Читать книгу: «Das Tal der Untoten», страница 2

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Na toll, dachte ich, während ich eine verblichene, doch wenigstens saubere, graue Freizeithose und ein ebenso farbenfrohes T-Shirt aus dem Beutel zog – Unterwäsche war nicht dabei – und mir diesen Mello nebenbei betrachtete. Er war, wie seine Schwester, keine Schönheit, um es gelinde auszudrücken. Mit seinem Bullterrier-Gesicht, der plattgedrückten Nase und dem leicht vorgeschobenen Unterkiefer, vermittelte er keinen vertrauenserweckenden Eindruck. Auch schien er von Ordnung und Sauberkeit nicht allzu viel zu halten. Insgeheim vermutete ich eine heimliche, Jahrzehnte zurückliegende, Liaison seiner Vorfahren mit denen des allerliebsten Harris.

So schmuddelig er auch aussah – auf ein Accessoire schien er stolz zu sein, und das war seine auffällige Gürtelschnalle, über welche seine Linke liebevoll strich: Ein handtellergroßes Oval mit ineinander verschlungenen Schlangenreliefs aus matter Bronze. Die tiefer gelegenen Stellen schimmerten wie schwarzer Onyx.

„Wenn Sie soweit sann, können wir los“, sagte Patty und setzte schmunzelnd hinzu: „Den Transporter müssen Sie allerdings hierlassen.“

„Kann ihn mir ja auch schlecht untern Arm klemmen“.

Ich hatte mich „in Schale“ geworfen und stieg aus. „Eigentlich müsste ich hierbleiben. Ich hab da jede Menge Pakete drin, und wenn jemand kommt und den Sprinter ausräumt, kann ich mich frischmachen.“

„Dann schließen Sie ihn doch ab.“

Ich musste angesichts ihrer Naivität lachen. „Das werde ich auch, aber wenn ihn jemand findet, hat er alle Zeit der Welt, ihn aufzubrechen und leerzuräumen.“

„Was ist denn so Wertvolles in den Paketen?“

„Keine Ahnung, ich liefre nur aus. Jedenfalls nichts, das wir nicht befördern dürften. Aber es geht ums Prinzip. Und wenn da nur Altpapier drin wäre – ich bin meinen Job los, wenn am Ende was fehlt.“ Und still bei mir dachte ich, dass mein Job wohl schon jetzt keinen Pfifferling mehr wert war.

„Wer sollte hier schon herkommen?“

Ich nahm meine Unterlippe zwischen die Zähne, zog die Brauen empor und sah sie mit schiefgehaltenen Kopf fragend an. Sie kam jedoch nicht auf das Naheliegende.

„Was denn?“, fragte sie.

„Na was wohl. Sie haben doch auch hierher gefunden.“

„Oh“, lachte sie. „Das lag nur an Harris. Der hatte wohl ’n Reh oder so was aufgescheucht und ist ihm nach. Ich kam kaum hinterher. Na, und dann standen wir vor Ihrem Fluggerät.“

„Fluggerät?“

„Wenn das Ding …“, sie zeigte auf den Sprinter, „… net fliegen kann, wie sann Sie dann hier gelandet? Oder hat Sie ’n Hubschrauber abgesetzt?“

Ich lächelte gequält. „Die Frage haben wir bereits unbeantwortet bleiben lassen müssen. Denken Sie, ich habe inzwischen eine Erklärung dafür? Sagen Sie mir lieber, wo die Mühlenstraße ist.“

Sie deutete über die Schulter hinweg schräg hinter sich, ohne den Blick von mir zu lassen. „Irgendwo dort hinten. Is aber ’n ganzes Stück weg.“

Ich folgte ihrer Geste und schüttelte gedankenverloren den Kopf.

„Na“, meinte sie, „vielleicht klärt sich ja später alles auf. Hierbleiben können Sie jedenfalls net.“

„Nein“, gab ich zu. „Warten Sie noch ’ne Minute, ja? Mir ist da gerade ’ne Idee gekommen.“

Ich riss ein Blatt aus meinem Notizblock, schrieb ein paar Zeilen darauf und heftete den Zettel gut sichtbar an die innere Seite der Frontscheibe. Dann kramte ich meine nassen Sachen zusammen, steckte Handy und Brieftasche ein und verschloss die Türen.

