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Nempon schloss das Rennen sowohl als Letzter als auch als Erster ab: Mit 21 Stunden hinter Firmin Lambot belegte er den letzten Platz in der Gesamtwertung, aber den ersten Platz der B-Fahrer. Den einzigen Platz der B-Fahrer, um genau zu sein. Sieger, Verlierer und Überlebender in einer Person.

Es spielte kaum eine Rolle, dass er von den gewieften, auf Publikumswirksamkeit bedachten Organisatoren unterstützt und begünstigt worden war. Angeblich war er verpflegt und verwöhnt worden und hatte auch Preisgelder genutzt, um sich frisch zu machen.13 Aber gesehen wurde er als ein Außenseiter, der ebenso wie die Tour und wie Frankreich selbst trotz widrigster Umstände weitermachte. Sein Triumph als Letztplatzierter hatte den Franzosen einen Grund zum Jubeln gegeben und den Eindruck gemacht, dass sich nach dem Krieg endlich wieder Normalität einstellte. Die Tour von 1919 einte die Nation, und es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Jules seinen Teil dazu beitrug. Seinen Auftritt in dem mit 30.000 Zuschauern gefüllten Velodrom beschrieb L'Auto als einen »rührenden Empfang, der dem tapferen, kleinen Nempon zuteilwurde, dem einzigen Überlebenden der Kategorie B«.

Sein Bild erschien noch ein weiteres Mal, nämlich am letzten Tag auf der Titelseite von L'Auto zusammen mit allen anderen Finalisten der Tour. Auf diesem Foto trägt er ein Hemd, aber keine Kopfbedeckung, sodass sein schwarzer Haarschopf hervorsticht. Er wirkt schläfrig und ein wenig verwirrt, als sei er gerade erst aus einem Tagtraum aufgewacht, in dem er die 13. Tour de France absolviert hatte. Außerdem sieht er etwas fleischiger aus, als hätte er während der vierwöchigen Tortur dank der von den Organisatoren für ihren B-Preisträger aufgetischten Mahlzeiten und sonstigen Gefälligkeiten sogar noch zugenommen. Paul Duboc wurde sechs Wochen nach dem Rennen disqualifiziert. Eine Untersuchung hatte ergeben, dass er auf einer der letzten Etappen per Anhalter gefahren war, um seine gebrochenen Pedale reparieren zu lassen. Dadurch stieg Nempon vom elften auf den zehnten Platz auf. Er sollte noch mehrere andere Touren überleben, aber niemals ein besseres Ergebnis erzielen als diesen zehnten Platz.

Ein weiterer Beweis dafür, dass weder die Organisatoren noch das Publikum auf die Sieger fixiert waren, bilden die Begeisterungsstürme, mit denen Eugène Christophe auf dem ganzen Weg von seinem heimatlichen Pariser Vorort Malakoff bis zum Ende begleitet wurde. Nach allgemeiner Ansicht war Christophe der größte Pechvogel in der ganzen Geschichte der Tour: Nachdem er während des Großteils des Rennens in Führung gelegen hatte, brach ihm auf der vorletzten Etappe die Gabel und er musste das Gelbe Trikot an Firmin Lambot abgeben. Auf der letzten Etappe hatte Christophe eine Rekordanzahl von Reifenpannen und verlor dadurch auch den zweiten Platz an Jean Alavoine. Desgrange schrieb: »Der Himmel ist düster und verwaschen. Mächtige, schmutzige Wolken erstrecken sich bis zum Horizont. Es ist, als ob die Natur selbst trauern würde. In den Außenbezirken von Valenciennes steht Eugène Christophe auf dem Bürgersteig. Er schiebt sein Fahrrad, den Sattel zur Erde gerichtet: Die Vordergabel ist gebrochen. Für mich sieht es aus wie eine riesige Leier, deren gesprungene Saiten von seinem letzten Unglück singen.« Die offiziellen Stellen, die möglicherweise gesehen hatten, dass Gewinnen mehr bedeutet, als in der kürzesten Zeit die Ziellinie zu überqueren, gestanden ihm das gleiche Preisgeld zu wie Lambot, und zusammen mit öffentlichen Spenden nahm er mehr mit nach Hause als der Belgier.

Mit der Tour 1919 hatte Desgrange ein Rennen bekommen, das von den Fahrern noch einen höheren Tribut forderte, als er erhoffen konnte. Seine Bereitschaft, die Regeln etwas weiter auszulegen, zeigen jedoch eine Spur von Mitgefühl und Gerechtigkeitssinn, die er in seinen öffentlichen Äußerungen und seiner offiziellen Rolle zu verbergen versuchte. Mit Nempon hatte Desgrange außerdem das erhalten, was er sich gewünscht hatte, nämlich einen Sieger in heldenhafter Einsamkeit – einen einsamen Wolf, der gegen das Schicksal ankämpft.

