Читать книгу: «Schwarzer Kokon», страница 10

Шрифт:

Fredriks Versuch

Richter Rudolph war erstaunt, als er vom Termin mit Senator Haskins erfuhr, den seine Sekretärin auf Bitte des Senators vereinbart hatte.

»Senator Haskins, was kann ich für Sie tun?«

Fredrik, sichtlich nervös, versuchte sich nichts anmerken zu lassen. »Der Grund meines Besuches, Richter Rudolph, ist Ihre Entscheidung im Falle Sanders. Wie ich der Presse entnehmen konnte, erwägen Sie, keine Todesstrafe zu verhängen.«

Richter Rudolph runzelte erstaunt die Stirn. »Gewiss, Senator Haskins, aber habe ich diesen Fall nicht schon ausgiebig mit Ihrem Kollegen Brown diskutiert? So weit ich mich erinnere, saß er auf eben jenem Stuhl, auf dem Sie heute hier sitzen. Und das ist keine vier Wochen her. Haben Sie seitdem nicht mit Senator Brown gesprochen?«

»Doch, doch, es ist nur …« Haskins legte eine Pause ein. Es kam jetzt auf eine exakte Formulierung an, die so gewählt werden musste, um weder Richter Rudolphs Misstrauen zu wecken noch hierdurch sein eigenes politisches Grab zu schaufeln. Seine Hände waren feucht. »Natürlich haben wir uns, also Senator Brown und ich, seit seinem Besuch bei Ihnen, ausgetauscht. Nur, verstehen Sie mich jetzt nicht falsch, wir vertreten dennoch die Ansicht, dass Ihre Entscheidung gegen die Verhängung der Todesstrafe, wohlgemerkt in diesem speziellen Falle, wie soll ich sagen, große Wellen schlagen würde.« Er sah den Richter an, im Versuch, aus dessen Gesichtszügen zu erkennen, ob Skepsis oder Interesse auf ihnen lag.

»Ich bin verwundert, Senator Haskins. Wie ich Senator Brown bereits ausgeführt habe, wird jede meiner Entscheidungen Wellen schlagen. Ich dachte, dies hätte Senator Brown seinerzeit verstanden und, unter uns, ich hatte das Gefühl, dass meine Entscheidung«, jetzt machte der Richter eine Denkpause, »zumindest auf das Wohlwollen von Senator Brown gestoßen ist.«

Es folgte ein Schweigen, da anscheinend keiner der beiden so recht wusste, wer als Nächstes das Wort zu ergreifen hatte.

»Richter Rudolph«, begann Haskins, wurde aber unvermittelt vom Richter unterbrochen.

»Ich bin mir auch sicher, dass ich Senator Brown, wenn nicht ganz so direkt, meine persönliche Meinung vermittelt habe. Ihnen gebe ich sie gerne unverblümt: Wenn es nach mir und meinem Rechtsverständnis ginge, hätte ich Sanders zum Tode verurteilt. Allerdings leben wir in einer Demokratie mit Gesetzen, wo nicht die Meinung des Einzelnen zählt, sondern die der Gemeinschaft. Und dies, Mr. Haskins, spiegelt sich auch in unserer Verfassung. Da die Beweislast nicht ausreichend ist, Sie kennen selbst die Videos des Tathergangs, konnte kein anderes Urteil gefällt werden.«

Dies war eindeutig, dennoch nicht die Lösung des Problems, welches Fredrik schlaflose Nächte bereitete. »Richter Rudolph, haben wir hier nicht doch eine Ausnahme auf dem Tisch? Bedenken Sie doch bitte die Auswirkung auf unsere Exekutive. Ich spreche hier von all den Beamten der USCP.«

Jetzt wurde Richter Rudolph ungehalten. »Senator Haskins, es verwundert mich doch sehr, dass Sie versuchen mich umzustimmen. Soll ich Ihnen die Videoaufnahmen nochmals vorspielen? Auch wenn es keinem Schwarzen zusteht, einen weißen Polizeibeamten abzustechen, so ist dieses Video ein solcher Zündstoff, der kein anderes Urteil zulässt. Ich denke, hiermit ist unser Gespräch beendet.«

Fredrik hatte auf breiter Front verloren. Nichts war gewonnen, aber vermutlich würde sich sein Problem vergrößern, sollte das Gespräch nicht in diesen vier Wänden bleiben. Daher wandte sich Fredrik beim Gehen nochmals an den Richter: »Vielen Dank, Richter. Ich bitte Sie, die Unterhaltung vertraulich zu behandeln.«

»Wir werden sehen«, war die lapidare Antwort.