Patty trat näher an das Fahrzeug heran und reckte den Kopf. „Nicht berühren – Polizei ist informiert!“, las sie und ließ ihr allerliebstes Glucksen hören. „Alter Schwede! Wenn die Karre jetzt jemand findet, macht er bestimmt ’nen großen Bogen drum rum.“

Ich runzelte die Stirn. „Haben Sie ’ne bessre Idee?“

Patty wurde schnell wieder ernst. Nur ein verschmitztes Lächeln blieb. „Klar. Tarnung! Doch dafür ist die Kiste zu groß. Wir müssten den halben Wald abholzen.“ Sie wandte sich zum Gehen. „Komm, Harris, machen wir, dass wir heimkommen. Damit wir dem Onkel seine Sachen trocken kriegen.“

Seufzend setzte ich mich in Bewegung, gefolgt von dem Bullterriergesicht, dem bisher noch kein Wort über die Lefzen, pardon, Lippen, gekommen war.

„Wenn wir in Ihrer Mühle sind, rufe ich die Firma an“, sprach ich gegen Pattys Rücken und tastete nach dem Handy. „Die werden schon wissen, was zu tun ist. Es sei denn, ich kriege noch unterwegs ein Netz.“

„Wir hamm kein Telefon“, knurrte Mello hinter mir.

Ah, dachte ich, sprechen kann er auch. Dann stutzte ich. „Sie haben kein Telefon?“

„Brauch ’n mar nich.“

„Auch kein Handy?“

„Nee.“

Einen Augenblick lang war ich sprachlos, während ich weiterging. Dann kam mir eine Erleuchtung: „Oh, ich weiß. Sie kommunizieren lediglich übers Internet per Mail und so. Okay, geht natürlich auch. Dennoch ist es verwunderlich, dass …“

„Hammar ooch nich“, fiel mir dieses Unikum ins Wort.

„Ach …“ Wieder war ich sprachlos, dann kratzte ich den Rest logischen Verstandes hervor, der noch in mir schlummerte. „Aber die Reservierungen beispielsweise. Wie sollen die funktionieren? Etwa nur durch Briefpost?“

Mello schwieg. Er schien seine Tagesration an Worten für heute aufgebraucht zu haben. Statt seiner fragte Patty, ohne sich umzudrehen: „Welche Reservierungen?“

„Na, Sie sprachen doch von einer Mühle. Gibt es da denn keinen Gaststättenbetrieb und keine Übernachtungsmöglichkeiten wie in vielen anderen Mühlen auch?“

„Ah, jetzt versteh ich“, lachte Patty und ich atmete auf. „Sie meinen die Gastwirtschaften im Mühltal.“

„Ja. Klar.“

„Da muss ich Sie enttäuschen. Mit denen haben wir nichts zu tun.“

Zu früh aufgeatmet, Walter!

„Ich dachte, Sie wären in einer der Mühlen angestellt, und …“

„Wir sann net angestellt. Die Mühle gehört uns selbst. Sie werden sie gleich sehen. Ist net mehr weit!“

Ich beschloss, es dem stumpfsinnig hinter mir her trottenden Mello gleichzutun und zu schweigen. Mir wären auch keine Fragen mehr eingefallen, auf die ich befriedigende Antworten hätte erhalten können.

Auf unserem Weg durch den Forst berührten wir weder Straßen noch regelrechte Wege. Nur ausgetretene Pfade und mitunter kleine Lichtungen. Ich blieb meinem Vorsatz treu und äußerte mich nicht dazu. Sicherlich handelte es sich um eine Abkürzung, deren Richtung der Hund vorgab. Und der sollte ja nun weit davon entfernt sein, sich zu verlaufen. Selbst wenn ihm, wie sich Patty ausdrücken würde, „ein interessantes Wild“ in die Quere käme.

