
Den Koffer hinter dir herziehend, musst du dich wieder durchdrängeln. So endet die Reise nach Litauen.
„Was für Emotionen ruft dieser Ort bei Ihnen hervor?“, fragte eine Korrespondentin der Zeitung von Zarasai auf Englisch. Sie war die Einzige, die dich und Tomas, den Übersetzer und Verleger, empfing, und sie verstand kein Russisch.
„Für mich ist Zarasai gar kein Ort, sondern eine Zeit. Mit einem Wort: Paradise lost.“
Das Mädchen hatte einen Verdacht: „Sehnt sich der Genosse nach der UdSSR?“
„Nein überhaupt nicht! Nur nach den Zeiten, da meine Eltern noch lebten.“
„Sind Sie zum ersten Mal im freien Litauen?“
„Im freien, ja, zum ersten Mal. Es ist gut, wenn man sich nicht als Besatzer fühlt.“ Du bist durch Vilnius gelaufen, alles hat dir gefallen, aber es hat dich hierhergezogen. Du schaust dich um: eine neue Bibliothek am See (die ganze Stadt liegt am Ufer), ein Café mit Säulen, das aus den frühen Siebzigerjahren stammt und nicht in Betrieb ist (da gab es Tagesgerichte), eine katholische Kirche. Das Denkmal für das bewaffnete Mädchen namens Melnikaitė ist spurlos verschwunden. Und, wie üblich in solchen Städtchen, ist die Natur anziehender als das, was die Menschen gebaut haben.
„Warum sind Sie nicht schon früher gekommen?“
Die Antwort war ein Achselzucken. Mein Vater hatte von da vor fast vierzig Jahren geschrieben: Hier ist es ruhig, und es gibt keine Konflikte. Sowohl im Haus wie in der Stadt, wo jetzt wenig Leute sind und man mich wahrscheinlich deshalb sogar auf der Post höflich behandelt. Und manchmal fühlst du dich nicht wie ein schäbiger Moskauer mit belastetem Gewissen, sondern siehst die Welt anders: Du empfindest ihre Unerbittlichkeit.
Und hier deine eigene Tagebuchnotiz von vor fünfzehn Jahren: Möchte nach Zarasai, wo ich so viel Zeit verbracht habe: jeden Sommer, so viele Jahre hintereinander. Fahre hierhin und dorthin, wohin man fahren muss, wohin man sich schämt, nicht zu fahren, nur nicht nach Zarasai. Das heißt nicht sein eigenes Leben leben.
Hier war es windig, sauber: Sandböden, und auch die hiesigen Einwohner sind bestrebt, die Sauberkeit aufrechtzuerhalten. Öde.
„Geräumig“, sagte die Korrespondentin lächelnd.
„Ja.“ Sie verabschiedeten sich. „Kommen Sie im Sommer mit Freunden.“
Keine schlechte Idee. Aber von denen, mit denen du nach Zarasai gefahren warst, war der eine in San Francisco, der andere in Amsterdam, einem anderen musste die Freundschaft aufgekündigt werden, und einige, Eltern und Schwester eingeschlossen, waren tot.
Und du fährst zu der Halbinsel, die zwei Kilometer entfernt ist, auf der Südseite des Sees, an den Weg erinnerst du dich, du brauchst weder Navigator noch Begleiter.
„Hier stand das Haus …“ – zweistöckig, aus Stein. Keine Spur ist von ihm geblieben, man hat es abgerissen. Nach dem Tod der Eigentümer (von dem du erfahren hast) teilten die Kinder das Erbe und verkauften das Haus, aber den Käufern gefiel es nicht. Sie zerstörten es mit allen Anbauten und machten es dem Erdboden gleich. Sie wollten etwas Eigenes bauen, aber offenbar ging ihnen das Geld aus. So erzählen die Nachbarn, sie erinnern sich sogar ein bisschen an eure Familie.