Die Senatoren

Eine Woche nach dem Gespräch beim Richter rief Senator Brown bei Fredrik an und bat um ein Treffen im Club. Er wollte nicht verraten, worum es gehen würde. Fredrik saß bereits seit einigen Minuten in einer ruhigen Ecke des Clubraums, als Brown zu ihm kam.

»Hallo, Fred, danke, dass du gekommen bist. Ich will gleich zur Sache kommen.« Brown beugte sich im Sessel nach vorne, um etwas dichter an Fredrik zu sein. »Welcher Teufel hat dich geritten, Richter Rudolph zu besuchen und dieses irrwitzige Anliegen vorzubringen? Wir hatten doch geklärt, dass es für uns und die Fraktion extrem wichtig ist, Neutralität auszustrahlen. Die Entscheidung solle einzig beim Richter liegen. Jetzt hast du den Eindruck erweckt, wir und der Senat seien uns uneins und wollten auf Gedeih und Verderb die Hinrichtung Sanders. Was ist nur in dich gefahren?«

Fredrik hatte sich auf solch einen Vorwurf vorbereitet. Alle Alternativen abgewogen, kam er zu dem Ergebnis, dass einzig die Wahrheit ihm helfen könnte. »Frank, ich weiß, es war falsch und unüberlegt. Es ist … es ist komplizierter, als du denkst. Das, was ich dir jetzt erzähle, äußere ich dir gegenüber als Freund, nicht als Senator.«

Brown zog neugierig eine Augenbraue hoch, als er die Anspannung Fredriks bemerkte.

»Du kennst meinen Sohn Marc?«

»Ja, ich bin ihm ein-, zweimal begegnet, warum?«

»Er wurde jüngst wegen einer Schlägerei verhaftet. Ich habe es hinbekommen, dass keine Anzeige erhoben wurde, dennoch saß er für einen Tag in Untersuchungshaft. Chief Willson von der USCP hat den Fall an sich gerissen und mir zu verstehen gegeben, dass er jederzeit die Presse einschalten könne. Natürlich hat er dies nach einem Telefonat mit mir unterlassen, aber jetzt hat er was gut bei mir!«

»Wie meinst du, was gut bei dir?«

»Kannst du dir den Schaden ausmalen, der meiner Person entsteht, wenn das an die Öffentlichkeit dringt? Sohn des Senators prügelnd in Washington D. C.«

»Okay, aber noch mal, Fred, was will Willson von dir?«

»Das kann ich dir sagen. Er hat mich angerufen und unter Druck gesetzt. Die USCP will Sanders hängen sehen. Deswegen mein Besuch bei Richter Rudolph.«

Brown schüttelte den Kopf. »Warum hast du nicht vorher mit mir gesprochen? Ehrlich, Fred, du hast nichts erreicht, ganz im Gegenteil, du hast es verschlimmert.«

»Ja, ich weiß. Was soll ich jetzt machen?«

»Ohne es vorher mit mir abzustimmen, gar nichts. Ich werde versuchen die Wogen zu glätten. Ich melde mich.«

Zurück im Herrenhaus

»Sam, was soll ich nur machen?« Veronika saß noch immer auf dem Bett und hielt den verängstigten Jos im Arm.

»Mrs. Baine, ich weiß nicht, was zwischen Ihnen und Ihrem Mann vorgefallen sein mag, es geht mich auch nichts an, aber Sie sollten es klären. Er ist Ihr Mann.«

»Sam, Sie haben es doch selbst erlebt, er ist nicht mehr derselbe, der er früher war. Ich kann nicht zurück zu ihm. Und Jos auch nicht.«

»Sie müssen, Mrs. Baine. Wo wollen Sie denn hin?«

»Zurück zu meinen Eltern.«

»Und Jos, soll er ohne Vater aufwachsen?«

Jos blickte Hilfe suchend zu Veronika.