Apropos: weit entfernt. Ich traute weder Patty noch Mello zu, etwas mit Einsteins Relativitätstheorie anfangen zu können; deren Prinzip indes schienen beide unterbewusst verinnerlicht zu haben: Es bedeutete noch eine geschlagene halbe Stunde Fußmarsch durch den Wald, bis sich die Worte Pattys „… net mehr weit!“ erfüllten.

Ich weiß nicht, ob die Aufregung der letzten Stunden oder mein leerer Magen schuld waren – mir wurde plötzlich übel. Das Unwohlsein ging jedoch schnell vorüber; innerhalb von Sekunden. Dafür wollten mich meine Beine im Stich lassen. Sie fühlten sich an, als seien sie aus Gummi. Ich bekam es mit einer unerklärlichen Angst zu tun. Angst, weiterzugehen.

„Is’ ’n los?“, fragte Mello hinter mir, der mein Zögern bemerkte und ebenfalls stehenblieb.

„Ich – ich weiß nicht“, antwortete ich. „Ich würde am liebsten wieder umkehren.“

Patty wendete sich nach mir um, tauschte einen Blick mit ihrem Bruder und nickte verstehend. „Glauben Sie mir, Ihr Fahrzeug ist gut aufgehoben, dort, wo es steht.“

„Darum geht es nicht. Irgendwie ist mir flau im Magen. Und ich habe …“ Ich traute mich nicht, zuzugeben, Angst zu haben. Ich hätte nicht begründen können, wovor.

„Sie haben lange nichts gegessen und getrunken, nicht?“

Ich nickte.

„Okay. Machen wir ’ne Pause.“ Sie nestelte an ihrer Umhängetasche herum, öffnete sie und holte eine kleine Flasche hervor. „’n Schluck Cola? Was anderes hab ich leider nicht.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Oder ’ne Zigarette?“ Sie hielt mir ein Plastiketui hin. „Beruhigt den Magen.“

Ein Internist hätte ob dieser im Brustton der Überzeugung hervorgebrachten Behauptung die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, doch Patty meinte es gut, und mir waren die Zigaretten ohnehin ausgegangen, also griff ich zu.

„Danke. Oh, das ist die letzte, wie ich sehe.“

„Macht nichts, hab noch ’n Päckchen.“

Wir setzten uns auf einen liegenden Baumstamm und rauchten. Mello hockte abseits, spielte mit seiner Gürtelschnalle, kraulte Harris und warf dann und wann einen Blick zu uns herüber.

Bereits nach den ersten drei Zügen wich der Druck in mir, und ich fühlte mich mit jeder Sekunde etwas besser.

„Okay“, sagte ich schließlich und erhob mich. „Ich glaube, wir können weiter. Keine Ahnung, was mit mir los war.“

Sofort setzte sich Harris, als hätte er meine Worte verstanden, wieder an die Spitze unserer Gruppe.

„Wahrscheinlich nur Nikotinentzug“, schmunzelte Patty. „In der Mühle können Sie sich mit Zigaretten versorgen.“

„Haben Sie da auch was zu essen? Bezahl ich natürlich.“

„Sie werden bald was Kräftigendes bekommen. Da vorn ist schon das Teufelstal.“ Sie nickte mit dem Kopf in die Richtung. „Keine zweihundert Meter mehr.“

Sie hakte sich bei mir ein und zog mich mit sich. Dabei redete sie ununterbrochen auf mich ein. Das unerklärliche Gefühl der Angst war vollständig gewichen. Ich fühlte mich zwar noch immer mau, doch wollte ich mir vor einer jungen Frau keine Blöße geben und nicht als Schlappschwanz dastehen. Also riss ich mich zusammen. In meinem Rücken hörte ich Mello grunzen.

