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Kapitel 3
Skikurs

Ob und wann er darf, darüber entscheidet bei den Taufliegen immer das Weibchen – und es macht es dem Auserwählten nicht leicht. Anstatt dem Werben zügig nachzugeben, weist es dieses zuerst zurück. Doch hat das Männchen es geschafft, sie zu begatten, hat es gewonnen. Denn seine Samenflüssigkeit löst bei ihr ein mysteriöses Post-Sex-Verhalten aus: die Abwehr weiterer Verehrer und vermehrte Eierproduktion.

Paul erwachte mit einer Morgenlatte. Kurz überlegte er, ob er seine noch schlafende Ehefrau damit konfrontieren sollte. Aber dann entschied er, dass ihm das zu mühsam war. Er hatte gestern, nachdem die Zieserls gegangen waren, noch einen wilden Streit mit Eva gehabt. Er hatte ihr vorgeworfen, dass sie unfähig war, ein simples Essen auf den Tisch zu bringen. Gerade dann, wenn es wirklich wichtig für ihn war. Und dann hatte er sie gefragt, ob sie sich mit Absicht so blöd anstellen würde, um ihn zu demütigen. Eva hatte geheult und war hysterisch geworden.

Für Versöhnungssex war es jetzt zu spät. So wie er Eva kannte, war die schon im »gekränkt und beleidigt Modus« und würde den ganzen Tag kaum mit ihm sprechen, sondern ihn nur mit waidwundem Blick mustern. Wie er diese Märtyrernummer hasste.

Evas passive Opferhaltung widerte ihn zunehmend an. Konnte sie nicht ein bisschen Feuer im Arsch haben. So wie diese Zieserl. Jaja, die Zieserl. Er dachte an ihre Titten. Die waren echt geil. Er fuhr mit der Hand in seine Boxershorts und stellte sich vor, sein Schwanz läge zwischen ihren Titten. Er bewegte seine Hand langsam auf und ab. Dass Eva was mitbekommen würde, schloss er aus. Die hatte Ohrenstöpsel drinnen, wegen seiner Schnarcherei. Und außerdem hatte sie ihre komischen CBD-Tropfen genommen, wie immer, wenn sie was aufregte. Das war dann aber auch schon der letzte Gedanken, den er an Eva verschwendete. An die Zieserl zu denken, war weitaus vergnüglicher. Er grunzte zufrieden, als er sich seinen Fantasien hingab.

Eva wachte auf, weil sie spürte, dass sich die Matratze, auf der sie lag, rhythmisch bewegte. Sie erstarrte.

Das konnte jetzt bitte nicht wahr sein. Ihr Mann lag neben ihr und holte sich einen runter.

Was sollte sie tun? Sie könnte hochfahren, ihn anschreien, ihn beschämen. Aber stattdessen hielt sie die Augen fest geschlossen und stellte sich schlafend. Sie spürte einen Kloß im Hals. Sie biss sich auf die Zunge. Tränen stiegen hinter ihren geschlossenen Lidern auf. Sie hatte all das schon einmal erlebt. So ähnlich und noch viel schlimmer.

Es passierte in der zweiten Klasse Oberstufe während ihrer Zeit im Gymnasium. Eva war unsterblich in Paul verliebt. Sie war die Jüngste in der Klasse, gerade mal 15. Sie war noch Jungfrau. Paul wollte es tun, aber sie hatte Angst davor, dass es wehtun würde, davor, schwanger zu werden, und am allermeisten davor, sich dumm anzustellen. Dümmer als all die anderen erfahrenen Weiber in der Klasse wie die Bettina oder die Sandy, mit denen der Paul schon was gehabt hatte.

Küssen hatte Eva beim Flaschendrehen gelernt. Flaschendrehen wurde damals auf jeder Klassenparty gespielt. Sie hatte immer gebetet, dass sie nicht den pickligen Robert oder den schweißelnden Alex, sondern den Paul erwischen würde. Und dann erwischte sie ihn wirklich. Eva konnte sich noch genau an das Etikett der Flasche erinnern. Es war eine leere Mavrodaphne-Flasche – den süßen griechischen Wein hatten sie zuvor alle gemeinsam gesoffen. Eva vertrug schon damals nichts. Sie hatte rote Wangen vor Aufregung und drehte die Flasche besonders wild, als sie an der Reihe war. Die Flasche kurvte sicher achtmal im Kreis, bevor sie wackelnd zur Ruhe kam. Der Flaschenhals zeigte auf Paul.