Merkwürdig, das Haus war solide gebaut. Mit einem Riesenbalkon, auf den der Mittagstisch hinausgetragen wurde. „Der, mit dem wir uns treffen“, sagte Mutter tonlos, „euer Gast und Nachbar, der Sergej Rachmaninow ähnelt und ebenfalls aus Moskau stammt, hat mir beim Teetrinken erklärt, dass er Parteisekretär seines Instituts ist.“ Mutter war schweigsam, besonders im Vergleich zu Vater, konnte aber auch hinter vorgehaltener Hand etwas Peinliches anmerken. Sie war hier nur im Juli und August, während Vater zu jeder Zeit hier war. Im Sommer wohnte er oben, im Winter: hier ungefähr, wo du jetzt stehst. „Gerade flattert auf ein Vogel / Durchs leere damalige Fenster.“
Gedichte hin, Gedichte her – das Verschwinden des Hauses macht fassungslos: Steine, so stellt sich heraus, sind auch nicht von Dauer. Das ist traurig, obwohl es natürlich Schrecklicheres gibt und du nicht Nabokov oder Proust bist. Geh durch die Kiefern über das weiche Moos, geh ans Wasser. Weder die hohen, alten Kiefern noch die dünnen Bäumchen am Ufer noch das Dickicht des Schilfrohrs ist weg: Da sind sie, da, wo sie hingehören.
Eine Erinnerung: 1978, August, das heißt, du bist fast fünfzehn. Mit Charitóscha, einem Mitschüler und Freund fürs Leben, habt ihr die Jacht Delphin zu Wasser gelassen, ein über und über geflicktes Modell aus der DDR (damals war es üblich, Dinge zu reparieren), zwei Schwerter an den Seiten, die das Abdriften verhindern und für Kursstabilität sorgen. Ihr legt ab zu einer Reise über den Zarasaitis-See: du am Stagsegel, Charitóscha am Großsegel und am Steuer. Steiles Segeln am Wind: Mach dich bereit, dich auf die Seite zu legen. „Mamascha: auf Wiedersehen, Freundin: auf Wiedersehen / Ich bin ein Matrose der Baltischen Flotte.“
Aber eines der Schwerter hat sich losgerissen und kann das Boot nicht aus der Bucht hinausführen, die Wellen treiben euch zum Ufer zurück. Lahm versucht ihr, abwechselnd zu rudern. Vater beobachtet es vom Steg: Er ist schon ein paarmal ins kalte Wasser gestiegen und hat euch aus dem Dickicht gezogen. Stopp. Charitóscha hat eine Idee: „Es wäre gut, Epoxid zu beschaffen. Und das Schwert anzukleben, hol’s der Teufel …“ „Ach, Epoxid!“ Bis zum Gürtel im Wasser stehend, hält Vater eine lange Rede. „Rotzlöffel“ war noch das freundlichste Wort, das er fand.
Epoxid wurde zum Schlagwort für abwegige Ideen, und dein Boot wirst du auf der Leinwand sehen, wenn du das Archiv zu durchsuchen beginnst. Anfang der Sechziger hatte die Delphin einen Motor und keinen Mast, Vater sitzt hinten, Mutter fährt Wasserski auf der Oka. Nach Vaters Tod wurdest du impulsiv, aktiv, die Zeit ist gekommen, auch andere Verpflichtungen zu übernehmen: die Fotos zu rahmen, das Archiv aufzuräumen.
Nach dem, was mit dem Haus geschehen ist, bist du auf das Verschwinden der Banja vorbereitet: Sie war hölzern und baufällig. Wir wuschen uns samstags, freitags holten wir Wasser aus dem See und bereiteten das Brennholz vor. „Wir haben gut gearbeitet“, sagtest du mit zehn Jahren zu Josas, dem großen, hageren Hausbesitzer mit den riesigen, sehr kräftigen, von der Arbeit schwarzen Händen, du wolltest dich bei ihm einschmeicheln. „Ja, wir haben alle anderen abgehängt“, antwortete er verträumt. Josas rauchte filterlose Zigaretten: der Geruch des angezündeten Streichholzes und so weiter – wenn du möchtest, erinnere ich mich auch an die Abenteuer in der Banja, aber das hier sind Reiseskizzen und nicht der Film „Amarcord“.
Also weder Haus noch Banja, und sogar den Steg haben sie durch etwas geschmacklos Fundamentales ersetzt. Bleib hier nicht hängen, hier auf der Halbinsel, nimm Tomas mit und fahrt nach Sventa, aber vorher – in den Wald.