1909

150 Teilnehmer am Start

Sieger: François Faber, 28,64 km/h, 37 Punkte

Lanterne rouge: Georges Devilly, 713 Punkte, keine Zeit aufgezeichnet

55 Finalisten

1919

69 Teilnehmer am Start

Sieger: Firmin Lambot, 24,06 km/h

Lanterne rouge: Jules Nempon, 22,02 km/h, 21 h 44' 12" Abstand

10 Finalisten

KAPITEL 3
DAS GELBE TRIKOT

Die Tour de France wird in gleichem Maße durch das groß gemacht, was sie ausschließt, wie durch das, was sie fördert. Ihre Ablehnung ist etwas Erhabenes.

Antoine Blondin

Wenn Sie dem gewundenen Verlauf der Seine von Paris aus westwärts in Richtung Ville-d'Avray folgen, dem letzten Kontrollpunkt der ersten Tour de France, gelangen gleich hinter dem verstopften Périphérique – der Umgehungsstraße – nach Issy-les-Moulineaux. Das begrünte Stadtgebiet wirkt recht anonym. Menschen eilen mit der Straßenbahn und auf den stark befahrenen Straßen von einem Ort zum anderen. Es ist die Art von Stadt, die moderne Unternehmensgebäude aufweist, aber keine traditionellen Cafés, in denen man einen expresso trinken könnte – die obskure französische Verballhornung von Espresso, bei der das »ex« anzudeuten scheint, dass es sich um »ehemaligen Kaffee« handelt. Die Straßen sind außerdem vollgepfropft mit der Art von Stadtmöblierung, die Jean-François Pescheux wahnsinnig machen würde.

Als technischer Leiter war Pescheux zwischen 2005 und 2013 dafür verantwortlich, dass die Tour an jedem Tag, in jeder Woche und in jedem Jahr reibungslos ablief. Er trug dafür Sorge, dass sich jede Geschichte und jedes Drama frei entfalten konnte, ungehindert von Gefahren durch Hilfsfahrzeuge des Rennens, Medien, Zuschauer, Kies, und desorientierende Regenschauer sowie von Bodenwellen zur Geschwindigkeitsbegrenzung, Schikanen und anderen verkehrsberuhigenden Maßnahmen, die sich in und um französische Städte in dem gleichen deprimierenden Maße anhäufen wie reifenschädigender Straßenschmutz auf einem nassen Fahrradreifen. Der Société du Tour trat Pescheux 1982 bei und arbeitete sich unter den Rennleitern Jacques Goddet, Félix Lévitan, Jean-Marie Leblanc und Christian Prudhomme nach oben. Davor war er selbst Radrennfahrer. Dreimal hatte er an der Tour de France teilgenommen, und zweimal gewann er bei den französischen Nationalmeisterschaften einen Platz auf dem Siegertreppchen für die Einzelwertung im Sprint.

In den Anfangstagen wurde die Tour vom Büro von L'Auto in der Rue du Faubourg-Montmartre im Zentrum von Paris aus organisiert. Inzwischen sitzen L'Équipe, die Nachfolgezeitschrift, und die ASO, die das Rennen organisiert, in den südwestlichen Vororten. In den ASO-Büros – gleich neben denen von Sodexo, einem der größten internationalen Konzerne von Frankreich – wartete Monsieur Pescheux auf mich, um mit mir über die lanterne rouge zu sprechen. Bevor ich mich mit ihm traf, wollte ich meine Notizen durchgehen – vielleicht bei einem expresso –, aber ich fand keine Gelegenheit zum Einkehren.

Das Interview versprach interessant zu werden. Erstens hatte Pescheux den Ruf eines Mannes der Praxis, der unverblümt redete. Wenn Sie das Wort »streitsüchtig« in einem Bildwörterbuch nachschlagen, werden Sie wahrscheinlich ein Foto von ihm sehen. Mit seinen 61 Jahren sah er nicht so aus, als würde er sich auf sein Fahrrad schwingen, aber er hatte immer noch etwas von dieser Ellbogen-bei-70-km/h-Haltung, die manche Sprinter aufweisen. Er strahlte die Drohung aus, Sie mit einem Blick zermalmen zu können, wenn Sie es wagen sollten, ihm nach der flamme rouge in den Weg zu treten oder den reibungslosen Ablauf seines Rennens zu gefährden. Als Rennleiter hatte er für Jacques Goddet gearbeitet, den Sohn des Tourbegründers, der in den 20er und 30er Jahren mit Henri Desgrange zusammengearbeitet hatte. Das stellt eine ununterbrochene Linie dar, die über nur zwei Generationen bis zur Geburt des Radrennsports zurückreicht, zu Rädern ohne Schaltung und 460-km-Etappen, wollenen Trikots und flachen Mützen, Brandy und Kokain.