Paul grinste und robbte auf den Knien zu ihr, dann nahm er ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie. Und der Kuss war richtig gut, nicht so nass und schlabbrig wie der vom Dietmar und den anderen Buben in der Klasse, die sie in ihrer ewigen Pechsträhne immer zu erwischen schien, wenn sie Flaschendrehen spielten. Von da an war Eva verliebt in Paul. Und aus irgendeinem Grund hatte der Paul dann auch einen Stand auf sie gehabt. Nur das mit dem Sex, oder besser gesagt, das mit dem Keinen-Sex-Haben, war ein Problem.

Dann war der Skikurs gekommen. Der Höhepunkt des Schuljahres, obwohl das Quartier ein einziger Tiefpunkt war. Eine Jugendherberge in Zell am See. Man schlief zu sechst oder zu acht in einem Raum mit Stockbetten. Wählte man das untere Bett, so staubte es aus der Rosshaarmatratze des oberen Betts auf einen herunter. Falls der oben Schlafende sich während der Nacht zu viel bewegte, konnte man ihn mit ein paar Tritten in seinen Rücken daran erinnern, dass man auch noch da war. Allerdings musste man dabei aufpassen, nicht den Lattenrost aus den Angeln zu heben. Schlief man oben, so war der Plafond so knapp über dem Bett, dass es einer gewissen Körperbeherrschung bedurfte, unter die Decke zu gleiten, ohne sich den Kopf anzuhauen.

Eva hatte oben in so einem Bett gelegen, weil sie die Kleinste der Klasse war und deswegen weniger Platz brauchte als die Sandy, die unter ihr lag und schon so groß und entwickelt war wie eine richtige Frau.

Eva konnte dem Skifahren per se nur wenig abgewinnen. Sie war nicht unsportlich, sie machte Ballett und Rhythmische Gymnastik, aber Skifahren war einfach nicht ihres. Wacklige Sessellift- und Schleppliftfahrten, bei denen der Bügel immer weiter über den Hintern rutschte, bis man aus der Spur fiel. Klamme, schmerzende Finger, wenn nach einem Sturz Schnee in die Fäustlinge geraten war. Klobige Skischuhe, mit denen sie in der Hütte auf den Stiegen zum Klo immer stolperte. Viel zu lange Leihski, die machten, was sie wollten. Eisflächen, Mugel, brauner Matsch.

Am meisten freute sie sich immer auf später, wenn die Lehrer schliefen und sich Paul und ein paar andere Burschen heimlich in das Zimmer der Mädchen schlichen, sie dicht an dicht auf ihrem Stockbett saßen, »Bravo« lasen, gemeinsam Paprikachips aßen und den heimlich mitgebrachten Fernet tranken. Die Lehrer hatten angedroht, dass jeder Bursch, der in einem Mädchenzimmer erwischt wurde, von der Schule fliegen würde. Aber Paul hatte schon damals gewusst, wie er es anstellen musste, um nicht erwischt zu werden.

Und dann war dieser verhängnisvolle letzte Abend gekommen. Es hatte eine Abschlussdisco gegeben. Die Mädchen hatten sich alle in Schale geworfen. Sie trugen Glitzershirts und hellrosa getönten Lippenpflegestift, um die gerade erworbene Skifahrerbräune zu betonen.

Die Disco war ein Raum ohne Fenster, aber mit Ghettoblaster. Und bei »Everything I do, I do it for you« von Bryan Adams hatte Paul mit Eva eng getanzt und ihr ins Ohr geflüstert, er würde heute zu ihr ins Zimmer kommen, aber allein und viel später. Und dann würde er es mit ihr tun.

»Nein«, hatte Eva erschrocken gesagt. War er deppert geworden? Am Skikurs in einem Raum mit allen anderen? Er hatte nur blöd gegrinst und die Augenbraue hochgezogen und noch mehr Cola getrunken, das die Klasse vorsorglich schon vorher mit Inländer Rum gespiked hatte. Und dann hatte er sie für den Rest des Abends ignoriert.

In der Nacht war Eva dann aufgewacht, weil sich das Stockbett rhythmisch bewegt hatte. Erst wusste sie nicht, was es war. Ein Erdbeben? Eine Lawine? Sie wollte schon das Licht anmachen.

Aber dann hörte sie unterdrücktes Stöhnen und da wusste sie, die Sandy unter ihr trieb es mit jemandem.

Es dauerte nicht lange, vielleicht zehn Minuten, aber Eva kam es vor wie eine Ewigkeit. Sie fand es furchtbar peinlich und verstörend, aber irgendwie auch spannend und erregend.