Die Bibliothekarin hatte einen Plan gezeichnet: von der Landstraße Richtung Degučiai nach Dusetos abbiegen, dann hinter der zweiten Bushaltestelle nach dem Schild Ausschau halten. „Hier kamen achttausend Juden um, erschossen von den deutschen Faschisten am 26. August 1941.“ Das Wort „Juden“ auf dem Obelisken wirkte wie eine unmögliche Kühnheit, in deiner Jugendzeit wurde dieses Wort nur in besonderen Fällen gebraucht, man konnte die ja nicht Sowjetbürger nennen. Links und rechts ein grasbewachsener Graben, zweihunderttausend litauische Juden liegen in solchen Gräben.
Die Entsowjetisierung hatte sich auch auf das Denkmal ausgewirkt, man hatte die russische Aufschrift entfernt. Ist das richtig? Das ist nicht deine Entscheidung, du hättest sie beibehalten. Jetzt gab es zwei Aufschriften: eine jiddische und eine litauische. „An diesem Ort töteten die nationalsozialistischen Mörder und ihre Helfer auf brutale Weise achttausend Juden – Kinder, Frauen und Männer. Heiliges Gedenken der unschuldigen Opfer“: jiddisch. In der litauischen Version wird das präzisiert: „einheimische Helfer“.
Es gab auch welche, die retteten. Und die erst erschossen und dann retteten. Und sogar umgekehrt – das ist schwer zu glauben, aber auch das ist vorgekommen.
Es herrscht vorbildliche Ordnung: Umzäunung, ordentliche Bordsteinkante, Davidstern auf dem Obelisken, auf dem Sockel Kerzen und die Flaggen Israels, Steine, und irgendjemand hat ein kleines, selbstgemachtes Kreuz mitgebracht. Das war früher nicht da.
„Leiden, beweinen“, sagt Tomas, „ist die Aufgabe der Litauer.“
Alle kennen hier den Witz, dass die letzte Frau unbedingt eine Litauerin sein muss: Sonst kümmert sich keiner um das Grab. Nein, nein, das sind nicht Mandelstams „Frauen, feuchter Erde nah Verwandte“, sondern Versuche des Ausbruchs aus einer beliebigen schrecklichen Lebenssituation.
Auf dem Weg zum Hotel: Erinnerung an den kleinen finsteren Alten von sechzig Jahren mit dem alkoholgeschwärzten Gesicht, einen einheimischen Schlosser oder Elektriker, der auf einem Motorrad mit Beiwagen fuhr und etliche Jahre gesessen hatte: „Die Polacken – an die Mauer. Die Russen – an die Mauer. Die Jidden …“, er hob den Blick und guckte Vater an, „… von den Jidden jeden Zweiten.“
Jetzt hätte man ihm das nicht durchgehen lassen, aber damals duldeten sie das ungerührt, sie waren ja Besatzer. Žydai – ein anderes Wort für Juden hat das Litauische nicht. Unter allen möglichen Aspekten betrachtete sich der Alte ebenfalls als Opfer. Radio Free Europe schickte den Waldbrüdern bis Mitte der Fünfzigerjahre tröstliche Nachrichten: Haltet durch, Kameraden, nicht mehr lange, bald kommt wieder ein Weltkrieg.
Damaliger Aufbruch nach Sventa für einen ganzen Tag: mit Decken und Essen, Büchern, Krügen für Blaubeeren, Körben für Pilze, mit einem Volleyball, und beim Auto sah man durch die Löcher im Boden den Asphalt, und die Gangschaltung war natürlich mechanisch. Wie habt ihr Mutter ausgelacht, als sie später, schon mit dem Anbruch der Freiheit, aus Amerika zurückkam und erklärte, die Autos hätten jetzt keine Gangschaltung mehr – das kann nicht sein –, und sie stimmte zu: Ihr müsst es besser wissen. Und wie sie jetzt mit Vater die einfache Freude teilen würde, die Freude über das vollkommene Auto, auch wenn es ein Leihwagen ist. Nach dem Weg braucht man nicht zu fragen – den zeigt das Navi an. Es schlägt Sventskoe ozero, Sventes ezers vor, das ist es. Auf deinem Umschlag steht ja auch „Maksimas“.