Zweitens interessierte es mich natürlich, was die lanterne rouge für die ASO bedeutete. Diese ehrwürdige Organisation stellt jedes Jahr ein Rennen auf die Beine, dessen wichtigste Frage lautet, wer in der kürzestmöglichen Zeit ins Ziel kommen kann. Ja, es gibt auch noch andere Preise, aber alle werden für herausragende Leistungen ausgeschrieben, z. B. für möglichst schnelles Bergauffahren oder für einen möglichst schnellen Sprint zur Ziellinie. Für Kritiker ist die Ehrung der lanterne rouge bestenfalls unseriös und schlimmstenfalls ein Widerspruch zum Sinn und Zweck des Rennens. Lenkt Sie die Aufmerksamkeit nicht von dem wahren Ziel ab, nämlich zu gewinnen? Wird dadurch nicht das Versagen gefeiert? Und was ist, wenn einige Teilnehmer in einem Wettbewerb der Versager alles daran setzen, um Letzter zu werden? (Was übrigens tatsächlich geschehen ist, wie wir noch sehen werden.)

Man muss nicht lange suchen, um negative Stimmen über die lanterne rouge zu hören. »Das bringt gar nichts für das Rennen«, sagte Jean-Marie Leblanc, Tourdirektor von 1989 bis 2005, zu dem Journalisten James Raia, »es gehört heute zu den Überlieferungen der Tour der France, aber es existiert weder offiziell noch inoffiziell.« Das ist nicht nur eine ablehnende, sondern auch eine fruchtlose Haltung, denn schließlich wird die Ehrung der lanterne rouge durch die Fans am Leben erhalten und unterliegt daher nicht seiner Kontrolle. Roger Legeay, ehemals Fahrer und angesehener DS – directeur sportif –, jetzt Vorsitzender des Mouvement Pour un Cyclisme Crédible (»Bewegung für glaubwürdigen Radsport«), äußerte sich in der Zeitschrift Procycling gegenüber der Journalistin Sadhbh O'Shea zurückhaltender: »Das ist nicht die Philosophie des Sports. Das Prinzip des Sports besteht darin, sein Bestes zu geben und nicht der Letzte zu sein. Für mich war das nie ein Ziel. Ich wollte mein Bestes tun.«

Die directeurs sportifs schätzen zwar manchmal die Publicity, die die lanterne rouge mit sich bringt, können aber auch sehr ablehnend sein. Marc Madiot, DS von La Française des Jeux, gehört zu denen, die definitiv dagegen sind. Wim Vansevenant (lanterne rouge von 2006 bis 2008) hat mir erzählt, dass er gehört hat, wie Madiot einen Fahrer für seinen letzten Platz in der Gesamtwertung gescholten hat. Auch Graeme Fife berichtet von einer wahren Gardinenpredigt, die Madiot einmal einem Fahrer gehalten hat: »Letzter in der Tour de France? Das ist beschämend! Eine Schande! Ich mag keine lanternes rouges!« Die Fahrer selbst tragen den Titel zwar mit Würde, wenn sie ihn erhalten, versuchen das Thema aber so weit wie möglich zu vermeiden. »Ich denke nicht daran«, sagte Gianluca Bortolami, der auf einzelnen Etappen eine recht ordentliche, wenn nicht gar brillante Leistung zeigte, »es sind immer eine Menge Jungs hinter mir.«