Der dichte, kalte Nebel, der das Tal – von der Anhöhe aus betrachtet – wie ein breiter, milchiger Fluss durchzog, lichtete sich zusehends, und als wir die Sohle erreichten, war er fast völlig verschwunden. Der Anblick, der sich mir jetzt bot, ließ mich den Schritt verhalten und die Hand mitsamt des – noch immer kein Netz findenden – Handys senken: Mittelalterlich wirkende Holzhütten und langgestreckte, einstöckige Blockhäuser zogen sich wie eine Kette durch den engen Grund, hier und da von Gattern und Gehegen unterbrochen, in denen sowohl Ziegen als auch andere Nutztiere gehalten wurden. Aus der Mitte der Dächer vieler größerer Häuser – Schornsteine im eigentlichen Sinne sah ich keine – quoll dünner Rauch und mischte sich in der Höhe mit dem Nebel. Unsere Sonne sah ich als matten Fleck am Himmel prangen, welcher das Auge nicht blendete. Die Lichtverhältnisse hier unten ähnelten somit denen, wie sie eine Morgendämmerung bei leichtbewölktem Firmament hervorzubringen imstande ist. Ein paar abgemagerte Hunde streunten umher und verzogen sich schleunigst mit eingezogenen Schwänzen, als Harris kurz Laut gab. Sie hatten wohl schlechte Erfahrung mit ihm gemacht.

„Weiter!“, knurrte es hinter mir, dann fühlte ich einen zwar sanften, doch mit allem Nachdruck geführten Stoß im Rücken. Mir lag eine Entgegnung auf der Zunge, doch als ich mich nach Mello umblickte, verkniff ich sie mir und wandte meinen Blick wieder nach vorn. Er hatte ein Grinsen aufgesetzt, das wohl jovial und um Nachsicht bittend wirken sollte, doch gerade diese Emotion nicht in mir auslöste. Es war das Lächeln eines Menschen, der es seit Jahrzehnten nicht mehr praktiziert hatte und nun spontan zur Schau zu stellen versuchte.

„Unsere Mühle“, sagte Patty in diesem Moment und zeigte in Richtung eines größeren Fachwerkhauses, welches durch einen langgezogenen, überdachten, fensterlosen Übergang mit einem etwas niedrigeren Gebäude gleicher Bauart verbunden war. Rechts davon verbreiterte sich das schmale Tal zu einem kleinen Kessel mit mehreren Teichen inmitten üppig grüner Wiesen. Waren das die Fischteiche, die Patty erwähnt hatte?

„Die beiden einzigen Gebäude, die halbwegs in die Zeit zu passen scheinen“, sagte ich. „Alles andere wirkt uralt und etwas deplatziert. Als habe der Bauherr dieser Schauanlage nicht richtig recherchiert. Vielleicht war es ja auch nur eine Frage des Geldes.“

Patty sah mir eine Sekunde lang verwirrt ins Gesicht, dann vernahm ich ihr lang vermisstes Glucksen. „Oh, ich ahne, was Sie meinen, aber nein, das hamm wir alles selbst gebaut. Wir und unsere – Gehilfen. Hier soll nischt zur Schau gestellt werden. Die zwei Mühlengebäude standen allerdings schon, als wir das Anwesen übernahmen.“

Jetzt dämmerte es mir. „Verstehe. Hätte auch gleich drauf kommen können: Es ist ein Experiment, nicht wahr? Ich meine, so eines wie das der Marsmission, als eine Handvoll künftiger Astronauten, von der Außenwelt abgeschirmt, ein Jahr lang durchhalten und sich selbst versorgen mussten. In gewächshausähnlichen, abgeschotteten …“

„Ich weiß, was Ihnen da vorschwebt, doch es ist kein Experiment“, unterbrach sie mich.

„Oh, dann – dann seid ihr Aussteiger, ja?“

„Aussteiger?“

„Aus der Gesellschaft. Leute, die sich mit den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen nicht arrangieren können oder wollen. Deshalb kein Telefon und keine Computer.“

Ich blickte mich demonstrativ um.