»Für ihn allemal besser, als bei einem Mann, der sich an anderen Frauen vergeht.«

»Mom«, flüsterte jetzt Jos. Er verstand nicht genau, worum es ging, so viel jedoch, dass er weg vom Vater sollte. »Will bei Dad bleiben.«

»Oh Gott, Sam, ich halte das nicht aus.«

»Veronika, wenn es Ihnen hilft, ziehe ich doch hier ein. Dann bin ich näher bei Ihnen und Jos. Haben Sie ein Dienstmädchen, dem Sie vertrauen?«

»Ich könnte Maarifa bitten, für einige Zeit zu kommen. Meine Eltern würden mir diese Bitte nicht ausschlagen.«

»So wird es das Beste sein, Mrs. Baine. Glauben Sie mir. Ich mische mich nicht gerne in Ihre Familienangelegenheiten, aber …« Sam machte eine Atempause und grübelte, ob er den Satz zu Ende führen sollte. »… aber nächtigen Sie in einem separaten Zimmer. Mr. Baine wird es unter diesen Umständen sicher akzeptieren.«

»Sam, ich habe Angst, Angst vor ihm, Angst vor der Zukunft, Angst vor dem, was mit Aba geschah.« Es war das erste Mal seit der besagten Nacht, dass Veronika ihre Sorge ansprach.

»Mrs. Baine. Sie brauchen sich nicht zu fürchten, sie nicht. Aba hatte Kräfte, von denen wir nichts wissen. Abas Zorn galt Ihrem Mann, nicht Ihnen und auch nicht Jos. Vertrauen Sie mir.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Ich habe es gespürt, Mrs. Baine. In jener Nacht habe ich es gespürt!« Sam sah Veronika tief in die Augen, dann nahm er ihr Gesicht in seine Hände. »Ich habe Abas Liebe gespürt, unendliche Liebe – und Zorn. Die Liebe überwog, sonst hätte Mr. Baine unmöglich überlebt. Dessen bin ich mir sicher.«

Veronika sah Sam an und ihr fielen erstmals seine mandelförmigen Augen auf. »Sam, ich habe all die Jahre geschwiegen, aus Furcht, es könne etwas Abscheuliches passieren.«

»Auch wenn Ihr Mann überlebt hat, es hat ihn verändert. Mag sein, dass seine Pein die Ihre überwiegt. Dessen bin ich mir sogar sicher. Ihr Mann, Mrs. Baine, fristet ein Dasein in Angst. Sie jedoch sollten wieder ins Leben treten. Nehmen Sie Ihr Schicksal in die Hand. Für sich und Jos.«

Tränen liefen Veronikas gerötete Wangen herab. Plötzlich, aus einem Gefühl heraus, gab Sam ihr einen Kuss auf die Stirn. Hiermit hatte Veronika nicht gerechnet. Ohne darüber nachzudenken, legte sie ihre Arme um Sams Hüfte und drückte das Gesicht an seine Brust.

Veronika zog wieder ins Haupthaus und ließ ungefragt das Gästezimmer am anderen Ende des Ganges herrichten. Es war mithin die beste Lösung; sie würde nicht mehr gemeinsam mit Clexton in einem Raum schlafen und Jos’ Zimmer lag direkt neben dem ihren.

Clexton akzeptierte, ging Veronika so weit möglich aus dem Weg und verbrachte jede Nacht in der Bibliothek. Es kam jetzt häufiger vor, dass er nicht nur nachts zur Flasche griff, sondern auch des Tags.

Sam tat, wie er es versprochen hatte. Tags darauf bezog er die Räumlichkeit im Kutscherhaus. Auch Maarifa wohnte nun, wenn auch vorübergehend, im Herrenhaus. Nachdem Sam einen Brief von Veronika an ihre Eltern übergeben hatte, stimmte Robert besorgt, doch wohlwollend zu.