Bei anderen Rennen wird die Tradition, den letzten Platz zu ehren, stärker akzeptiert. Bei der zweiten Auflage der Vuelta a España trug der Letztplatzierte ein rotes Trikot. »Der letzte Platz in einem Rennen wie diesem ist keine Schande«, erklärte die Jury. Falls Sie es nicht gewusst haben sollten: Bei der modernen Spanien-Rundfahrt ist Rot ist die Farbe des Führungstrikots (bei der zweiten Auflage im Jahr 1936 trug der führende Fahrer orange); das ursprüngliche rote Trikot schien nur in diesem einen Jahr vergeben worden zu sein. 1937 sorgte der Spanische Bürgerkrieg für eine vierjährige Zwangspause des Rennens, und es gibt kein Anzeichen dafür, dass das rote Verlierertrikot diese Unterbrechung überlebt hätte. Daher war Ramón Ruiz der einzige Fahrer, der es jemals trug. In Italien dagegen wurde das Trikot für den Letztplatzierten beim Giro einige Jahre lang vergeben. Zwischen 1946 und 1951 wurde die maglia nera, das Schwarze Trikot, täglich dem letzten Mann des Rennens übergeben. Stellen Sie sich vor, wie bedrückend das gewesen sein muss! Da es laut Gazzetta dello Sport einen erheblichen Geldpreis für den Träger der maglia nera am Ende des Rennens zu gewinnen gab, war dieser Preis hart umkämpft. 1946 und 1947 teilten sich Gino Bartali und Fausto Coppi die maglia rosa, während Luigi Malabrocca das Schwarze Trikot ganz für sich allein hatte. Angeblich versteckte er sich sogar in Scheunen und Kellern und stach seine eigenen Reifen an, um das zu erreichen. 1949 war Malabrocca so stark von seinem Erfolg überzeugt, dass er in dem Glauben, noch vor der letzten Etappe gewonnen zu haben, seinen Hauptkonkurrenten Sante Carollo beim Sturm auf das Ziel in Monza nicht mehr beachtete. Er war der Meinung, dass die Zeitnehmer zu sehr damit beschäftigt waren, Coppi zum dritten Mal zum König des Giro zu krönen, und sich nicht mehr um den gruppetto kümmerten (die italienische Bezeichnung für die Fahrer in der Gruppe der Nachzügler) und ihnen allen die gleiche Abschlusszeit geben würden. Damit lag er falsch: Carollo schaffte es, Zeit zu verlieren, sodass ihm zu Recht das Schwarze Trikot verliehen wurde, was Malabrocca darum brachte, seinen historischen dritten Sieg zu erringen. Der berühmteste Gewinner der maglia nera war zugleich auch der letzte. Giovanni Pinarello war der letzte Empfänger, bevor der Brauch beendet wurde. Er fuhr eigentlich für Bottechia, aber das Team wollte für den aufstrebenden Star Pasqualino Fornara Platz machen. Daher wurden ihm 1952 100.000 Lire – etwa sechs Monatslöhne – angeboten, wenn er seinen Platz beim Giro in diesem Jahr aufgab. Das Geld investierte er in seine junge Fahrradbaufirma in Treviso, in die er vielleicht auch ein Gutteil seines Preisgelds für den Letztplatzierten hineinsteckte. Seine geschäftlichen Talente schienen besser gewesen zu sein als seine Fähigkeiten als Radsportler, denn 60 Jahre später gehört Pinarello zu den angesehensten und einflussreichsten Marken im Radsport, und zahlreiche Siege der Grand Tour wurden mit seinen Rädern errungen.

Bei der Tour de France hatten Sponsoren schon oft inoffizielle Preise für die Letztplatzierten ausgelobt. Von einer lanterne rouge hörte ich, dass ein Autohersteller ihm in einem Jahr angeblich sein neuestes Modell angeboten hätte, aber das kann ich nicht bestätigen. Einzelpersonen haben auch Dutzende von sogenannten primes für den Letzten gespendet, der einen Ort durchfährt, oder für den »größten Pechvogel« unter den Fahrern. Die lanterne rouge wurde jedoch niemals offiziell anerkannt, und es hat nie einen offiziellen Preis dafür gegeben. Der französische Radsportverband FFC (Fédération Française de Cyclisme) verbietet sogar jegliche primes für Letztplatzierte.14 Er gehört damit in die gleiche Kategorie wie etwa der Prix de l'Humour für den witzigsten Fahrer des Jahres sowie der Prix Orange und der Prix Citron, die von der Presse für den freundlichsten bzw. den unkooperativsten Fahrer verliehen werden. Auch diese Auszeichnungen sind bekannt, aber nirgendwo offiziell abgesegnet.

Ich fragte mich, ob Pescheux auch diese Ambivalenz gegenüber der lanterne rouge an den Tag legte. Auf der einen Seite war es möglich, dass er die frühe Verehrung für den »Kult der Überlebenden« von Goddet geerbt hatte, aber auf der anderen Seite hatte er auch einen Logenplatz bei einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Tourdirektor Félix Lévitan und einer lanterne rouge in den späten 70er Jahren. Nun, es gab eine Möglichkeit, das herauszufinden.