Dann stand der Bursche, der bei der Sandy im Bett gewesen war, auf. Eva sah, wie er sich aufrichtete und seine Trainingshose hochzog. Er hatte keine Schuhe an, nur Socken. So schlich er zurück zur Tür, und als er diese öffnete, um den Raum zu verlassen, fiel das Notlicht aus dem Gang auf sein Gesicht, und Eva sah, wer es war. Paul.

Eva weinte die ganze Nacht. Am nächsten Tag redete sie im Bus auf der Rückreise nach Eisenstadt kein Wort mit ihm. Paul redete interessanterweise auch kein Wort mit Sandy.

Eine Woche war absolute Funkstille zwischen Eva und Paul. Eva hätte ihn hassen sollen, aber stattdessen hatte sie das Gefühl, das alles wäre ihre Schuld gewesen. Es war passiert, weil sie zu unreif und ängstlich war und ihrem Freund nicht das geben konnte, was er brauchte. Sie wollte ihn nicht verlieren. Sie konnte ihn nicht verlieren. Sie brauchte ihn.

Am darauffolgenden Wochenende holte Paul sie am Samstag ab wie immer. Sie gingen in die Disco in Eisenstadt. Eva trank fünf Tequila auf ex, dann sagte sie ihm, sie fühlte sich nun reif für Sex.

Paul fuhr mit ihr in den Wald und entjungferte sie im Auto. Es tat weh. Eva hatte das Gefühl, dass sie sich ungeschickt anstellte. Und danach fragte sie sich, was alle anderen an Sex fanden. Aber von diesem Tag an waren Paul und sie offiziell zusammen.

Paul war der geborene Leader. Er forderte einfach ein, was er wollte, und auch wenn er bei manchen unbeliebt war, gelang es ihm, eine Illusion großer Popularität zu schaffen.

Schon mit zehn reagierte er auf Bemerkungen wie »Du bist nicht mehr mein Freund« nur mit einem lapidaren Schulterzucken und einem höhnischen Lachen: »Ist mir doch egal.«

Mit zwölf war er der König beim »Bluatfetzen«, einem Spiel, bei dem der eine Spieler versuchen muss, eine Münze in die Luft zu werfen und diese im Flug nach bestimmten Regeln zu fangen. Gelingt ihm das nicht, darf ihm der andere Spieler die Münze mit den Fingern gegen die Knöchel der geballten Faust schnippen. Und das wurde so lange gespielt, bis die Knöchel blutig waren.

Mit 14 zerdrückte Paul leere Bierdosen auf seiner Stirn und entdeckte den Alkohol und die Mädchen. Und diese entdeckten ihn. Vor allem die, die in den Mädchencliquen das Sagen hatten, rissen sich um ihn. Dabei basierten all diese Interaktionen auf einem gravierenden Irrtum. Alle Beteiligten verwechselten bei der Partnerwahl Popularität mit Beliebtheit. Beliebtheit drückt aus, wen man persönlich gern mag. Popularität hingegen drückt aus, was man denkt, wen die anderen am meisten mögen.

Mit 16 küsste er beim Flaschendrehen zufällig Eva. Danach schmuste er ein paarmal mit ihr. Sie war ihm vorher nicht wirklich aufgefallen, obwohl sie ausgesprochen hübsch war. Ihre Rolle in der Klasse war es, keine bestimmte Rolle zu haben. Sie war weder stark noch schwach, weder Mitläuferin noch Verteidigerin. Sie war in dieser ganzen mafiösen Gruppendynamik einfach neutral. Und sie war die Erste, die Paul mochte, weil sie ihn mochte und nicht, weil er populär war. Der Haken war nur: Paul mochte sich selbst nicht besonders, und er wusste nicht, ob er Eva für ihre Gefühle lieben oder verachten sollte.

Trauerarbeit
Akt 2

Die Menschen sagen, dass ein schneller Tod ein Geschenk ist. Aber er hätte nicht sterben sollen. Nicht er. Es gibt keine Gerechtigkeit. Ich will, dass er Krebs bekommt. Ich weiß, wie Krebs ist. Ich habe das alles schon einmal gesehen. Wie ein Krebskranker nach Luft schnappt, sich mit starken Schmerzen herumschleppt. Wie sich seine Lungen mit Wasser füllen. Wie der Bauch anschwillt. Wie sich die Augen gelb färben und die Haare ausgehen. Aber Krebs bekommen auch immer die Falschen. Wer Gerechtigkeit will, muss selbst dafür sorgen.

