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Kapitel 2. Kathy

Der Sänger hob ab und durchstieß kurz darauf die niedrige Wolkendecke. Im Fenster wurden die Berge sichtbar, blaue Ketten, die sich hintereinander in die Unendlichkeit staffelten wie die Dünung eines gefrorenen Ozeans. Die Triebwerke gaben Vollschub und jagten das Flugzeug durch die Stratosphäre. Draußen verflackerten die letzten dünnen Wolkenschichten. Der Himmel wurde erst stahlblau und dann schwarz. Als die Triebwerke abgeschaltet wurden und der Sänger seine berechnete Flugbahnerreicht hatte, wurde es ganz still. Das Suborbital-Raumschiff stieg weiterhin antriebslos bis auf eine Höhe von siebenhundert Kilometern. Der teilelliptische Flugverlauf trug es in wenig mehr als zwei Stunden zu seinem Ziel auf der anderen Seiten des Globus.

An Bord würde Schwerelosigkeit herrschen. Aber aus Rücksicht auf die Passagiere, die das in ihrer Mehrzahl nicht gewohnt waren, verfügte die Druckkapsel über integrierte Gravitationserzeuger, die eine synthetische Schwerkraft in Höhe von 0,8 G auf die Reisenden wirken ließen. Das sorgte auch dafür, dass der Champagner in den Gläsern und die Crevetten auf den Tellern blieben und machte umständliche Vorkehrungen, wie man sie aus den Anfängen der Astronautik kannte, überflüssig. Die Gravizellen, die in die Bodenplatten integriert wurden, waren Abfallprodukte der Raumfahrt, die in den letzten Jahrzehnten in eine neue heroische Phase ihrer langen und nicht immer kontinuierlichen Geschichte einzutreten begann.

Laertes hatte den Start routiniert über sich ergehen lassen. Er hatte zwar kaum Erfahrung in Reisen außerhalb des irdischen Schwerefeldes, aber Sänger-Flüge gehörten für ihn, der ein fleißiger Vortragsreisender und Kongressteilnehmer war und seine Verlobte von den Bonusmeilen gerne zu den angesagtesten Destinationen anderer Kontinente entführte, beinahe zur Tagesordnung. Der raketengleiche Aufstieg, der in wenigen Minuten in über zweihundert Kilometer Höhe führte, vermochte ihn ebenso wenig zu beeindrucken wie das Schwarzwerden der Fenster und das Auftauchen der Sterne. Er fragte sich zum wiederholten Male, warum das Suborbitalflugzeug nach einem uralten Prototypen benannt wurde, der niemals wirklich geflogen war. Und auch eigentlich aus zwei Einheiten bestanden hatte.

Gelangweilt sah er nach unten, wo sich die zerkratzte nördliche Hälfte des Atlantik unter ihnen hindurchdrehte, und spielte dabei auf dem Display in der Rückenlehne des Vordersitzes, wo er sich mit einem Auge durch Börsenkurse und Sportberichte klickte.

Neben ihm hatte ein übergewichtiger Geschäftsmann Platz genommen, der akribisch die Notierungen der offiziellen Kanäle, die von den Bordsystemen bereitgestellt wurden, mit seinen eigenen Diensten abglich. Er schwitze, atmete schwer durch den Mund und strömte einen Gestank nach Schweiß und Knoblauch aus. Laertes war froh, dass der Abstand zwischen den Sitzen in der Ersten Klasse groß genug war. Auch ein Flug von zwei Stunden konnte zu einer Prüfung werden, wenn man einen solchen Zeitgenossen zu dicht auf der Pelle hatte.

Ein Summton kündete eine Durchsage an. Der Erste Offizier erklärte, dass man gleich die seltene Gelegenheit haben werde, den Bauplatz der MARQUIS DE LAPLACE mit eigenen Augen zu sehen.

»Auf der rechten Seite wird in wenigen Sekunden die orbitale Assemblierungsplattform sichtbar werden, auf der seit mehreren Jahren das erste interstellare Schiff der Union montiert wird.«

Ein holographischer Button glühte auf. Mit der Reflexhaftigkeit, der man sich in solchen Situationen gerne überlässt, aktivierte Laertes das Zusatzangebot, das in einem detaillierten Kommentar bestand. Gleichzeitig wurde seine Aufmerksamkeit von einem silbernen Lichtpunkt gefesselt, der sich auf zwei Uhr aus den Lichtfluten des außeratmosphärischen Fluges zu schälen begann. Die Fensterscheibe war mit einer automatisch nachführenden Zoomfunktion ausgestattet. Als Laertes sie freigab, macht das Bild einen Satz, und aus dem glitzernden Punkt, der ein ausdehnungsloser Brillant geblieben wäre, wurde ein längliches Gebilde, das in seiner mehrfach untergliederten, insektoiden Gestalt am ehesten an eine Raupe oder eine Wespenlarve erinnerte.