Pescheux erwies sich als freundlicher und sehr hilfreicher Mann mit gebildeter und eleganter Ausdrucksweise. Von Anfang an bewies er die Denkweise, die hinter der FFC-Regel steht: Wenn es Preise für den Letzten gibt, »dann findet die Schlacht hinten statt, obwohl sie doch eigentlich an der Front ablaufen soll«, wie er sagte. Damit hatte er die unkomplizierte Wahrheit auf die direkte Weise ausgesprochen, die Radrennfahrern manchmal zu eigen ist, da sie es gewohnt sind, geradeaus zu blicken. Es stellte sich jedoch auch heraus, das J. F. Pescheux nicht feindlich gegenüber der lanterne rouge eingestellt war. Seiner Meinung nach hatte sie nur seit den frühen 80er Jahren an Bedeutung verloren und war in der modernen Zeit unwichtig geworden.

»Damals wurde dem Letzten in der Tour eine rote Laterne übergeben, die er auf der Schlussetappe an sein Rad hing. Es war symbolisch, und er wurde wie ein Star behandelt. Aber all das ist jetzt vorbei«, sagte er, »jetzt ...« Er hielt kurz inne, um sein Gedächtnis zu prüfen, und fuhr fort: »Ich kann Ihnen nicht einmal den Namen des Letztplatzierten der Tour in diesem Jahr nennen.« Pescheux gab zu, dass der Verlust einiger der Dinge, die bei der Tour außer Mode gerieten, durchaus bedauernswert ist. So tat es ihm beispielsweise um die Teamwertung leid, die zweitwichtigste Wertung nach dem Gelben Trikot, die heute nicht mehr öffentlich zelebriert wird. Die lanterne rouge dagegen gehörte nicht dazu. Er fuhr fort: »Heute ist es fast mehr eine Schande als eine Ehre. Von der Zeit, in der es eine Ehre war, lanterne rouge zu sein, sind wir zu einer Zeit übergegangen, in der man einfach nur Letzter in der Tour ist.« Heute würden die Fahrer sagen: »›Ich bin nicht der Letzte in der Tour, ich bin die Nr. 135.‹«

Für diesen Wechsel sah er viele Gründe. Einer davon ist, dass inzwischen viel mehr Fahrer an dem Rennen teilnehmen. 2013 standen 198 Teilnehmer an der Startlinie, während es in den 60ern und 70ern noch 120 oder 130 waren. Außerdem sind die Gehälter im Profiradsport gestiegen, was die Kriteriumrennen nach der Tour weniger bedeutend macht. Diese Rennen finden in den Wochen nach der Tour statt und wurden ursprünglich von Geschäftsleuten in den Städten organisiert, die im betreffenden Jahr nicht besucht wurden, und in Belgien und den Niederlanden, um sich die Aufregung vor die eigene Haustür zu holen. Promoter nahmen die Stars der Tour für eine hohe Antrittsgebühr unter Vertrag und füllten die Teilnehmerliste mit weniger bekannten Tourteilnehmern und örtlichen Schwergewichten auf. In der Abenddämmerung vollführten die Fahrer dann eine sorgfältig inszenierte Show auf einem begrenzten Parcours in der Innenstadt, um den Einwohnern einen Eindruck von der Spannung der Tour zu geben und sie die Stars, deren Taten sie während der drei Wochen im Juli in der Zeitung und im Fernsehen verfolgt hatten, in ihren eigenen Straßen erleben zu lassen. Wenig überraschend gewinnt fast immer der Träger des Gelben Trikots, oft nur eine Radlänge vor dem stärksten Rivalen. In ihrer Blütezeit gab es in Nordeuropa mehr als 50 Kriterien in den wenigen Wochen im August, bevor es mit dem ernsthaften Radrennsport wieder weiterging. Manche Fahrer nahmen sogar an zwei Rennen pro Tag teil und reisten in besonderen Charterflügen hin und her. Besonders nachgefragt waren dabei die lanternes rouges als Lieblinge der Fans und als fest verwurzelter Bestandteil des Schauspiels der Tour. Für mittelmäßige Berufstätige mit unsicheren wirtschaftlichen Aussichten war eine Einladung zu einer gut bezahlten zweiwöchigen Party schon sehr verlockend.

Wenn sie sich am unteren Rand der Gesamtwertung wiederfanden, verloren viele Fahrer bei der Tour daher bewusst Zeit – sowohl mit sauberen als auch mit unsauberen Mitteln –, um die lanterne rouge zu »gewinnen«. Der Unruhestifter und Ränkeschmied Abdel-Kader Zaaf, der 1951 lanterne rouge war, sagte: »Ich hatte angestrengt über meine Situation nachgedacht und stellte fest, dass sie gar nicht so schlecht war. Der letzte Mann wird in der Wertung deutlicher wahrgenommen als die Leute in der Mitte, die in der Masse untergehen. Allerdings ist der letzte Mann im Peloton nicht gekennzeichnet. Er kann tun und lassen, was ihm beliebt.« Zaaf behauptete, bei den Kriterien 35.000 Franc eingenommen zu haben (sein Tageslohn belief sich auf etwa 7 bis 10 Franc).