„Und wie ich vermute auch kein Strom, keine Autos, Zentralheizungen oder Ähnliches. Nur mit und von der Natur leben. Ohne technischen Schnickschnack. Ohne den geringsten Luxus. Na, ehrlich gesagt, das wäre nichts für mich.“

„Aussteiger“, sagte Patty mit in sich gekehrtem Blick. „Ja, so könnte man’s nennen.“ Dann sah sie mich an und lächelte. „Ja, Aussteiger. Das ist sogar treffend formuliert. Oh – Sie werden uns ja noch kennenlernen und sicherlich Ihre Meinung ändern. Warten Sie’s nur ab.“ Sie wollte weitergehen, doch ich ergriff einen Augenblick lang ihr Handgelenk.

„Hören Sie, Patty, ich bin Ihnen …“ Ich blickte mich kurz nach Mello um. „… beiden wirklich sehr dankbar. Und ich akzeptiere euer Konzept, ich meine, eure Weltanschauung oder wie man das nennen will. Aber – ich muss unbedingt mit der Zivilisation Verbindung aufnehmen, verstehen Sie? So schnell wie möglich.“

„Das sollen Sie ja auch“, nickte sie. „Aber ’n paar Minuten werden Sie sich noch gedulden müssen. Sobald Sie sich etwas ausgeruht und gestärkt haben und Ihre Sachen trocken sann, bringt Sie Mello hoch zur Autobahn. Einverstanden?“

Ich atmete durch. „Ja. Was bleibt mir auch übrig. Ich meine, nicht dass ich Ihre Gastfreundschaft nicht zu schätzen wüsste, aber …“

Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Langsam drehte ich mich um. Mellos Grinsen entbehrte noch immer jeglicher Anziehungskraft, doch wirkte es nicht mehr so aufgesetzt wie zuvor. Ich nickte ihm zu und ergab mich in mein Schicksal.

III

Auf dem Weg zur Mühle trafen wir ein halbes Dutzend Gestalten, die, wie ich, graue Freizeitanzüge trugen. Der Unterschied: Mit dem meinen hätte ich auf dem Wiener Opernball wohl nur mäßige Aufmerksamkeit erregt. Es war jedoch nicht nur der Schmutz, der mich frappierte, sondern auch das Verhalten der Männer. Sie nahmen keine Notiz von uns, ja schienen uns überhaupt nicht zu bemerken. Diese abwesenden, stumpfsinnigen, in die Ferne oder auf den Boden gerichteten Blicke, die halb offenstehenden Münder, die bleichen, ausdruckslosen Gesichter, die langsamen, gleichförmigen Bewegungen – all dies wirkte roboterhaft, als stünden sie unter dem Einfluss von Medikamenten oder Drogen. Sie erinnerten mich an meinen Großvater im Altenpflegeheim. Er litt an Alzheimer und fortgeschrittener Demenz. Ein halbes Jahr vor seinem Ableben lief er genau so ziellos umher wie diese Typen. Nur dass er es auf dem Gang des Heims tat. Mit dem Rollator.

Ich hatte keine Zeit, diese Betrachtungen zu vertiefen. Auf meine Frage hin meinte Patty nur, dass es Bergarbeiter wären, die eine schwere Schicht gehabt hätten und nun nach Hause gingen, um ihren wohlverdienten Feierabend zu genießen.

„Wonach graben die denn?“, fragte ich.

„Oh, nach allem Möglichen. Ich weiß das selbst net so genau. Mit den Bergleuten hab ich net so viel zu tun. Kümmre mich eher um die Korbflechterei. Jetzt kommen Sie erst mal rein, damit wir Ihre nassen Klamotten trocken kriegen.“

Wir betraten das Mühlengebäude. Über der Tür war eine Inschrift aus verschnörkelten Buchstaben angebracht. Ich hatte keine Zeit, sie zu entziffern. Von einem engen Flur aus zweigten einige Türen ab. Patty wandte sich einer steilen, hölzernen Treppe zu und begann sie zu erklimmen. Es lag ein dumpfer, säuerlicher Geruch in der Luft.

„Stoßen Sie sich net den Kopf am Sturz. Hier sann die Decken sehr niedrig.“

„Sie arbeiten also in der Korbflechterei?“ Ich fragte nur, um etwas zu sagen. Um meine Sicherheit wieder zu gewinnen. Denn ich fühlte mich hier irgendwie deplatziert.