Kapitel 4
Johannas Kräuterstammtisch

In Asien gibt es Mönche und Nonnen, deren Philosophie es ist, niemandem wehzutun, auch nicht den kleinsten Wesen auf diesem Planeten, weder in Gedanken, Worten noch Taten. Die Anhänger des Jainismus tragen stets einen Mundschutz, damit sie nicht versehentlich Insekten verschlucken, und fahren mit Staubwedeln über den Boden, bevor sie diesen betreten, um keine Insekten zu zerquetschen.

Echtes Blau ist im Gartenreich schwer zu finden. Eine Tatsache, mit der sich auch Johanna plagte. In der Mitte ihres »blauen Beetes« thronte eine Bauernhortensie, die zwar hellblau aufblühte, aber dann immer wieder beharrlich in ein schmutziggraues Lila umschwenkte.

Johanna hatte schon mit allerlei Listen versucht, die Pflanze umzustimmen. Sie hatte rund um den Wurzelstock Alaun und rostige Nägel vergraben, Essig ins Gießwasser gegeben und die Staude mit Rhododendronerde angehäufelt. Mal hatte sie dabei mehr, mal weniger Erfolg. Aber erst wenn der Herbst kam und die Blüten zusehends grüner wurden, war das Ringen um die richtige Farbe vorbei, und Johanna war wieder versöhnt – bis zum nächsten Jahr.

Unberechenbar waren auch die Akeleien, die sich im blauen Beet selbst aussäten. Denn immer wieder schlich sich unter den blauen Akeleien eine rosafarbene ein, die, sobald sie Farbe bekannte, von Johanna an eine andere Stelle des Gartens verpflanzt wurde. Sie einfach auszurupfen und auf den Komposthaufen zu werfen, hätte sie nie übers Herz gebracht. Johanna liebte diese Feenblumen seit ihrer frühesten Kindheit.

Als Zehnjährige hatte sie sich immer in den Nachbarsgarten geschlichen. Ihre Eltern bezeichneten dieses Stück Land als verwildert, Johanna als verwunschen.

Der verwunschene Garten gehörte zu einem Wochenendhaus, das reichen Wienern gehörte, die nur zwei- bis dreimal im Jahr herunter in den Süden kamen und deshalb die Blumenschönheiten, die hier neben Giersch und Ackerwinden gediehen, nur selten zu Gesicht bekamen. Johanna genoss deren Anblick dafür umso mehr. Die Akeleien sahen genauso aus wie die Blumen in den Illustrationen in Johannas Märchenbüchern – glockenförmige Blüten, auf denen Feen und Waldgeister schaukelten. Johanna liebte die Akeleien der Nachbarn, und manchmal bildete sie sich sogar ein, eine Fee zu sehen. In ihren Träumen war sie die Herrin dieses Zaubergartens. Jetzt, 40 Jahre später, hatte sie ihr eigenes magisches Gartenreich geschaffen und genoss es. Jedenfalls solange sie an der richtigen Stelle Blau sah.

Eigentlich war Johanna nur an einer einzigen Pflanze gescheitert, und das war ausgerechnet die, wegen der sie das blaue Beet ursprünglich geplant und angelegt hatte: dem Rittersporn.

Die blaue Staude war fixer Bestandteil jedes englischen Cottagegartens. Aber der südburgenländische Lehmboden war anscheinend nicht das richtige Substrat für den Rittersporn.

Johanna war keine, die schnell aufgab, aber irgendwann musste auch sie erkennen, beim Gärtnern galt die Regel: Standort ist alles. »20 Jahre bin ich beim Versuch, Rittersporn im Südburgenland anzupflanzen, gescheitert«, erzählte sie gerne ihren Gartenbesuchern. Denn egal ob gekaufte Pflanzen, geschenkte Ableger oder Pflänzchen, die sie selbst aus Samenkörnern zog, bei Johanna mochte der Rittersporn einfach nicht sein. Nicht einmal die wunderschöne zierliche Wildform, die sie jahrelang von einer Freundin überreicht bekommen hatte, hatte im burgenländischen Lehmboden überlebt. »Jojo, des Südburgenland, dei Stroßn san aus Luam, owa dahuam is dahuam.«9 Die Strophe aus dem Mundartgedicht hätte passender nicht sein können.

Irgendwann hatte auch Johanna eingesehen, dass die Natur am längeren Ast saß, und ersetzte den Rittersporn durch den robusten, aber giftigen Eisenhut. »Der passt sowieso besser zu mir«, scherzte sie dann. Sie spielte auf ihren kräftigen Körperbau und ihre resolute Art an. Letztere legte sie aber nur an den Tag, wenn ihr jemand wirklich »blöd daherkam«.