Jahre später äußerte sich der Australier Don Allan zunächst begeistert darüber, ein Rennen um den letzten Platz auszutragen: »Es gibt einen Ersten und einen Letzten. Da ich ohnehin niemals Erster werde, kann ich auch gut den letzten Platz machen.« 1974 hatte Allan die lanterne rouge in Aussicht, gewann sie aber nicht, als der Italiener Lorenzo Alaimo zwischendurch anhielt und sich am Straßenrand versteckte, um Zeit zu verlieren und die lukrativen Kriteriumspreise einzuheimsen. Auch 1975 schrammte Allan am unteren Rand entlang, verpasste aber trotzdem den letzten Platz. In der Rückschau gab Allan jedoch zu, dass er seine Begeisterung für den letzten Platz verloren hatte. »Alle sagen: ›Es ist großartig, du bekommst dadurch eine Menge Publicity dadurch‹«, soll er sich geäußert haben, »das Team sagt: ›Es ist großartig, du bekommst dadurch Geld.‹ Aber ich habe es gehasst. Ich trete doch nicht bei Rennen an, um Letzter zu werden.«

Die Kriterien nach der Tour finden auch heute noch statt, und es ist immer noch möglich, dass ein beliebter Nebenerwerbsfahrer seine Bezüge in den zwei Wochen nach der Tour verdoppeln kann, aber es gibt inzwischen nicht mehr als 12 oder 15 dieser Veranstaltungen, und sie sind für den Lebensunterhalt von Radsportlern auch nicht mehr so wichtig. Jimmy Casper war lanterne rouge der Jahre 2001 und 2004, als die Bedeutung der Kriterien endgültig geschwunden war. »Es ist kein großer Unterschied mehr, ob man Letzter oder Vorletzter wird«, sagte er, »man steht nur ein kleines bisschen mehr im Interesse der Medien.« Er gewöhnte sich daran, zu den verbliebenen Kriterien eingeladen zu werden, doch wie er sagte, lag das mehr an seinen Fähigkeiten als Sprinter und weniger an seinem Titel als lanterne rouge.

Ein letzter Faktor, den Pescheux erwähnte, ist die Form, die das Rennen angenommen hat. In den 60er und 70er Jahren hatten die Fahrer die hohen Berge gewöhnlich zu Beginn der zweiten Woche hinter sich, sodass ihnen mindestens zwei flache Etappen blieben, auf denen sie herumtrödeln und Zeit verlieren konnten. Heutzutage, insbesondere seit Christian Prudhomme das Amt des Rennleiters übernommen hat, wird diese Konvention weniger streng gehandhabt. Manchmal liegt zwischen der letzten Bergetappe und Paris nur noch eine Zeitfahretappe, was für die Zuschauer spannender, für die Fahrer aber schwieriger ist. »Die Gestaltung des Rennens hat die Haltung der Fahrer verändert«, erklärte Pescheux, »die Topografie der heutigen Tour bringt es mit sich, dass man nicht einfach machen kann, was man will. In den Bergen geht niemand ein Risiko ein.«

30 Jahre lang hatte Pescheux an dieser Entwicklung des Rennens mitgearbeitet. Eine seiner letzten Tätigkeiten bestand darin, die Karenzzeitregeln zu überarbeiten, die einen täglichen Grenzwert dafür festlegen, wie weit ein Fahrer hinter dem Gewinner liegen darf. Diese Karenzzeit wird als Prozentsatz der Bestzeit des Tages berechnet, wobei in bergigem Gelände und bei einem schnellen Rennen Zugeständnisses gemacht werden, damit die Fahrer nicht ungerecht bestraft werden, wenn die Schwerkraft ihnen das Leben schwermacht. Wer die Karenzzeit nicht einhält, wird vom Rennen ausgeschlossen. Das ist jedoch nicht als Strafmaßnahme gedacht. »Der Sinn der Karenzzeit besteht darin, Fahrer auszuschließen, die die Hände locker auf den Lenker legen, es leicht angehen lassen und dann auf der flachen Etappe des nächsten Tages vom Startschuss an lospreschen. Sie verlieren auf einer Etappe eine Stunde, um auf der nächsten loszustürmen«, erklärte Pescheux voller Verachtung, »voilà! Es ist eine Frage der Fairness.«

Wahrscheinlich hat er ganz anderes darüber gedacht, als er noch im autobus fuhr, der Gruppe der Sprinter und langsamen Fahrer, die sich in den Bergen aus Solidarität und zur Selbsthilfe zusammenschließen, um gegenseitig für ihr Überleben zu sorgen, wenn die Straße aufwärts führt und der Schnitt durch die Karenzzeit droht. Denn die Fahrer – insbesondere die schwereren und diejenigen, die schwach, krank oder verletzt sind – betrachten die Karenzzeitregel oft als hart und erbarmungslos, und für den Letzten auf einer Etappe wirkt er wie eine Guillotine, die seine Existenz als Tourteilnehmer bedroht.