Maarifa fuhr im Gespann mit Sam zum Anwesen der Baines. Untergebracht wurde sie im ehemaligen Zimmer Zolas. Ohne viele Worte hatte Maarifa die Lage im Haus sofort erkannt, vermied es, Mr. Baine über den Weg zu laufen, und kümmerte sich hingebungsvoll um Jos und Veronika.

Tumelo war ihr in dieser Zeit eine große Hilfe. Er wies sie in allem ein und machte sie mit wichtigen Bereichen des Hauses vertraut. Maarifa verspürte zu jeder Sekunde, die sie mit Tumelo zusammen war, seine tiefe Traurigkeit. Ihr Instinkt sagte ihr, dass in ihm eine Glut loderte, die, wenn sie entflammte, nicht aufzuhalten war.

In nur wenigen Tagen entwickelte sich ein Band zwischen Veronika, Sam und Maarifa. Jos war durch diesen Dreierbund wohlbehütet, sah zwar ab und an seinen Vater, konnte sich aber nicht erklären, warum dieser immer sonderbarer wurde. Liebte er es früher, wenn Vater ihm einen Kuss auf die Wange gab, so stachelte es neuerdings. Die kurzen Haare in Vaters Gesicht sahen unschön aus und kratzten. Außerdem, so verriet er seiner Mutter eines Abends, als er zu Bett gebracht wurde, rieche Vater so komisch. Veronika streichelte seine dünnen, dunkelbraunen Haare und gab ihm einen Gutenachtkuss.

Tumelos Vermächtnis

Tumelo erging es ähnlich wie Sam. Gleichsam erfüllte ihn die Nacht Abas mit dem Gefühl der Liebe, wenig verängstigt des Übernatürlichen. Tumelo wusste von der Kraft seiner Völker, ebenso waren ihm viele Geschichten hierüber aus Erzählungen bekannt. Erlebt hatte er dergleichen zuvor noch nie. Im Gegensatz zu Veronika und Sam verstand er die Botschaft Abas und wusste diese zu deuten. Immer wieder grübelte er darüber nach, wann und in welcher Form der Fluch Wirkung zeigen würde. Drei Jahre lebten sie nun auf dem Gut nebeneinanderher und die Tage verliefen, als wäre nie etwas vorgefallen.

Tumelo fiel Veronikas zurückhaltende, in sich gekehrte Art auf, doch helfen konnte er nicht – dies stand ihm auch der Stellung nach in keinster Weise zu. Ebenso konnte er sich seinem Freund Sam gegenüber nicht in Gänze öffnen. Er war ein Sklave und würde dies immer bleiben. Mit all dem damit verbundenen Leid, welches Sam als Freund zwar lindern, aber nicht zu beseitigen vermochte. Vor Mr. Baine hatte er nach wie vor große Furcht, obwohl dieser weder Anweisungen noch Befehle ihm gegenüber erteilte.

Tagsüber verrichtete Tumelo die anfallenden Arbeiten, des Nachts lag er wach im Zimmer. Stets waren seine Gedanken bei Zola. Wo sie jetzt wohl sein mag? In Träumereien sah er Zola wieder in ihrer Heimat, wie sie glücklich in einem See unter einem Wasserfall schwamm. Sie entstieg dem Nass und ihr Körper, wohlgeformt mit perlenden Tropfen auf samtweicher Haut, erschien vor seinen geschlossenen Lidern. Immer wieder bemächtigten sich seiner derartige Szenen und nährten seine Sehnsucht.

Tumelos innige Liebe zu Zola blieb unausgesprochen, sie zehrte an ihm. Warum hatte er seine Gefühle ihr gegenüber nicht gestanden, als er Gelegenheit dazu hatte? Warum dies alles nur? Je mehr Zeit verstrich, je mehr er mit seinem scharfen Verstand darüber sann, desto größer wurde das auf ihm lastende Gebirge an Fragen und Selbstvorwürfen.