»Die MARQUIS DE LAPLACE«, erläuterte der Text, »ist nicht nur das größte Schiff, sondern das größte Artefakt überhaupt, das die Menschheit je erschaffen hat. Vom Bug bis zum Triebwerk misst sie über eintausendfünfhundert Meter. Ihre Masse beträgt mehr als zwei Komma fünf Millionen Tonnen. Ihre Besatzung wird einmal über tausendfünfhundert Männer und Frauen umfassen, die meisten davon Wissenschaftler. Aber natürlich verfügt ein solches Schiff, das viele Jahre vollkommen autonom im interstellaren Raum operieren wird, auch über eine eigene Polizei, eine Bordfeuerwehr, ein Klinikum einschließlich Kreißsaal und Neugeborenenstation. Es gibt eigene Werften, Reparaturbetriebe und Instandsetzungseinheiten, Kantinen, Bars und Restaurants, mehrere Diskotheken, ein Schwimmbad, ein Gewächshaus und einen kleinen Zoo. Das Schiff hat mehrere Geschwader an Tochtereinheiten an Bord, die größten davon sind die vier Enthymesis-Explorer, die im sogenannten großen Drohnendeck untergebracht sind.«

Die interaktive Darstellung, die ein reales, optisch aufbereitetes Bild mit erklärenden Projektionen kombinierte, ließ das entsprechende Segment rot aufleuchten. Es war ein in der Tat besonders mächtiges Modul, das wuchtigste des Schiffes mit Ausnahme der Triebwerksblocks.

»Das Schiff wird von drei Fusionsreaktoren mit Energie versorgt. Jeder einzelne davon würde ausreichen, eine Millionenstadt am Leben zu halten. Die Beschleunigungsphase wird viele Monate dauern. Am Ende wird die MARQUIS DE LAPLACE eine Reisegeschwindigkeit von knapp zehn Prozent der Lichtgeschwindigkeit erreicht haben. Das ist schneller als jedes andere Objekt, das je von Menschen in den Raum gebracht wurde. Außerdem profitiert die Besatzung vom Hibernations-Effekt, der dafür sorgt, dass für sie biologisch nur höchstens ein Zwanzigstel der Zeit vergehen wird. Nach irdischer Zeit wird die Reise rund einhundertzwanzig Jahre ...«

Laertes schaltete den Kommentar ab.

Wider Willen hatte er sich von dem Anblick faszinieren lassen. Er bemerkte, dass er sich aufgesetzt und begeistert aus dem Fenster gestarrt hatte, als sein Nachbar ihn anrempelte. Laertes ließ sich in seine Lehne zurücksinken, um das Fenster freizugeben. Der entsetzlich nach Knoblauch stinkende Mann beugte sich über ihn hinweg und knipste ein paar Bilder mit seiner Handgelenkskamera. Indem er sich umsah, stellte Laertes fest, dass er darin nur dem Beispiel der anderen Mitreisenden folgte. Die Passagiere, die das Unglück hatten, auf der linken Seite zu sitzen, hatten sich losgeschnallt – obwohl das offiziell verboten war – und im Mittelgang postiert, um zu den interaktiven Scheiben der rechten Seite hinaus fotografieren zu können.

»Sie beeindruckt das wohl nicht besonders«, hustete der Dicke.

Er wälzte sich jetzt immerhin wieder auf seinen Platz zurück, nachdem er geraume Zeit mit dem ganzen Gewicht auf Laertes’ Oberschenkel gelegen hatte.

Laertes regulierte die Luftumwälzung auf höchste Stufe und wartete, bis der Dunst sich einigermaßen verflüchtigt hatte. Dann wagte er wieder einzuatmen. Der Kerl stank, als habe er drei Wochen weder die Zähne geputzt noch die Socken gewechselt.

»Ich gehe in zwölf Wochen an Bord«, erklärte er schlicht.

Dem Dicken quollen die Augen heraus. Er musterte seinen Nachbarn, als habe er ihn bis jetzt komplett falsch eingeschätzt.

»Respekt«, brachte er hervor.