Allerdings ist diese Regel nicht starr, sondern wird auch gern gebrochen. Wie jeder weiß, der schon einmal ein Intervalltraining auf einem Turbotrainer gemacht hat, ist Zeit eine wunderbare, aber auch grausam elastische Sache. Die eine Minute der Erholung mit entspannten Armen, gesenktem Kopf und langsam trampelnden, zitternden Beinen geht im Nu vorüber, während sich 30 Sekunden Anstrengung zu einer klebrigen Ewigkeit dehnen, in der die LCD-Anzeige der Stoppuhr wie durch einen Sumpf zu waten scheint und kaum vorwärtskommt. Ebenso verhält es sich mit der Karenzzeit, die nach Belieben der commissaires – der Kampfrichter – verlängert oder ganz aufgegeben werden kann. Die Geschichte der Tour ist voll von Beispielen für repêchage, also Fahrer, die die Karenzzeit überschritten, aber aufgrund ihrer tapferen Haltung angesichts einer Verletzung oder aus anderen Gründen trotzdem weiter zugelassen wurden. Repêchage – wörtlich »Herausfischen« – ist ein großes Wort, das den Eindruck erweckt, als ob sich eine mehr oder weniger wohlmeinende höhere Macht in der Grube der Verzweiflung umsähe, um Fahrer herauszufischen und wieder auf ihre Räder zu setzen.

Wenn vor Pescheux' Änderungen ca. 20 % des Pelotons die Karenzzeit überschritten, wurden alle wieder zugelassen. 2013 wurde ein unbedingter Schnitt eingeführt, allerdings wurde er jetzt auf spezifischere Weise berechnet und erlaubte beispielsweise einen größeren Zeitabstand auf kurzen Bergetappen als auf längeren, um das erhöhte Tempo zu berücksichtigen, das Bergfahrer und die Stars der Gesamtwertung auf solchen Etappen vorgeben. Beispielsweise schlossen alle Fahrer die 125 km lange Etappe Annecy–La Semnoz bei der Tour 2013 in ausreichender Zeit ab, mehr als zehn Minuten vor dem Schnitt. Es gab jedoch noch keine Situation mit einem Massenausschluss, in der sich hätte zeigen können, wie hart die Herzen der Organisatoren wirklich sind.

Die Beschäftigung mit dem rückwärtigen Ende des Rennens war eine von Pescheux' letzten Maßnahmen, doch für Jacques Goddet war es die erste, als er 1936 den Posten des Rennleiters erbte. Sowohl er als auch Desgrange, der das Rennen in Charleville verlassen hatte und nun vom Schreibtisch aus verfolgte, waren mit der Frage beschäftigt, wie sie die Rennfahrer dazu bringen konnten, auch tatsächlich ein Rennen zu fahren. Beide beklagten sich über träge Fahrer, die es auf flachen Etappen gut sein ließen, um in den Bergen kräftig in die Pedale zu treten, die sich im Peloton versteckten, um das Ausmaß an persönlicher Anstrengung zu verringern, oder die »nur« auf den letzten 200 km der 350-km-Etappe Tempo vorlegten. »Goddet wollte gern einen Sprintbonus alle fünf Kilometer einführen, um das Rennen anzuheizen«, berichtete Pescheux über seinen ehemaligen Chef, »er hatte immer außerordentliche Ideen. Es gefiel ihm nicht, wenn die Fahrer mit 20 km/h darinradelten und nichts passierte. Für ihn musste es immer Action geben.«