„Ja. Geht mit der Zeit ganz schön über die Finger. Und die Zehen.“

„Die Zehen?“ Ich war überrascht. „Ich wusste gar nicht, dass man die dafür benötigt.“

„Dann haben Sie noch nie gesehen, wie ’n Weidenkorb entsteht, net wahr?“

„Ehrlich gesagt nicht. Ich nehme an, ihr verkauft die Körbe. Alles könnt ihr ja bestimmt nicht selbst herstellen, was zum Leben so benötigt wird.“

„Richtig. Aber auch Gemüse, Obst, Eier und Fleisch bieten wir auf den Märkten an. Dafür kaufen wir dann Salz, Seife, Werkzeuge und so ’n Zeugs. Ansonsten sind wir sehr genügsam. Wir brauchen keinen Luxus.“

„Ja, davon bin ich überzeugt“, sagte ich und folgte ihr in einen kleinen Raum im ersten Stock. Er war recht spärlich eingerichtet. Das Mobiliar schien obendrein bunt zusammengewürfelt zu sein – kaum etwas passte geschmacklich zueinander. Überdies gab es nichts, das unbeschädigt war. Ich hatte den Verdacht, dass Patty und ihre Gesinnungsgenossen regelmäßig die Sperrmüllplätze plünderten, denn selbst im An- und Verkauf wären hochwertigere Möbelstücke zu ergattern gewesen. Doch dafür reichte wohl das Geld nicht.

Ein Kaminofen, der auch bessere Tage gesehen haben mochte, verbreitete wohlige Wärme.

„Ruhen Sie sich aus“, sagte Patty und wies auf eine Couch, die allem Anschein nach ebenfalls von anno dazumal stammte. Immerhin lag eine saubere Decke darauf. Ich setzte mich, während Patty meine feuchten Sachen auf eine vor den Ofen gespannte Leine hing.

„Ich denke, in etwas über einer Stunde sann sie trocken. Möchten Sie was essen und trinken?“

„Ich will Ihnen keine Umstände machen“, sagte ich. „Den Hunger habe ich wohl übergangen, doch wenn Sie ’n Schluck Wasser hätten …“

„Haben wir“, lächelte sie und blickte in Richtung Tür, durch die eben eine Kreatur trat, bei deren Anblick ich unwillkürlich an die Hexe Baba Jaga aus den russischen Märchen erinnert wurde. Sie schien an die hundert Jahre alt zu sein und ging so gebückt, dass ich fürchtete, sie könne jeden Augenblick vornüber fallen. Der faltige Mund dieses Wesens hatte längst alle Zähne verloren, dünne, graue Haarsträhnen ragten zu beiden Seiten eines noch graueren Kopftuchs hervor, und sowohl Strickjacke als auch Rock waren wohl seit Jahrzehnten nicht gewaschen worden; es war unmöglich, die Farben zu deuten, welche diesen Kleidungsstücken ursprünglich eigen gewesen waren. In den klauenartigen Händen balancierte die Alte ein Tablett, auf dem ein Krug aus Steingut und ein ebensolcher Becher standen. Sie ging barfuß oder in Strümpfen – genau konnte ich das in Anbetracht des eingetrockneten Schlamms an ihren Füßen nicht erkennen.

„Das ist Melly“, sagte Patty. „Die gute Seele des Hauses. Sie hat was ganz besonders Leckeres für Sie.“

Ich bezweifelte angesichts der Attraktivität der Serviererin, dass es sich bei dem Inhalt des Kruges um etwas Leckeres im wörtlichen Sinne handeln könne und zog ein entsprechendes Gesicht, welches Patty Anlass bot, ihr Glucksen hören zu lassen. Sie nahm der Alten das Tablett ab und stellte es vor mir auf den Tisch.