So kam in ihm der Wunsch auf, sein Leid niederzuschreiben. Sicher würde ihm dies helfen, Antworten und Erlösung zu finden. Unter einem Vorwand bat er Sam, ihm ein ledergebundenes Heft zu besorgen. Mit rund fünfzig leeren Seiten lag es Tage später, neben einem Tintenfass sowie einer Schreibfeder, auf seinem Tisch. Viele Abende betrachtete er den hellbraunen Ledereinband, ohne den Mut aufzubringen, niederzuschreiben, was seine Pein lindern sollte. Immer wieder nahm er sich tagsüber vor, am selben Abend damit zu beginnen. Doch vor dem Tisch sitzend schwand seine Courage. Zu welcher Entscheidung würde er durch seine Geschichte kommen?

Eines Abends klappte er dann doch entschlossen den Einband auf. Eine unbeschriebene weiße Seite starrte ihn an und wollte gefüllt werden. Tumelo schloss für Minuten seine Lider und als seine Augen wieder die leere Seite erblickten, nahm er die Feder zur Hand und tauchte sie in das Gefäß mit Tusche. Mit der ersten Zeile brach der Bann und geschwungene Silben erzählten von seinen Gefühlen zu Zola.

Einmal angefangen, sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus, bildeten ganze Sätze und offenbarten sein tiefstes Inneres. Sowohl zu schreiben als auch das Getextete wieder und wieder zu lesen, erleichterte ihn zwar, doch der übermächtige Schmerz, der seinen ganzen Körper erfüllte, blieb.

Spät in der Nacht war der vermeintlich letzte Satz geschrieben. Jeder Gedanke an Zola war zu Papier gebracht. Sollte Zola diesen Lederband jemals in die Hände bekommen, würde sie sich seiner Liebe gewiss sein. Tumelo stand auf und trat ans Fenster. Als er es geöffnet hatte, wehte eine warme Brise der lauen Sommernacht ins Zimmer. Glühwürmchen schwirrten in der nächtlichen Dunkelheit und verschwammen zu einem Leuchten in seinen tränennassen Augen. Er wischte sich das Feuchte aus dem Gesicht, drehte sich um, nahm erneut an seinem Tisch Platz. Die Feder in der Hand, ließ er ein Blatt frei und beschrieb die nächstfolgende Seite:

»Abas Fluch«

Ausführlich schilderte er die Qualen, die Zola durch Mr. Baine hatte über sich ergehen lassen, die Nacht der Flucht sowie die Ermordung Abas. Wortwörtlich dokumentierte Tumelo sowohl Abas Fluch als auch seine Unwissenheit darüber, wann das Unheil über die Familie Baine hereinbrechen würde. Er ließ keinen Zweifel daran, dass etwas Verhängnisvolles geschehen würde. Noch vor der Morgendämmerung setzte Tumelo die Feder ab. Sein letzter Satz lautete:

»Ich bin Tumelo, ein Sklave, der alles verloren hat. Meine Freiheit, meine Liebe, mein Leben. Doch heute werde ich meine Ketten sprengen. 1735, September.«

Er löschte die Kerze auf dem Tisch, schlich in die Dunkelheit und stieg wenig später die Außentreppe des Kutscherhauses hoch. Tumelo drehte vorsichtig den Knauf der Türe. Sie war unverschlossen. Er vernahm die gleichmäßige Atmung Sams, die von einem tiefen Schlaf zeugte. Leise legte er den Ledereinband auf dessen Tisch.

Sam fand seinen Freund am nächsten Morgen. Tumelo hing vor dem großen Tor der Stallungen. Die Eisenkette, welche um den Holzbalken gewunden und für das Hochhieven von Strohballen gedacht war, strangulierte Tumelos Hals. Seine Augäpfel waren weit hervorgetreten und seine blau gefärbte Zunge ragte aus seinem Mundwinkel. Tumelo hatte seine Ketten für immer gesprengt.

Abschied von Tumelo

Fassungslos starrte Sam auf den Körper, dessen Füße über dem Boden baumelten. Das Entsetzen zwang ihn in die Knie. Mit beiden Händen vor dem Gesicht begann Sam hemmungslos um seinen Freund zu weinen. Die Fassungslosigkeit des Warums traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel.