»Keine Ursache«, sagte Laertes. »Es ist ein Job wie jeder andere!«

»Na, herzlichen Dank.« Der Geschäftsmann kniff die Augen zusammen und sah Laertes noch einmal scharf an, als rechne er damit, dass sich ein gefährliches Alien aus der Maske des ernüchternd durchschnittlichen Äußeren des Programmierers schäle. »Immerhin ein Himmelfahrtskommando. Buchstäblich! Ein Flug ohne Wiederkehr.«

»Wir werden wiederkommen«, sagte Laertes. »Aber dann wird von Ihnen nichts mehr übrig sein.«

»Mehr als einhundert Jahre«, stöhnte der Dicke.

»Für uns sind es nicht einmal zehn«, ratterte Laertes herunter, was er während der letzten Tage bis zum Irrsinn auswendig gelernt hatte. »Einen großen Teil der Passage verbringen wir in Hibernation. Wenn man alle Maßnahmen voll ausschöpft, altert man während der gesamten Mission höchstens sechs Jahre.«

»Auch das wäre mir zu lang.« Der Fremde blies die Luft aus. Zum Glück in die andere Richtung. »Und wenn man zurückkommt, findet man eine andere Welt vor. Nichts erinnert mehr an das, was man verlassen hat. Selbst die Enkel dürften kaum noch leben.«

»So ist das eben«, sagte Laertes lapidar.

»Das nehme ich Ihnen nicht ab. So abgebrüht sind Sie nicht.«

»Es ist eine schwerwiegende Entscheidung«, räumte er ein. »Aber eine einmalige Chance. So etwas lässt man sich nicht entgehen.«

»Na, dann viel Glück.«

Der Dicke widmete sich wieder dem Champagner, der abzustehen drohte. Das Gespräch schien ihn angegriffen zu haben.

Auch Laertes war von der kurzen Konversation erschöpft. Der Sänger hatte den Scheitelpunkt seiner Bahn längst überschritten und erste Geräusche einer dichter werdenden Atmosphäre drangen zu ihnen. Wenig später begann der gefährlichste Teil dieser Art des Transkontinentalfluges: Der Wiedereintritt. Durch die polarisierten Fenster sahen sie draußen glühende Luft das Flugzeug umhüllen. Für zwei Minuten starrten die Fahrgäste gebannt auf die an der Außenwadn tobende Hölle. Dann waren sie durch. Der Himmelsausschnitt in den Fenstern wurde blau und sommerlich, nach der arktischen Nacht des Raumes und dem Lodern des Wiedereintritts. Aus der konvexen blauen Fläche unter ihnen wurde ein Ozean. Es war der Pazifik. Inseln lagen darin, winzige und schnell größer werdende braune Punkte in der umfassenden Verlorenheit. Wenig später setzten sie auf.

Laertes wartete, bis sein Nachbar schnaufend ausgestiegen war. Seine Uhr ging automatisch auf Ortszeit. Die Zeitverschiebung betrug genau zwölf Stunden, aber sie waren keine zwei Stunden unterwegs gewesen. Aus Nachmittag war wieder Vormittag geworden, er hatte zehn Stunden gewonnen. Eine Zeitmaschine!

Wenn man nun immer weiter nach Westen flöge! Man könnte der Vergänglichkeit entfliehen und immer noch tiefer in die Vergangenheit reisen. Aber natürlich würde man schon bald die Datumsgrenze passieren und der gewonnene Tag würde einfach wieder vom Konto gestrichen. Mehr als ein paar Stunden erlaubte der Effekt nicht. Und auch die waren teuer bezahlt, wie er bemerkte, als die Kabinentüren aufschwangen und die schwüle Wärme der Pazifikinsel hereinkam. Im gleichen Augenblick erfüllte ihn bleierne Müdigkeit. Für seinen Organismus war es Abend, aber er musste einen ganzen Tag hinter sich bringen. Der scheinbare Jungbrunnen der Zeitreise war durch greisenhafte Mattigkeit erkauft.

»Wollen Sie nicht aussteigen?« Eine der Stewardessen machte ihn darauf aufmerksam, dass er der letzte Passagier war, der noch an seinem Platz saß.

»Doch, selbstverständlich!«

Er beeilte sich aufzustehen und die Gangway hinunterzulaufen. Es war ein kleiner Flughafen, die Landebahn von Palmen gesäumt. Man ahnte das Meer, das gleich jenseits der Absperrungen liegen musste. Nach wenigen Schritten war er schweißgebadet, das Hemd klebte am Körper. Es war noch nicht einmal Mittag auf Kauai, aber die Temperatur betrug schon über dreißig Grad.