„Danke Melly, du kannst gehen.“

Melly ließ ein Grunzen hören, welches in einem zischenden Laut endete, als habe jemand den Stöpsel aus einem Schwimmring gezogen. Dabei nickte sie mir zu und verzog den Mund zu einer Grimasse, die wohl ein Lächeln darstellen sollte. Dann drehte sie sich um und schlurfte davon. Mich fröstelte.

Patty hatte indes den Becher gefüllt und setzte ihn mir vor. Dabei schnalzte sie mit der Zunge. „Kennen Sie Kumys?“

Na bitte. Meine Ahnung, den Inhalt des Kruges betreffend, hatte mich nicht getäuscht.

„Kuhmist?“, fragte ich mit gelindem Entsetzen in der Stimme.

Patty lachte. „Kumys! Vergorene Stutenmilch. In der Mongolei ist es Grundnahrungsmittel und Lebenselixier zugleich. In Ermangelung von Pferden nehmen wir die Milch der Ziegen dafür und würzen das Ganze mit Zitronenschalen und einer Priese Ingwer.“

Ich besah mir den Inhalt des Bechers und schnupperte an dessen Rand: Eine weißlich-graue, leicht schäumende Flüssigkeit, welche nach schimmeliger Hefe mit der süßsäuerlichen Note überlagerten Federweißers roch. Wenn dieser Duft auf den Geschmack schließen ließ, zöge ich abgestandenes Wasser aus einer Pfütze vor.

„Nur Mut“, gluckste Patty, die meine Gedanken erriet. „Es schmeckt besser als es riecht.“

„Ich weiß nicht“, zögerte ich. „Hat die – die gute Seele von eben diesen Kuhmi…, eh, Kumys zubereitet?“

„Natürlich. Melly ist die einzige, die das bis zur Perfektion beherrscht. Kein Kumys ist so gut wie ihrer.“

„Trinkt sie ihn auch selbst?“

„Na klar doch. Alle trinken ihn. Nur zu, kosten Sie!“

„Wie alt ist sie?“

„Wer? Melly?“

„Ja.“

„Keine Ahnung.“ Parry zuckte die Schultern. „Weit über neunzig, denke ich.“

Soviel zum Lebenselixier! Ich nahm all meinen Mut zusammen und probierte einen Schluck. Das Zeug schmeckte wie Kefir mit einem Schuss Wodka und ein paar Tropfen Zitronensaft. Etwas bitter mit leichter Schärfe im Nachgang, aber durchaus trinkbar. Möglicherweise lag es ja auch am Durst, der mich das Gesöff positiver beurteilen ließ als es verdiente. Ich nahm noch einen Schluck. Und noch einen. Und …

„Und?“, lauerte Patty auf mein Urteil.

Ich musste unwillkürlich an Nadine denken. Sie hatte – wie wohl alle Frauen – die Angewohnheit, mich mit Fragen zu bombardieren, während ich trank. Da half es auch nicht, ihr klarzumachen, dass ich nicht einfach mittendrin aufhören und ihr antworten konnte, wenn ich so recht „im Zuge“ war. Sie tat es dennoch immer wieder.

Endlich setzte ich den Becher ab und schnappte nach Luft.

Patty griente. „Was sagen Sie, ist das was?“

Ich nickte. „Besser als ich dachte. Ehrlich.“

„Freut mich“, sagte sie und schenkte nach.

„Da ist Alkohol drin, nicht?“

„Nur ’n paar Prozent. Weniger als Bier hat.“

Ich trank noch einen Becher aus. Dann setzte ich ihn ab und rülpste.

„Oh, ’tschuldigung, das – das ist mir so rausgerutscht. Liegt wohl an der Kohlensäure.“

Patty kicherte und stellte den Becher auf das Tablett. „Ein Zeichen, dass es geschmeckt hat. Jetzt legen Sie sich etwas hin. Ich komme bald wieder und schaue nach, ob Ihre Sachen trocken sann.“

„Und dann bringt mich Mello hinauf zur Autobahn? Gibt es nicht irgend eine Ansiedlung in der Nähe?“