Was ist das denn für eine Grenze? Gehört Sventa zu Lettland? Natürlich, ihr fuhrt ja nach Daugavpils, wenn ihr eine richtige Stadt brauchtet. Dort am Bahnhof stand Lenin auch in der größten Hitze in seiner Pelzmütze mit den Ohrenklappen neben dem großen Gefängnis am Bahnhof. LitSSR, LatSSR – die Grenzen hatten keine gravierende Bedeutung. Und da ist auch die bekannte Straße mit dem Kies, hier hast du Autofahren gelernt. Und der kranke, ungepflegte Wald. Alles bekannt: die Straße und der Wald.
Touristen gibt es offenbar nur wenige, und es ist nicht verboten, ans Wasser heranzufahren. Überlaufen war es in Sventa nie – einer der Gründe, es zu lieben –, früher aber war hier ein Naturpark: Lagerfeuer und Autos verboten. Alles andere ist unverändert: hier der Sand, ein Ruderboot mit schwarzem, glänzendem, fett mit Pech bestrichenem Boden, hier der Steg, der vermodert ist, du hast dich so nach ihm gesehnt. Versuchst, darüber zu gehen, und stehst bis zum Knöchel im Wasser. Trocknest die Füße und schaust dich um.
„Was bläst du immer die Trompete, junger Mann? / Lägst besser in einem Sarg, junger Mann.“ Hast du nicht von hier aus, hinter diesen Bäumen versteckt, die Umgebung mit deiner Trompete beschallt? „Poème de l’Extase“, „Götterdämmerung“ – dieses Gedröhne hieltst du für Musizieren. „Unrhythmisch, dafür schiefe Töne.“ Mein Freund, der Pianist, der jetzt in Amsterdam lebt, überredete mich, die Trompete aufzugeben und zur Flöte zu wechseln – ein leises, sinnliches Instrument. Aber ich konnte mich damit nicht anfreunden. Das Glücksgefühl verbindet sich trotzdem mit der Trompete.
Über die Geheimnisse des Glücks. Der letzte von Vater geschriebene Brief schließt so: Wir haben uns versammelt – reden oder schweigen, und wir haben nicht das Gefühl, dass das Leben gelungen oder nicht gelungen ist. Manchmal denke ich: Vielleicht sind wir eigentlich glücklich? Versuch, Tomas von deinen Eltern zu erzählen, aber wie das Geheimnis der Persönlichkeit wiedergeben? Das ist noch schwieriger, als Gedichte zu übersetzen.
Auf uns können verschiedene Erschütterungen zukommen. Sie können auf jeden Menschen zukommen, auf uns umso mehr. Man muss damit so umgehen, dass wir sie möglichst wenig fürchten. Vater erinnerte sich zum Beispiel gut daran, dass er zu einer bestimmten Zeit (Ärzteprozess und drum herum) nicht die einfachste Arbeit finden konnte, wie er fast mit Hoffnung die Deportation der Juden in den Fernen Osten erwartete: Hauptsache, alle zusammen, Hauptsache, die Familie wäre beisammen. Seine Briefe hatten eher erbaulichen Charakter, er beeilte sich, etwas Wichtiges mitzuteilen, während das für Mutter ein Mittel war, das Schweigen fortzusetzen: Den Tag verbracht wie im Zug: Aufwachen, Einschlafen und Nichtstun … Ich plaudere einfach so, man kann in einem Brief ja nicht schweigen.
Eine Weile noch am Wasser stehen, eine Zigarette rauchen, sich an etwas Eigenes erinnern, eine Mandarine essen. Es ist hier tot, still, Friedhofsstille.
Und erst als du ins Hotel zurückkommst und eine gewöhnliche Karte aus Papier studierst, verstehst du, dass du dich geirrt hattest. Sventes, Švjantas, Švjantoin, der heilige See und der heilige Fluss, diese Namen finden sich jenseits und diesseits der lettischen Grenze. Der Švjantas-See ist der, den wir Sventa nannten, wo du hinfahren wolltest. Wie hattest du dich so irren können? Der Unterschied ist ein Häkchen: Šventas ežeras, da muss man nach Süden fahren, nach Turmantas und nicht nach Lettland.
Tomas sollte sagen: „Sie haben alles wiedererkannt, Maxim: sowohl den Weg wie den See.“
„Ja, habe ich.“
Auf dem Weg nach Vilnius vergleicht ihr die Eindrücke. Für Tomas war der Höhepunkt eurer Reise das Poltern der Lastwagen über das Kopfsteinpflaster an der Kirche, der Wind und der Hagel, während du das gar nicht beachtetest. Es ist merkwürdig mit diesen Erinnerungen: Hörst ein ganzes Konzert und erinnerst dich hinterher nur daran, dass der Dirigent rote Socken anhatte.