Im Terminal fiel ihm gleich das Schild mit dem Logo des Hotels auf, das er für den Aufenthalt gebucht hatte. Kapaa Plantation Resort. Die das Schild in die Luft reckte, war eine zierliche Polynesierin mit dem angenehmen mandelbraunen Teint der Inselbewohner. Er nickte ihr zu, als er durch die Schranke ging. Sie legte ihm den obligatorischen Kranz aus Blüten um und begrüßte ihn überschwänglich.

»Willkommen auf Kauai, der Garteninsel. Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug!«

»Sehr angenehm, danke.«

Er folgte ihr zu den Parkplätzen, wo ein kleines offenes Elektromobil auf sie wartete. Es fuhr selbststeuernd, surrend, wie einer der lustigen Wagen, die man beim Golf benutzte. Die Insel war voller Golfplätze. Die Hälfte der Leute, die mit ihm angekommen waren, zerrte die einschlägigen Taschen vom Gepäckband zu den Mietwagen.

Die Fahrt dauerte nur ein paar Minuten. Er öffnete den Kragen und versuchte sich innerlich auf das Klima einzustellen. Als sie die Betoneinöde rund um den Flughafen hinter sich gelassen hatten, kam das Meer in den Blick. Sein Blau war so tief, dass es schwarz wirkte.

Wie der Himmel in großer Höhe, dachte er, bevor man den freien Weltraum ereicht!

Jenseits der Terminals und Hangars kam ein angenehmer Wind auf. Der Passat fächelte der Insel ganzjährig Kühlung zu. Die Strecke war gesäumt von Palmen, Hibiskushecken, blühenden Bäumen und Büschen. Exotische Vögel flatterten zwischen der üppigen tropischen Vegetation umher. Alles war grün und bunt und voller Duft.

»Ein Paradiesgarten«, sagte er.

»Nicht wahr.« Die Hotelangestellte strahlte ihn zufrieden an. »Wer einmal hier war, wird es nie wieder vergessen!«

Sie senkte einen Blick in ihn, der ihm einen Stich gab, obwohl er einstudiert war und sie ihn sicher mindestens ein Dutzend Mal am Tag anbrachte: »Wenn ihr wieder in euren Städten seid, in Europa oder Nordamerika, werdet ihr euch vor Sehnsucht nach Kauai verzehren und euch fragen, warum ihr je von hier weggegangen seid!«

»Ich wohne nicht in der Stadt«, sagte er.

»Das ist gut!«

Sie sprang aus dem offenen Fahrzeug, als es die Auffahrt zu dem geschmackvollen Ressort hochsurrte, und lief ihm voran zur Rezeption. Dort übergab sie ihn dem Personal.

»Genießen Sie Ihren Aufenthalt«, rief sie. »Sie werden Ihr ganzes Leben daran zurückdenken!«

Ihm dröhnte der Kopf von den Gesprächen. Bis zum Abendessen blieb noch eine Stunde. Er wollte sie nutzen, um die Gedanken auszulüften. Ohnehin wusste er noch nicht, ob er sich das Bankett wirklich antun sollte. Die Leute, mit denen er bis jetzt gesprochen hatte, schwätzten viel, aber die grundsätzlichen Probleme schienen sie gar nicht sehen zu wollen. Lieber ließ er sich das Essen aufs Zimmer kommen. Vielleicht erwischte er Kathy beim Frühstück. In Budapest war es gerade früher Morgen.

Die weitläufigen Rasenflächen der Anlage waren gepflegt wie ein Golfparcour. Palmen bildeten kleine Gruppen oder langgezogene Palisaden. Die schreiend bunten Pflanzen dieser Zone waren immer wieder in das kurz geschorene Grün eingelassen: weißer Hibiskus, das Wahrzeichen der Insel, wilder Ingwer, Heliconias, Anturium und die violetten Blütengebirge der Bougainvilleen.

Er erreichte den Strand, zog die Schuhe aus und schritt am Saum des Wassers dahin, das warm und jadefarben war. Im Osten ballten sich flamingorote Wolkentürme in den Abendhimmel. Dort schien der tropische Tag sich noch zu einem prachtvollen Gewitter aufraffen zu wollen. Aber die Sonne lag schräg und scheidend auf den rosig glühenden Massen, die in sich zusammenfallen würden, ehe sie sich theatralisch in Blitz und Donner entladen hatten.