„Die nächste Mühle ist über vier Kilometer weit weg. Bis zur Autobahn sann es nur knapp zwei, wenn Sie den kürzesten Weg über den Hang nehmen. In der Nähe ist ein Rastplatz mit einer von diesen Notrufsäulen. Sie wissen schon, wenn man ’n Unfall hatte oder so. Was in Ihrem Fall ja zutreffen dürfte. Mello zeigt Ihnen den Weg.“

Sie ging und ließ mich mit meinen Gedanken allein: Eine Stunde! Zusammen mit dem Fußmarsch höchstens zwei. Ich schaute zur Uhr. Wenn alles glatt läuft, bin ich am frühen Abend zu Hause. Vorher muss ich natürlich in die Firma. Der Wagen! Wie den aus dem Wald kriegen? Finde ich den überhaupt wieder? Ach was, der Hund kennt den Weg. Harris wird uns schon hinbringen. Mich und die Kollegen. Und das Technische Hilfswerk. Und wen sonst noch …

Ich legte mich auf die Couch. Mir war etwas schwindlig. Hatte ich einen Schwips? Diese Müdigkeit. Ich starrte zur holzgetäfelten Decke. Die Balken begannen sich zu drehen. Erst langsam, dann immer schneller.

Weniger als Bier – Nur ’n paar Prozent – Nich der Rede wert – Weit über neunzig – Baba Jaga – Kuhmist –Besser als gedacht – Lebenselixier …

Patty nimmt meine Sachen von der Leine. Ich sehe sie deutlich vor mir. Sie sieht ernst aus. Nicht so fröhlich wie sonst. Und die anderen? Wer sind die? Wieso kann ich mich nicht bewegen? Ich höre mich atmen, aber ich fühle es nicht. Oder atmet ein anderer für mich? Sie reden miteinander, doch verstehe ich ihre Worte nur undeutlich. Als stäke mein Kopf unter Wasser.

Was nun? Wieso legt man mich auf eine Trage und – bringt mich fort? Hinaus aus dem Raum – die Treppe hinab – durch endlose Gänge – ins Freie …

Ich will reden, Fragen stellen, aber ich vermag es nicht. Mein Mund ist wie zugenäht.

Es ist Nacht. Da sind Fackeln und zwei, nein, drei Feuer. Meine Augen brennen, wenn ich direkt in die Lichter schaue. Ich höre Trommeln und sehe nackte, bemalte Körper, die um mich herum tanzen. Masken. Und unmaskierte, aber bemalte Gesichter, die zu Fratzen verzerrt sind. Einige von ihnen halten federgeschmückte Stäbe in den Händen. Zeremonienstäbe? Wer sind diese Leute? Was wollen sie? Was machen sie da?

Da steht ein – Sarg! Was in aller Welt soll ein Sarg hier? Er wird geöffnet. Man legt mich hinein. Bespritzt mich mit einer Flüssigkeit. Einer der Maskenmänner tritt hinzu und wedelt mir mit einem Federbüschel im Gesicht herum, während er Worte in einer mir fremden Sprache murmelt. Ich weiß nicht, was er in der anderen Hand hält. Ich erkenne es nicht.

Ich liege in einem – Sarg?! Warum liege ich in einem Sarg? Denken die, ich sei tot? Bin ich denn tot? Und warum – warum bin ich tot?

Der Sarg wird geschlossen. Dunkelheit umgibt mich. Ich will schreien, aber ich kann nicht. Ich fühle, dass ich wieder getragen werde. Dann abgelegt. Dumpfe Klänge, als schaufle jemand Erde auf den Sargdeckel. ERDE! Sie begraben mich. Sie begraben mich lebendig!

Ich kann mich nicht bewegen. Nicht den kleinen Finger rühren …

Ich bin nicht tot! Lasst mich raus! Ich will nicht sterben! Warum hört mich keiner?

Wie lange reicht die Luft zum Atmen in einem Sarg? Zwei Stunden? Drei, vier, fünf …

Wohl nicht so lange.

Niemals so lange. Niemals so …

399
480,36 ₽
Возрастное ограничение:
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Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
Объем:
301 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783961455720
Издатель:
Правообладатель:
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