Störche und Hügel und das viele Wasser, der Himmel erinnert an den in Holland, aber durch die Hügel ist die Landschaft ausdrucksvoller. Wie würdest du dich hier fühlen? Ja, Provinz, aber nicht provinziell, nicht zu sehr. Das ist einfach so ein Land in Osteuropa – in vieler Hinsicht beneidenswert. Alles wird sich hier allmählich einrenken, wenn es zu keiner Einmischung von außen kommt.
„Als ich eine Säule der Gesellschaft war …“, so beginnt deine nicht mehr junge Bekannte gerne ihre Rede. Vielleicht stimmt das sogar. In Litauen gibt es auch Leute, die es lieben, sich an die Zeiten zu erinnern, als das Großfürstentum sich bis zum Schwarzen Meer erstreckte (hauptsächlich durch erfolgreiche Heiraten), aber hier ziehen sie aus der einstigen Größe keine praktischen Schlüsse.
„Sie wissen einfach nicht alles“, das hörte ich in Paris und Rom von antieuropäisch eingestellten Russen. Sie reden nur davon, dass man sie hier und da nicht mag. Liebe Freunde, am wenigsten liebt man uns zu Hause, in Moskau.
„Man muss so handeln, dass wir uns möglichst wenig fürchten.“ Damals warst du keine zwanzig, jetzt bist du schon über fünfzig.
Du sagst zu Tomas: „Alles ist auf erstaunliche Weise zurückgekehrt. Meine Sorgen aus der Zeit vor mehr als dreißig Jahren waren genau dieselben wie jetzt: 1) mir nicht die Finger schmutzig machen, nicht moralisch auf den Hund kommen 2) nicht eingesperrt werden und 3) nicht den Moment verpassen, wo es Zeit sein wird, für immer auszureisen. Und die alte trügerische Hoffnung: Eines Tages werden wir aufwachen, und diese ganze Ohnmacht wird vorbei sein.
Aber die Umstände zwingen einen, nicht zu schlafen, in verschiedene Richtungen zu schauen, den Kopf einzuschalten. Dein witziger Bekannter wird sagen: Fürst Andrej Kurbskij hatte ähnliche Vorstellungen. – Für Kurbskij endete alles mit Litauen.
„Geh zur Müllgrube“, schreibt Boris per Telefon, Freund Boretschka, ein großer Musiker, seines Zeichens Geiger, der vor kurzem aus London hierhergezogen ist. Er kämpft tapfer mit den litauischen Suffixen – žmogus, žmonija, žmogiukštis, žmogiškumas (Mensch, Menschheit und so weiter) – obwohl man in Litauen, wie es heißt, durchaus mit Englisch und Russisch durchkommt. Übrigens sind die Häkchen über den Buchstaben eine Erfindung von Jan Hus.
Boretschka möchte, dass dir die Stadt gefällt, er fährt dich hierhin und dahin, entschuldigt sich für alle möglichen Scheußlichkeiten wie die Müllgrube, stell dir vor! Das Leben ist nicht reich, aber auch nicht arm, und die Hauptsache: Es gibt keine Verbote, Einschränkungen, Barrieren und weniger Ärger, als du es in den letzten Jahren von Moskau gewohnt bist. Vilnius ist schön, sauber, aber nicht geleckt. Wo man dich untergebracht hat, sieht es aus wie eine Mischung aus Serpuchow und Paris, und die Altstadt ist etwas ganz Besonderes, sie gleicht keiner anderen.
„Es gibt überall eine Masse Probleme“, sagt der Besitzer des Künstlercafés und lächelt.
Ein erfahrener Mann, der in Israel und Amerika und sogar in Jordanien gewohnt hat und weiß, wovon er spricht. Rechnet er damit, dass die Geheimdienste (wer weiß, wie sie heißen?) ihm das Café wegnehmen und er froh sein kann, wenn sie ihn nicht einsperren? Da wird Amnesty International nicht mit der Wimper zucken. Er ist ehrlich erstaunt: Nein, so etwas ist nicht zu befürchten, was für ein Glück, dass die Sowjetunion zusammengebrochen ist! Du hast ebenfalls davon geträumt, noch vor Litauen, schon mit acht Jahren bei der Lektüre von Dickens’ „Die Pickwickier“. Und wusstest, dass es eine Stadt namens London gibt, in Büchern, auf Karten, aber London sehen, davon träume nicht, mein Sohn.