Laertes setzte sich in den Sand und sah hinaus. Das Meer, der Horizont, der Himmel – alles schwamm in diesem körperlosen, kulissenhaften Lachsrosa. Die Wolken, einige Kilometer weit draußen auf dem Ozean, trugen schwere Schleppen hinter sich her. Also regnete es doch schon, Wasser fiel auf Wasser. Und ab und zu trug der Passat ein fernes Rumpeln an sein Ohr. Die auf und ab schwebenden Dampfskulpturen, die pompöse Gewänder um sich drapierten, schwülstig gestikulierten und dabei ein zitrusfarbenes Pathos an den Tag legten, erinnerten ihn an Figuren aus einer Barockoper. Dieses gestelzte Schreiten und unverständliche Deklamieren! Dialoge in Altrosa. Er saß da und sah sich das an wie ein unverständliches und beeindruckendes Spektakel.

Der Blick ging nach Osten. Dort irgendwo lag Kalifornien. Dann der riesige Nordamerikanische Kontinent. Dann ein zweiter Ozean. Dann Europa, das nur ein zerklüftetes Nordwestkap der asiatischen Landmasse war. Dort war sie. In diesen Minuten, da sich die Sonne in seinem Rücken zur Ruhe begab, klingelte dort der Wecker und rief sie zu einem neuen anstrengenden Arbeitstag.

Aber es war ja gar nicht dort. Budapest lag, von hier aus gesehen, nicht hinter dem Horizont, sondern ziemlich genau unter ihm, dreizehntausend Kilometer unter seinen Füßen, zwölf Zeitzonen und hundertachtzig Längenkreise entfernt, auf der anderen Seite der globalen Kugel, die er im Sänger leicht und in kurzer Zeit schwerelos umrundet hatte.

Die triviale Tatsache, dass die Erde eine Kugel war, teilte sich ihm plötzlich wie ein Schock mit. Nicht terra firma, sondern ein Körper im Raum, ein Rotationsellipsoid, an dessen Oberfläche sich ein Belag von Vegetation gebildet hatte, auf dem wiederum denkende und empfindende Wesen hausten. Sie selbst nannten sich Menschen.

Das alles war so fremd und unbegreiflich, dass es ihn schauderte. Das banale, altvergessene Schulwissen implodierte und wurde zu einer Ungeheuerlichkeit. Er konnte es nicht fassen, weil er es nicht mit dem Augenschein in Einklang brachte: dem abendlichen Frieden über dem Stillen Ozean, der seinen Blick in unermessliche Weiten mit sich nahm. Aber noch kein Auge hatte um die Kurve schauen können.

Der Gedanke hin zu ihr, die sich jetzt gerade aus den Federn quälte, im Stehen einen Kaffee trank, während sie ihr dichtes schwarzes Haar aufbürstete und sich dezent, aber wirkungsvoll schminkte, wurde unerträglich. Er stand auf und kehrte zum Hotel zurück. Bis er die Rasenfläche überquert und die verschiedenen Gärten und Terrassen des weitläufigen Resorts hinter sich gebracht hatte, war es so gut wie dunkel. Die Tropennacht kam rasch und rücksichtslos. Es gab hier keine blaue Stunde, kein Verweilen, kein Sowohl-als-auch. Die Sonne schien, oder es war finster.

Er entschuldigte sich beim Tagungsleiter, was den abendlichen Empfang anging, und begab sich auf sein Zimmer. Bei der Rezeption bat er darum, ihm eine Auswahl des Buffets und eine Flasche Wasser nach oben zu bringen. Was die Teilnahme am feierlichen Bankett betraf, redete er sich auf den Jet Lag heraus. Man bot ihm etwas dagegen an. Nano-Rezeptoren, die an der inneren Uhr herumspielten. Aber das lehnte er dankend ab. Er wollte allein sein.

Auf dem Zimmer ging er auf den Balkon und klopfte den Sand aus den Schuhen. Er wartete, bis das Tablett gebracht wurde und er sicher sein konnte, nicht mehr gestört zu werden. Dann setzte er sich vor den Schirm und aktivierte ihre Nummer.

Das Bild, das sich vor ihm aufbaute, entsprach bis in die Details dem, was er erwartet hatte. Sie stand da, die Kaffeetasse in der Hand, das Haar mit einem roten Band gebändigt, das sie in der Klinik gegen die grüne OP-Haube vertauschen würde, der schwarze Lidstrich und der pflaumenrote Lippenstift. Der Blick der braunen Augen war wohlwollend und spöttisch.