Im Grunde ihres Herzens war Johanna ein gutmütiger und großherziger Mensch.

Wenn sie nicht in ihrem Garten anzutreffen war, war sie in ihrem Geschäft gleich nebenan. Das Geschäft war eine Mischung aus Bauernladen und Gemischtwarenhandlung. Johanna nahm sich den Luxus heraus, neben Brot, Fleisch, Milch, Eiern und Gemüse auch das zu verkaufen, was ihr selbst gefiel. Mit Pflanzenfarbe gefärbte Schafwolle und originelle Keksausstecher, handgebundene Rosshaarbesen, lokales buntes Keramikgeschirr, Tischtücher aus Bauernleinen und dazu jede Menge Kramuri.

Wäre Johannas Hofladen in der Stadt gewesen, wäre sie damit wahrscheinlich reich geworden, aber hier in dem 300-Seelen-Dorf waren die meisten Kunden Pensionisten, die kein Auto hatten, um in den nächstgelegenen Supermarkt zu fahren. Und der Bedarf der Alten an Geschirr, Besen und Keksausstechern war längst gedeckt. Sie kamen für einen Laib Brot oder einen Liter Milch oder einfach nur zum Tratschen. Johanna störte das nicht. Sie hatte sogar einen kleinen Tisch und ein paar grün lackierte Sessel neben die Budel gestellt, damit sich die Besucher zum Tratschen hinsetzen konnten. Denn zum Tratschen kamen sie alle.

Weil man im Südburgenland jeden Besucher bewirtet, stellte sie ihren Stammkunden auch immer eine Kanne mit Kaffee oder einen Tee aus selbstgepflückten Kräutern und eine Mehlspeise hin. Dafür verrechnete sie natürlich nichts. Eine Tatsache, die der Finanzbeamte aus Oberwart bei einer Kontrolle fassungslos zur Kenntnis genommen hatte. Erst hatte er ihr nicht geglaubt und wollte eine Gastgewerbekonzession sehen, dann hatte er geglaubt, sie wolle ihn bestechen, weil Johannas warmer gedeckter Mürbteigapfelkuchen gar so gut war. Aber die hatte ihn nur ausgelacht.

Die Umsätze in Johannas Hofladen hielten sich in bescheidenen Grenzen, aber sie fühlte sich trotzdem reich, auch wenn andere das nicht verstanden. »Man ist glücklich, wenn man ein bisschen mehr hat, als man braucht, und wenn man nicht so viel hat, muss man halt ein bisschen weniger brauchen«, war ihr Motto.

Obwohl sie nur wenig Geld zur Verfügung hatte, wusste sie mit Geschick und Beziehungen das Beste daraus zu machen. Die Möbel in ihrem Geschäft waren vom Flohmarkt, das Gewächshaus war aus alten Fenstern selbst gebaut, und auch die Wege durch ihren Garten hatte sie mit alten verwitterten Steinen selbst verlegt, dazwischen wuchsen Teppichthymian und Rasenkamille, die sie selbst ausgesät hatte. Und Gemüse pflanzte sie statt in teuren Hochbeeten in ausgedienten Badewannen. Samen und Ableger verschenkte sie genauso freigiebig, wie sie ihr Gartenwissen mit anderen teilte.

Soll ich meine Rosen im Frühling oder im Herbst schneiden? Was mache ich gegen die Blattläuse? Warum haben meine Birnen innen drinnen braune Flecken? Johanna hatte auf alles eine Antwort. »Du solltest einen Gartenstammtisch eröffnen«, hatte irgendwann einer ihrer Stammkunden gesagt. Und irgendwie hatte sie der Gedanke nicht losgelassen. Ein regelmäßiges Treffen mit interessierten Gleichgesinnten, bei dem man Wissen und Samen austauschen konnte, gemeinsame Gartenausflüge machte … Das klang wunderbar.

Am nächsten Tag war Johanna zu ihrem Onkel gegangen, der bei einer Druckerei arbeitete, und hatte Flyer drucken lassen und zum ersten Stammtisch des »Klubs der Grünen Daumen« eingeladen. Jetzt stand sie supernervös in ihrem Hofladen und flehte innerlich, dass zumindest irgendwer kommen würde.

*

Kreisverkehre, überall Kreisverkehre. Als Vera hier im Südburgenland in die Schule gegangen war, hatte es die noch nicht gegeben. Jetzt schien das ganze Landstraßennetz voll davon zu sein. Bis zu einer Million Euro kostet die Errichtung eines Kreisverkehrs, hatte Vera einmal gelesen. Eigentlich unglaublich, dass ein paar Quadratmeter Asphalt so teuer waren. Hier im Bezirk mussten mittlerweile zig Millionen in die Erde versenkt worden sein.