Sam löste die Eisenkette von Tumelos Hals. Wie ein Kartoffelsack fiel ihm der leblose Körper in seine Arme. Stolpernd trug Sam den Leichnam hinter das Kutscherhaus. Sein Blick war durch Tränen, die er ohne Scham vergoss, getrübt. Tumelo sollte in seiner Nähe begraben werden, in seiner und in Veronikas. Das waren sie ihm schuldig. Sanft legte er Tumelo auf das weiche Grün. Ohne Clexton Baine um Erlaubnis zu fragen, holte er einen Spaten, um ein Grab zu schaufeln. In der tiefen Grube stehend, zog er vorsichtig Tumelos Leichnam zu sich hinab. Er kletterte aus dem Grab und schlurfte gebeugten Hauptes zum Herrenhaus.

Veronika und Maarifa standen plaudernd mit dem spielenden Jos auf der Veranda. Noch lachten sie und ahnten nichts von der grausamen Neuigkeit. Starren Blickes flüsterte Sam die Schreckensnachricht. Veronika brach in Tränen aus und stützte sich an das Geländer der Veranda. Tumelos Entscheidung, sich sein eigenes Leben zu nehmen, war für sie unbegreiflich. »Warum nur, Sam, warum?« Sam fand keine Antwort.

Maarifa legte stumm ihre warme Hand auf Veronikas Schulter. Ihr Blick wanderte von Sam zu Veronika, dann regungslos zum Horizont. Sie hatte das tragische Ereignis erwartet. Der leere, müde Blick Tumelos hatte es ihr verraten. Ebenso ahnte sie seinen Entschluss, dem sie all die Zeit nichts entgegensetzen konnte.

»Kommt bitte!«, bat Sam.

Sie folgten ihm. Schweigend passierte der Trauerzug das Kutscherhaus. Maarifa blieb mit Jos an der Hand etwas abseits stehen, da dieser in seinem Alter den Augenblick nicht erfassen konnte. So stellte Maarifa sicher, dass Jos weder das Grab noch den Leichnam sah. Mit schräg gestelltem Kopf betrachtete Jos derweil eine alte Virginia Eiche. In den Ästen des Baumes tummelten sich Hunderte von Sperlingen und beäugten die Trauernden.

Tief bewegt stand Veronika neben Sam vor der Grabstätte. Dieser wusste nicht recht, was er in jenem Moment sagen sollte, doch er fand stockend einfache Worte: »Mein Herr im Himmel, wir übergeben dir unseren Freund Tumelo. Lass ihn die Freiheit spüren, die er hier nicht hatte. Lass ihn Aba wiederfinden sowie all seine Vorfahren. Seine zu Lebzeiten nicht in Erfüllung gegangenen Träume sollen Wirklichkeit werden. Wir wissen nicht, warum er von uns ging, doch bitte strafe ihn hierfür nicht. Du bist gütig, wie es auch Aba war. Unser Freund Tumelo war ein guter Mensch. Wir vermissen ihn.«

Veronika schluchzte laut, dann begann sie zu weinen. Auch Sam ließ seinen Tränen freien Lauf. Schweigend gedachten sie ihres Freundes vor dem geöffneten Grab, während Veronikas Hand die von Sam fand und fest umschloss. Dann gab Veronika Sam ihren feinen, seidenen Schal. »Bitte bedecke Tumelos Gesicht. Hätte ich doch mehr für ihn getan.«

Sam tat, wie ihm geheißen, denn Tumelos blaugrau verfärbtes Gesicht war durch das Abschnüren der Luftzufuhr verzerrt. Sodann begann er das Grab mit Erde zu füllen. Veronika ließ sich währenddessen davor nieder, nachdem sie Jos, der mit Maarifa zurück zum Herrenhaus ging, einen Kuss gegeben hatte. Als Sam fertig war, sah das Grab wie ein frisch angelegtes Beet, ohne Blumen darauf, aus.

Veronika blickte zu Sam auf. »Ich will heute Nacht nicht alleine sein. Darf ich zu dir kommen?«

Бесплатный фрагмент закончился.

399
654,93 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
640 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783960085355
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают

Черновик
5,0
2
Новинка
5,0
5