Was für eine wunderschöne Frau, durchzuckte es ihn. Sie war sein gewesen. Sie war es immer noch.

»Hast du es doch nicht ausgehalten«, sagte sie.

»Ich wollte dich sehen.« Er musste lachen. »Guten Morgen!«

»Guten Morgen.« Sie trank einen Schluck Kaffee. Am Rand der Tasse blieb ein pflaumenfarbenes Mal zurück, beinahe wie ein Bluterguss. Sie hatte ihn einmal gebissen, das hatte so ähnlich ausgesehen. »Wie spät ist es bei euch?«

»Acht Uhr abends«, sagte er. »Gestern Abend.«

»Bei euch ist gestern.«

»Bei euch ist schon morgen früh!«

»Ich muss zur Arbeit.« Sie ließ in der Schwebe, ob das eine grundsätzliche Feststellung war oder die übliche Mahnung zur Eile.

»Ich habe Feierabend.«

»Hast du schon gegessen?«

»Ich hab mir was aufs Zimmer kommen lassen.« Er rutschte ein Stück zur Seite, um den Blick auf das Tablett freizugeben.

Sie musterte die Auswahl an Meeresfrüchten und Obst. Die Flasche Wasser entlockte ihr ein Schmunzeln.

»Kein Champagner?«

»Allein macht das doch keinen Spaß.« Er setzte sich wieder gerade vor den Schirm. »Außerdem habe ich so einen Kopf. Die Zeitverschiebung!«

»Armer Kerl.« Sie lachte. »Eigenbrötler.«

»Und du?« Er sah sich die Übertragung an.

»Du weißt ja.« Sie hob die Kaffeetasse in Richtung der Kamera. »Morgens bringe ich nichts runter.«

Er nickte. Dabei betrachtete er ihre Küche, die wie immer picobello war. Außer dem Kaffee am Morgen und einem Tee am Abend wurde dort selten etwas zubereitet. Sie aß in der Klinik oder abends mit Kollegen in der Stadt. Nach Hause kam sie eigentlich nur zum Schlafen.

Ihre kleine Wohnung, er war nur zwei oder drei Mal dort gewesen. Auch wenn sie sich in Budapest trafen, was die Ausnahme war, verbrachten sie die Nächte in einem der vornehmen Hotels auf der Margareteninsel oder auf dem Burgberg. Das winzige Pester Appartement war sündhaft teuer. Ein Prestigeobjekt in einem der besten Viertel. Vom Schlafzimmer aus hatte man einen Blick über die Donau und den Rosenhügel.

»Wie geht es dir?«, fragte er. Plötzlich wusste er nicht mehr, was er sagen wollte. Weshalb hatte er sie angerufen?

»Laertes.« Sie stellte die Tasse in die Spüle und nahm die Jacke vom Haken. »Was willst du?«

»Ich wollte dich sehen«, sagte er. »Ist das so ungewöhnlich?«

Sie blieb stehen und baute sich vor dem Schirm auf. Ihre zierliche Nase. Kerzengerade und ihr ganzer Stolz! Ihre sinnlichen, schön geschwungenen Lippen. Der brennende Blick ihrer braunen Augen, die dabei beinahe golden wurden.

»Freitag in acht Tagen«, sagte sie. »Im übrigen weiß ich schon, was du mir sagen wirst.«

»Kathy.«

»Ich habe nachgedacht«, fuhr sie fort. »Du hast vor Jahren einmal darauf angespielt. Du hast gedacht, ich hätte es vergessen. Aber es ist mir wieder eingefallen.«

»Ich wollte wirklich nur guten Morgen ...«

»Laertes.« Er mochte es, wenn sie so streng wurde. Wenn sie zusammen waren, war das der Moment, an dem er sie packte und aufs Bett warf. Aber jetzt lag der ganze Planet zwischen ihnen.

»Ich wollte ...«, stammelte er.

»Du hast ein Ticket auf die MARQUIS DE LAPLACE!«

Er spürte einen inneren Strömungsabriss. Sein Widerstand brach zusammen. Er konnte ja doch nicht lügen. Sie durchschaute alles, was er sagte. Auch das, was er nicht sagte.

»Wir werden über alles reden«, brachte er hervor.