Es gab sogar einen zweispurigen Turbokreisverkehr vor dem Einkaufszentrum am Stadtrand. Aber der schien den Verkehr manchmal eher zum Stocken als zum Fließen zu bringen. Vera wäre fast auf das Auto eines Pensionisten aufgefahren, der nach der Einfahrt in das Rondeau scharf abbremste, statt turbomäßig die Kurve zu nehmen. Jetzt stand der Wagen des Mannes in der Mitte der beiden Fahrbahnen. Der Lenker blinkte verwirrt einmal links und einmal rechts. Andere Fahrzeuge begannen zu hupen. Vera hatte Mitleid mit dem alten Mann. Als dieser den Führerschein gemacht hatte, war der korrekte Spurwechsel in einem millionenteuren Turbokreisverkehr sicher noch kein Thema gewesen.

Sie war spät dran. Heute war dieser Gartenstammtisch in Johannas Hofladen, für den sie sich angemeldet hatte. Beim Betreten des Hofladens wusste Vera sofort, welche von den Frauen in der Gruppe Johanna war. Die kleine, stämmige Frau mit den rotbraunen Locken und den wachen grünen Augen strahlte einfach eine natürliche Kompetenz aus, die sie sofort als Hausherrin offenbarte.

»Entschuldigt bitte mein Zuspätkommen … der Verkehr.« Vera biss sich auf die Zunge. Durfte man auf dem Land den Verkehr als Ausrede verwenden oder klang das blöd? »Ich meine, der Kreisverkehr.« Okay, das klang jetzt noch blöder. Zum Glück ignorierten die anderen ihre Verlegenheit.

Sie nutzte die Begrüßungsrunde, die nun folgte, um die anwesenden Frauen ausgiebig zu mustern. Was für ein bunter Haufen. Johanna trug dunkelgrüne Gummistiefel und eine giftgrüne Tunika. Farben, die ihre roten Haare noch mehr zum Leuchten brachten.

Neben ihr stand eine große, schlaksige Frau, die sich als Isabella vorstellte.

»Sie ist Kräuterpädagogin und führt die Drogerie in Pinkafeld«, erklärte Johanna.

Vera wusste nicht, was eine Kräuterpädagogin war. Inwiefern brauchten Kräuter eine Erzieherin? Sie beschloss, das bei nächster Gelegenheit zu recherchieren.

»Mathilde«, sagte eine dritte Frau und reichte Vera die Hand. Sie sah aus wie eine Rockabilly Braut. Als sie Vera die Hand drückte, schob sich der Ärmel der Bluse hoch und gab den Blick auf ein Tattoo frei. Eine Blumengirlande.

»Mathilde ist Köchin im ›Kurfürstenhotel‹ in Bad Tatzmannsdorf«, sagte Johanna.

Vera wusste nicht, ob erwartet wurde, dass auch sie ihren Beruf erklärte. Und was sollte sie sagen? Das Erste, das ihr spontan einfiel, war: geschasste Journalistin mit Schneckenproblem. Während sie noch überlegte, betraten zwei ältere Damen den Laden. Es schienen Stammkundinnen zu sein, denn sie wurden von Johanna herzlich auf südburgenländisch begrüßt. »Jo schau, seids a scho do, kimmts eina und druckts eich glei an Kaffee owi.«10

»Das sind die Grete und die Mitzi.« Sie stellte die Anwesenden einander vor. Dahinter betrat Eva den Raum.

»Super, dass du auch gekommen bist.« Vera freute sich, Eva zu sehen.

»Nachdem wir jetzt vollzählig sind, können wir nun beginnen«, sagte Johanna, hakte auf einer Liste die Namen der Teilnehmerinnen ab und hob den Jahresmitgliedsbeitrag von je drei Euro pro Person ein.

»Das mit dem Klubbeitrag muss leider sein, damit mir der vom Finanzamt keine Probleme macht«, seufzte sie. »Der unterstellt mir ständig, dass ich hier schwarz ein Kaffeehaus führe, drum hab ich das Ganze jetzt gleich als Klub bei der Bezirkshauptmannschaft angemeldet. So hat alles seine Ordnung.«

Reich wird die mit unseren paar Euros eh nicht werden, dachte Vera. Aber um Reichtum schien es Johanna nicht zu gehen. Das erste Thema des Gartenstammtisches war sinnigerweise »Sparsam und nachhaltig Gärtnern«.