„Man sieht, dass der Autor wenig vertraut mit der Theorie der Prosa von Wiktor Schklowski ist“, sagte einer der Zuhörer, nicht laut, aber deutlich. Ein riesiger Litauer, der im Observatorium von Vilnius arbeitet. Schwierig, nicht arrogant zu sein, wenn man im Observatorium arbeitet.
Gespräche, Lesungen auf Russisch. Für wen, fragt sich, wurde das Buch denn eigentlich übersetzt? Die Antwort ist klar: für den Autor. Wer spendiert also den Umtrunk? Das wurde dir an ganz anderer Stelle gesagt, allerdings aus einem ähnlichen Anlass.
Užupis, Stadtbezirk der freien Künstler, mit einer komischen Verfassung und Regierung (Tomas hat da einen wichtigen Posten) – hier liest du deine Erzählung „Fantasie“:
„Houston …“, sagt Ada nachdenklich. „Andrjuscha, wir haben uns in Vilnius eine kleine Wohnung gekauft …“
Vilnius, finden sie, kann sie zwar nicht vor allem bewahren, aber mit dem Pass des Staates Israel …
„Was, sogar einen israelischen Pass haben die?“
Und die Zuhörer lächeln, und am Ende kommt ein Moskauer deines Alters auf dich zu, ein Absolvent der physikalisch-mathematischen Schule und Doktor der Wissenschaften – es stellt sich heraus, dass die Wohnung, in der man dich untergebracht hat, ihm gehört, er wirbelt nur nicht vor deiner Nase mit dem Laissez-passer, dem israelischen Pass herum, besitzt ihn aber. So ist also ein Reim gefunden, die Lösung ist eine ganze Zahl und nicht irgendein irrationaler Kokolores.
„Kommen Sie öfter oder gleich für immer. Glauben Sie mir, hier gibt es Liebenswertes.“
„Wie schön doch in der Dämmerstunde / Sich’s plaudern lässt beim Glase Wein.“
Sie wissen einfach nicht alles, hier sagte niemand dergleichen. Am letzten Tag des Aufenthalts in Vilnius fängst du an, Bekannte auf der Straße zu treffen. Vilnius ist imstande, abzulenken und zu zerstreuen – gerade so viel wie nötig. „Wie kann ich denn traurig sein, wenn es dir gut geht.“ Freude zu teilen – dafür sind Eltern ideal. Fertig, setz dich auf deinen Platz und fahr mit, setz dich gerade hin und schnall dich an.
Die Träume erledigen sich einer nach dem anderen – manche, weil sie in Erfüllung gehen, aber größtenteils, weil sie nicht notwendig sind. Vater wollte, dass du Doktor der Medizin wirst – wozu? Oder: Du hast einen schönen Friedhof auf der anderen Seite der Oka ausgesucht, hast alles mit der Frau abgesprochen, die dafür zuständig ist, aber plötzlich ist das zu nichts nutze – stille, gemütliche Friedhöfe finden sich auch hier, in greifbarer Nähe, an deinem Ufer.
Dort gibt es etwas, was man lieben kann, das ist sicher. Und hier auch, und wie! Man muss nur eine Öffnung finden zwischen den dunklen, harten Männern, die den Ausgang versperren, und ins Freie gelangen. Über die Männer ist schon alles gesagt. Erinnere dich an die, die du liebst – zum Beispiel den Priester, der alle deine Verwandten beerdigt hat. „Aristokratismus und Einfachheit, das ist das Beste, was die Russen haben.“ Denk daran, schau aufs Wasser, erinnere dich an Litauen.
Weit nach Mitternacht bist du zu Hause. Du gehst ins Netz und liest gemeinsam mit deinen Angehörigen das erste Kapitel des Johannes, vom Beginn bis zum siebzehnten Vers – auf Altkirchenslawisch, Englisch, Deutsch, Russisch. Das ist dein Ostern in diesem Jahr.
Tarussa, April 2017