»Ich sehe nicht, was es da noch zu reden gibt.«

»Noch habe ich nicht unterschrieben«, sagte er. »Ich wollte alles erst mit dir besprechen. In Ruhe. Zusammen. Nicht so!«

»Warum rufst du dann an?«

»Um dich zu sehen. Um dir einen guten Tag zu wünschen.«

Sie stand da und starrte ihn nur an. Ihre Hand spielte ungeduldig mit dem schweren Schlüsselbund. Allein das Appartement verfügte über drei separate Schlösser, und die Haustür glich dem Eingang in einen Hochsicherheitstrakt. Die Verbrechensquote der Stadt war eine der höchsten in ganz Europa.

»Ist es nicht so, wie ich sage?«

»Ich habe eine Einladung. Aber das heißt nicht, dass ich sie auch annehmen muss.«

»Es war immer dein Traum. Ich habe deine Worte noch im Ohr.«

Der Abend war auch ihm noch unangenehm präsent. Sie hatten sich in Dubai getroffen. Im 124. Stockwerk des Burj aßen sie zu Abend. Der Blick in die ungeheure Weite hatte ihn mit einem kosmischen Gefühl erfüllt. Er hatte zu schwärmen begonnen. Er hatte zuviel getrunken. Die Gegenwart der wunderschönen, strahlend intelligenten und selbstbewussten Frau, die seit einiger Zeit seine Geliebte war, hatte ihn noch mehr berauscht als der Champagner.

»Noch ist nichts entschieden«, sagte er. »Ich fliege kommende Woche nach Pensacola und kläre die Details.«

»Ich habe die Projektbeschreibung gelesen,« sagte Kathy im fernen Budapest. »Da gibt es nichts zu klären.«

»Warten wir es einfach ab.«

Sie nickte resigniert. Der Blick auf die Uhr war trotzdem aufgesetzt.

»Freitag«, sagte sie noch.

»Bis Freitag!« Er sprach zu einem schwarzen Schirm.

Er hielt den Vortrag so, wie er ihn während der letzten Jahre immer und immer wieder gehalten hatte, in Dutzenden ununterscheidbarer Tagungshotels auf allen Kontinenten. Der Text war derselbe, den er immer verwandte. Er war zu 80 Prozent ausformuliert, den Rest improvisierte er. Die Präsentation tat das ihre. Auch wenn er müde und unkonzentriert war wie jetzt: wenn die ersten Grafen erschienen, lief das ganze von allein. Er wurde zu einer Protokoll-KI, die ihr Programm abspulte.

Ab und zu musste der Vortrag ein bisschen angepasst werden, das machte er in der Regel frei. Er war kein guter Redner. Ohne Manuskript hätte er sich nicht vor einen Saal getraut, in dem einige hundert Fachleute darauf warteten, etwas geboten zu bekommen. Aber am Geländer der Präsentation ging er sicher genug, um hin und wieder die Hand davon zu lösen und ein paar Sätze einzuflechten. Manchmal gelang sogar ein kleiner Gag, der die Stimmung auflockerte. Danach ging es dann spürbar besser weiter.

Das Grundgerüst war beinahe sechs Jahre alt. Er hatte es bald nach seinem Einstand bei AIRC erstellt, als sich abzeichnete, dass er regelmäßig auf internationalen Kongressen über die Arbeit der Firma berichten musste. Dennoch waren die aktuellen Änderungen stets marginaler Natur, denn zum einen hatte er den Vortrag so verfasst, dass er die entscheidenden Entwicklungen vorwegnahm und den gegebenen Sachstand unerschrocken in die Zukunft projizierte. Zum anderen waren die Dinge, an denen er und seine Arbeitsgruppe gegenwärtig arbeiteten, sowieso geheim. Die Firma würde nicht erlauben, dass er sie auf Fachmessen ausplauderte, wo jedes Wort von Dutzenden Handgelenksimplantaten mitgeschnitten wurde.

Ein bisschen glichen diese Veranstaltungen den primitiven Robotern, die Besucher auf dem Firmengelände begrüßten oder den Müll hinter ihnen wegräumten. Sie verstellten das Eigentliche eher. Aber das war gewollt, und auch von den sich informiert gebenden Spezialisten hatte noch keiner protestiert, wenn er sie mit Allerweltswissen abspeiste. Die meisten kamen wegen der Spesen – wie er das ja auch beherzigte, seit er das System verstanden hatte. Die Bonusmeilen und die Punkte der Hotelketten sicherten das nächste Wochenende mit Kathy!