Handouts wurden ausgeteilt. Johannas Tipps reichten von Anzuchttöpfen aus Eierkartons und Klopapierrollen über Kaffeesatz als Dünger bis zum Bau einer Rankhilfe für Bohnen aus selbstgeflochtenen Weidenruten.

Jetzt weiß ich endlich, was ich mit den alten Eierkartons mache, die mir die Nachbarn ständig vor die Tür stellen, dachte Eva. Bei Tipp 5, der da lautete »Die Erde eines Maulwurfshügels im Backrohr sterilisieren und dann als Anzuchterde verwenden«, war sie sich hinsichtlich der Umsetzung nicht so sicher. Maulwurfserde im Dampfgarer. Sie wusste genau, wie Paul auf so etwas reagieren würde. »Jetzt bist echt ein Fall für die Psychiatrie«, würde er sagen.

Johanna begann mit ihrem Vortrag: »Am günstigsten fahrt ihr, wenn ihr mit dem Kreislauf der Natur gärtnert. Baut nur samenfeste Sorten an, keine Hybride, dann lasst ihr ein Fünftel der Ernte stehen, bis sie blüht, und gewinnt das Saatgut. Das klappt toll bei Salat, Mangold, Gurken, Tomaten. Bei Wurzelgemüse bilden sich Samen oft erst im zweiten Jahr. Samen von reifen Zucchini und Kürbissen kann man besonders leicht ernten, es dürfen nur keine ungenießbaren Zierkürbisse in der Nähe angebaut werden, denn die verkreuzen sich. Ansonsten kann das Kreuzen aber auch eine spannende Angelegenheit sein. Ihr bekommt über die Jahre eigene Hofsorten, die optimal an euren Standort angepasst sind. Bei Bohnen macht das besonders Spaß. Bunt, gescheckt, getupft, die Natur hat immer Überraschungen parat. Und wenn ihr Samentütchen zukauft, seid auf der Hut. Da gibt es enorme Unterschiede in Preis und Inhalt. In manchen sind gerade mal fünf Samen drinnen, in anderen das Doppelte und Dreifache. Ich schlage ohnehin vor, dass wir bei unserem nächsten Treffen einen Samentausch machen.«

»Saaaamentausch«, sagte Mathilde langgezogen. »Das klingt heiß!«

»Und aus den Blumensamen, die überbleiben, können wir dann Samenbomben basteln und das Burgenland zum Blühen bringen«, schlug eine der älteren Besucherinnen vor. »Der Ploberger hat letztens im Fernsehen erklärt, wie das geht. Man muss nur Samen mit Erde, Tonpulver und Wasser mischen und dann daraus Kugeln formen.«

Die Frau, von der dieser Vorschlag kam, hatte eine Kappe auf. Sie war sicher schon über 80, aber sie gab sich kriegerisch wie eine Guerillakämpferin.

Sie kam Vera bekannt vor. War das nicht die Malerin Grete Sobotka, die sich im Südburgenland ein Kellerstöckl gekauft hatte? In den 1980er Jahren hatte die Sobotka für die Hainburger Au demonstriert und sich an Bäume gekettet. Ihr Kampfgeist für die Natur war offenbar ungebrochen.

Samenbomben, keine schlechte Idee. Zum Beispiel, um die Grüninseln in den hässlichen Kreisverkehren zu bombardieren, dachte Vera, aber gemessen an der Anzahl würde es dafür wohl Tonnen von Blumensamen brauchen.

»Ich war ja früher beim hiesigen Verschönerungsverein, aber da bin ich ausgetreten, weil die wollen immer nur Muschkateln setzen«, sagte die Guerilla-Grete kämpferisch: »Die haben ja null Geschmack oder Sinn fürs Regionale. Dabei sind heimische Wiesenblumen so viel schöner als das künstliche importierte Zeug aus Holland.«

»Ich kann auch was beitragen«, sagte Mathilde: »Bei uns im Hotel bleiben immer jede Menge Plastikkübel von der Molkerei und leere Ölkanister über, die dann weggeschmissen werden. Ich kann die das nächste Mal mitbringen, wenn Bedarf besteht. Man kann darin Brennnesseljauche ansetzen oder sie zum Schneckenabsammeln nehmen.« Zustimmendes Gemurmel erfüllte den Raum.

»Kann ich euch fragen, was ihr gegen die Schnecken tut?«, fragte Vera.