Im Jahr 1939 krempelte Goddet das Rennen um. Er erhöhte die Anzahl der Etappen von 15 auf 24, indem er sie alle verkürzte, und führte eine Reihe von Maßnahmen ein, um zu einem schnelleren und spektakuläreren Rennen zu kommen. Zu den einleuchtendsten Maßnahmen gehörten die Departs Séparés, also das, was wir heute Zeitfahren nennen, darunter die erste Bergzeitfahretappe der Tour überhaupt. Sie führte über den höchsten Alpenpass, den 2770 m hohen Col de L'Iseran. 1939 gab es gleich eine Menge solcher Etappen. Des Weiteren gab es viel mehr Zeitbonusse, darunter auch Bergbonusse, und ein kompliziertes System zur Verteilung des Preisgeldes am Ende der Etappe. Wenn ein Fahrer mit mehr als 20 Minuten Vorsprung gewann, konnte er die Hälfte der Preisgelder für alle anderen in dieser Etappe einstecken. Trafen sieben Fahrer zusammen ein, gaben die Preisrichter ihr Bestes, um sie zu klassifizieren und ihnen das zustehende Preisgeld zuzuteilen. Bei einer Gruppe von zwölf Fahrern wurde der Topf gleichmäßig aufgeteilt, und bei 13 und mehr verkleinert. Außerdem mussten alle größeren Gruppen damit rechnen, dass sie am nächsten Tag zu einem Ausscheidungswettkampf in Form eines 1000-m-Sprints im Velodrom antreten mussten.

Sind Ihnen jetzt sämtliche Regeln klar? Augenblick, es gibt noch eine weitere: »Nach jeder der ersten 14 Etappen, ausgenommen der ersten, wird der letzte Fahrer in der Gesamtwertung ausgeschlossen.«

Mit dieser Regel, Artikel 41, wurde etwas wie eine Straßenversion der weitverbreiteten Rennbahnmethode eingeführt, die als »Devil« bezeichnet wird (nach der englischen Entsprechung des Sprichworts »den Letzten beißen die Hunde«, bei der der Teufel die Rolle der Hunde übernimmt: »the Devil takes the hindmost«; bei der modernen Omnium-Veranstaltung wird allerdings schlicht von einem »Ausscheidungsrennen« gesprochen). Bei der früheren Version der Regel von 1938 konnte es an mehreren Stellen im Rennen zu einem Massenausschluss von Fahrern kommen, die ein, zwei oder drei Stunden hinter dem Etappensieger zurücklagen. Mit anderen Worten, dieses Schicksal konnte jeden treffen, der zwar noch in der Karenzzeit lag, aber nicht in der Lage war, irgendeine Verbindung zum vorderen Ende zu halten. Die verbesserte Version sollte weniger barbarisch wirken, und obwohl jeden Tag der Letzte aus dem Rennen entfernt wurde, zielte diese Regelung nicht ausdrücklich auf die lanterne rouge ab. Sie solle vielmehr den Teamgeist stärken und den »unfairen« Vorteil durch domestiques beseitigen: Die führenden Fahrer im Team waren jetzt gezwungen, den »Märtyrer zu wechseln«, also sich zur Hilfeleistung nicht immer auf denselben Mann zu stützen. Auch die Bergfahrer mussten in der ersten Woche härter arbeiten, um im Rennen zu bleiben, denn sie konnten ihre Kräfte nicht mehr für ihr bevorzugtes Gelände sparen. »Jeder Mann muss sich einbringen und Hand anlegen«, schrieb Desgrange.

Und so begann die Tour 1939. Nach der ersten Etappe, die Amédée Fournier vom nordostfranzösischen Regionalteam15 im Sprint gewann, dominierten die Belgier. Nach jeder Etappe wurde ein Mann ohne viel Federlesens ausgeschlossen – erst Leisen, dann Dubois, dann Bouffier, dann Bidinger. Nun, zumindest bis zur sechsten Etappe, die von La Rochelle nach Royan führte und auf der Jean Majerus vom luxemburgischen Team auf dem letzten Platz erwischt und zur Strafe des Rennens verwiesen wurde. Der »große, attraktive« Majerus war eine Art Star. Als Meistertaktiker auf flachen Etappen hatte er auf der Tour 1938 fünf Tage lang das Gelbe Trikot getragen. »Ich habe heute auf Pierre Clemens gewartet, als er einen Platten hatte. Danach wurde ich aus der Anfangsformation genommen, was noch weiter zu meinem Defizit beitrug«, erklärte Majerus, wieso er so viel Zeit verloren hatte, »aber ich dachte, ich würde es schaffen, da Maestranzi als Letzter hinterherhinkte.« Mit der beruhigenden Gewissheit, dass Maestranzi hinter ihm lag, nahm er die lange, einsame Straße auf dem Weg zur Ziellinie auf sich. »[Maestranzi] lag allerdings so weit zurück, dass er nicht innerhalb der Karanzzeit in Royan eintraf«, fuhr Majerus fort, »weshalb er ausgeschlossen und ich zur lanterne rouge wurde.«

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