Er leierte sein Standardrepertoire herunter. Dann kam die Fragerunde. Der Tagungsleiter, ein Flame namens Vanderlecht, moderierte. Laertes wusste, was jetzt kommen würde. Er hatte die Resignation, die ihn früher bei den Veranstaltungen beschlichen hatte, hinter sich gelassen.

Der Vertreter einer großen Elektronikfirma meldete sich und fragte, ob man auch Küchengeräte mit diesen KIs bestücken konnte.

Man konnte.

Dann ergriff der Manager einer Spielzeugfirma, die viel an Merchandising verdiente, das Wort und fragte nach den Anwendungsmöglichkeiten. Laertes hatte sich auch hier eine Routineantwort zurechtgelegt. Er haspelte etwas von intelligenten wissensvermittelnden Kuscheltieren und Pädagogik-geschulten Aufpassern herunter.

Ein Mann in plärrend buntem Hawaiihemd stellte sich als Headhunter eines internationalen Filmkonzerns vor. Er fragte, ob die KI in der Lage sei, Drehbücher zu verfassen. Die Autoren seien so teuer und außerdem zickten sie ständig herum. Es sei der Traum eines jeden Studiobosses, sie loszusein. Konnte man nicht einen Computer bauen, der die Scripte auswarf? Die Zutaten waren sowieso immer dieselben. Sie wurden anhand von Marktanalysen und Erhebungen nachgeführt, die die aktuellen Vorlieben der Kunden ermittelten. Da konnte doch ein Programm das andere inspirieren!

Laertes musste eine Weile nachdenken. Das war in seiner Laufbahn als Vortragsreisender immerhin nicht allzu oft vorgekommen.

»Das berührt das Grundproblem menschlicher Kreativität«, sagte er dann. »Soweit ich weiß, gibt es schon Programme, die vorgegebene Handlungen in Dialoge umsetzen oder die zu vorgegebenen Filmen die Musik komponieren.«

Der Mann nickte eifrig. Er hatte das Bein übergeschlagen und das Kinn in die Hand gestützt, perfekt einstudierte Geste aufmerksamen Zuhörens.

»Auch diesen Vortrag könnte ohne weiteres ein Androide halten«, brachte Laertes einen seiner Gags, die er auf Vorrat hatte, falls es nicht voranging.

Das Publikum schmunzelte wie erwartet.

»Ich denke, wo es wirklich darum geht, etwas aus dem Nichts zu erschaffen, wird es schwierig. Etwas Neues zu machen, ohne Vorgaben. Da wird es interessant.« Er zwang sich das strahlendste Conferencier-Gesicht ab, dessen er fähig war, und grinste auf den Mann vom Film herunter.

»Schicken Sie uns doch einfach eine offizielle Anfrage. Eine Projektbeschreibung. Und dann werden wir sehen, was sich machen lässt. Als Experiment wäre das ganze bestimmt reizvoll. Ich denke, dass auch wir noch viel dabei lernen könnten!«

Der Mann hob die Hände, als wolle er den zugeworfenen Ball auffangen.

»Ich will keine Experimente«, sagte er den Satz, der in neun von zehn seiner 0815-Thriller vorkam. »Sondern Ergebnisse!«

Laertes hatte ihm diese Brücke gebaut, um zum Ende zu kommen. Er quittierte den Spruch mit einem erhobenen Daumen. Dann senkte er verschwörerisch die Stimme.

»Im übrigen wird Ihnen allen klar sein, dass ich hier nicht alles verraten kann, wozu wir fähig sind.«

Auch dieser Satz gehörte zum Repertoire. Und wie immer, wenn er den Leuten ins Gesicht sagte, dass sie im Grunde mit Trivialitäten abgespeist wurden, jubelten sie vor Entzücken. Die ersten sahen nach der Uhr. Es wurde Zeit fürs Mittagessen!

Der Kerl in dem Hawaii-Hemd signalisierte mit erhobener Handfläche Zufriedenheit. Es war ihm wohl weniger um die Auskunft als solche, als um einen möglichst zündenden Wortwechsel gegangen. Showbusiness eben.

Laertes sah Vanderlacht an. Der Tagungsleiter kam auf die Bühne, dankte ihm förmlich und entließ das Publikum in die Mittagspause.

Während der Saal sich langsam leerte, blieben sie noch auf dem Podium stehen. Laertes schaltete die Konsole ab und vergewisserte sich, dass die Kopien seines Vortrags, die das System an den Zwischenpuffern der Projektoren abgelegt hatte, wieder gelöscht worden waren.

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