»Jessas, dei Schnecka«11, seufzte die zweite ältere Frau namens Mitzi. »I woas no genau, wia da erste rote Schneck in Owawort eizogn is. Im 87er Johr wor deis. Dei san va Bocksdorf iwa Stegersbach zu uns aufikrallt. I bin hinteri in mein Goardn, der wos ban Boch glegn is, und do hots nur so gwurlt, olles vulla Schneckn. Mia hots so graust.«12

»Die Spanische Wegschnecke ist in den 80er Jahren über Gemüsetransporte in Österreich eingeschleppt worden«, ergänzte Johanna. »Angeblich waren sie gar nicht in den Kisteln selbst, sondern in den Hohlräumen der Radfelgen. Und weil die Schnecken hier keine natürlichen Feinde haben, haben sie sich rasend schnell vermehrt und sind bis heute ein Riesenproblem.«

»Die Leit hom dann olle iahnere Gärtn gschliffen wegn dei Schneck, wals iahna olles ogfressn hom, und dann is a die Zeit kummen, wos olles in Supermoakt kaft hom«, bestätigte Mitzi.13

Johanna nickte. »Jetzt hat das Garteln und Selbstversorgen ein Comeback. Nur gegen die Schnecken gibt es noch immer keine Lösung. Indische Laufenten helfen, das sind die einzigen Vögel, die die bitteren Schnecken fressen, aber die brauchen einen Tümpel oder einen Bach und müssen vom Gemüse ferngehalten werden, weil sie das sonst auch fressen. Am besten ist, man versperrt den Schnecken einfach den Zugang zum Beet. Ich baue mein Gemüse zum Großteil in alten Badewannen an.«

Vera bedankte sich für die Antwort. Das Ganze klang logisch und war durchaus eine Überlegung wert, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wo man alte Badewannen auftreiben konnte.

»Ich würde jetzt gerne zum Thema ›natürlich Düngen‹ kommen«, sagte Johanna.

»I häng immer an Strumpf mit Hianamist in die Reign­tonne, so hob i glei a düngts Wossa«, sagte die Mitzi: »Friacha, oisa Junge, howi a immer die Rossäpfel aufklaum miassn, wenn d’ Ressa vabei san, owa heit hot jo kuana mehr Ressa im Dorf. Drum howi hiats d’Hiana, und eppa tua i ma a no a Goass ham.«14

»Tierischer Dünger ist eine super Sache, aber es ist auch schon viel gewonnen, wenn ihr anfangt, eure Küchenabfälle zu kompostieren«, riet Johanna. »Ich habe einen Experten von der Firma ›Inkaerde‹ eingeladen, der euch erklären wird, wie das richtig geht, er müsste gleich da sein. Will inzwischen wer einen Apfelfleck?«

Fliegender Themenwechsel vom Abfall zum Apfel. Aber alle griffen mit Appetit zu, und der Kuchen war ein Gedicht. »Könnte ich das Rezept haben?«, fragte Eva.

»Da gibt es kein Rezept, das macht man iwahaps«, sagte Johanna verwirrt. »Das ist einfach Mürbteig mit Apfelfülle.«

Vera lachte. Sie hatte während ihrer Zeit bei »Lust aufs Land« öfters genau diese Antwort von Bäckerinnen am Land bekommen. Frauen wie Johanna hatten das Backen einfach im Gefühl. Da wurde nichts gewogen oder gemessen.

Die Hofladentür ging auf. Ein junger Typ in Arbeitshosen und T-Shirt betrat den Raum.

»Ah, der Finz von der ›Inkaerde‹, grad haben wir über dich geredet«, sagte Johanna.

Der Finz sah nett aus. Normal, dachte Vera. Sie hatte sich bei dem Wort »Inkaerde« irgendwie einen exotischeren Repräsentanten erwartet. Jemanden im Poncho mit Panflöte. Sie musste selber über ihr blödes stereotypes Denken lachen.

Finz hatte einen Stoß Prospekte und mehrere Päckchen Erde mitgebracht.

Vera überlegte, ob sie seine Erläuterungen aufzeichnen oder mitschreiben sollte. Wäre sicher nicht schlecht. Aber das Ganze mit dem Smartphone zu machen, wirkte hier in diesem Rahmen ziemlich deplatziert.

»Hat wer einen Stift?«, fragte sie in die Runde und nahm die Rückseite eines Kassenbons, den sie in ihrer Handtasche fand, als Schmierzettel. Alle Anwesenden hatten geflochtene Weidenkörbe mit Notizblöcken und Stiften dabei. Hier war alles noch so angenehm analog.

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Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
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472 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783839270141
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