Читать книгу: «Wie wir töten, wie wir sterben (eBook)», страница 2

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»Okay, das hab ich hinterm Ohr. Sollte ich weitere Fragen haben –«

»Werde ich Ihnen ganz sicher nicht weiterhelfen können. Ich weiß nichts von Algerien und will davon auch nichts wissen. – Weidmannsheil!«

Von einer nahe gelegenen Kapelle drang Glockenklang herüber. Vanuzzi hörte Monty aufstehen, hörte, wie der die Zeitung in den Mülleimer warf. Dann sah er dem Briten hinterher, der schwerfällig in der Tiefe des Parks verschwand.

3

Es war Wochen her, seit er zuletzt die Sonne gesehen hatte. Was nicht nur an Vanuzzis verschobenem Tag-Nacht-Rhythmus lag. Rauch und Industrienebel breiteten sich so dicht über und in den Straßen von Essen aus, dass man kaum dreißig Meter weit sehen konnte. Angeblich hatte der Smog seit Herbstbeginn schon zwanzig Menschen getötet. Wo er wohnte, schien alles zu kulminieren: Wenn die Kokerei, die nur wenige Straßen weiter lag, Koks drückte, hüllten riesige Rauchschwaden das Haus ein. Von Chicago war er so einiges gewöhnt, aber das hatte ihn doch nicht auf das Leben im Ruhrgebiet vorbereitet.

Sélestat hatte einen Treffpunkt in Köln gewählt. Im piefigen katholischen Bonn wäre um dreiundzwanzig Uhr wahrscheinlich auch nichts mehr offen gewesen. Chez René, der Name ließ auf nichts Gutes schließen. Von außen sah er verrammelt aus, zwei kleine Fenster an der Vorderfront waren so abgeklebt, dass man nicht hineinsehen konnte. Vanuzzi rechnete mit einem Gorilla als Einlasskontrolle. Er atmete vorsorglich tief durch, um nicht gleich zu explodieren; er konnte es auf den Tod nicht ausstehen, von Männern betatscht zu werden. Doch zu seiner Überraschung betrat er den Laden ohne Musterung.

Nikotinschwaden und Musik. Vanuzzi erreichte eine Plattform oberhalb einer kleinen Treppe, die ins eigentliche Lokal führte. Es war schwach beleuchtet und gut gefüllt, vorwiegend Männer in Anzug und Krawatte, wahrscheinlich Geschäftsleute, die für ein paar Stunden vergessen wollten, dass sie seit zwanzig Jahren verheiratet waren. Rechts befand sich eine kleine Bühne, auf der sich eine junge Frau in Schulmädchenuniform mit einem Teddybär in der Hand zu rauchigen Saxophonklängen bewegte. Vanuzzi verdrehte die Augen. Wahnsinnig originell! Früher oder später landete man bei jedem Fall in einem Nachtclub und wurde vom Barmann oder den Mädchen ausgenommen. Er hatte nur zehn Mark bei sich, sein letztes Geld, dafür bekam man hier vermutlich gerade mal ein Glas Leitungswasser. Ohne Eis.

Vanuzzi suchte von seiner erhöhten Position das Publikum nach einem bekannten Gesicht ab, fand keines, ging die Treppe hinab und sah noch einmal in jede Nische. Er schlenderte zum Tresen. Der Barmann, kräftig, mit Schnurrbart und mehr als einmal gebrochener Nase, musterte ihn von oben bis unten mit abschätzigem Blick.

»Was darf’s sein?«

»Ich warte auf jemanden.«

»Sie müssen etwas bestellen.«

»Ich warte auf jemanden.«

»Sie müssen –«

»Kölsch.«

»Gibt’s hier nicht.«

»Irgendein Bier. Klein. Hell.«

Der Barmann griff nach einem Gläschen und drehte sich zum Zapfhahn. Vanuzzi sah zur Bühne hinüber. Das Mädchen war beim letzten Knopf ihrer Bluse angekommen. In dem Tempo würde es wahrscheinlich zwei Stunden dauern, bis sie endlich nackt abtreten konnte.

Das Bier war eiskalt. Vanuzzi nahm lediglich einen winzigen Schluck, doch er genügte, das Gesöff um die Hälfte zu verringern. Als er sich wieder zur Treppe umdrehte, sah er den Franzosen auf der Plattform, neben ihm einen zweiten Mann. Er war größer als Sélestat, ein paar Jahre älter, der Kopf schien direkt in den Oberkörper überzugehen, Halbglatze, hervorstehende Augenwülste, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Da kommt der Pudel mit seinem Rottweiler, dachte Vanuzzi.

Sélestat hatte ihn gesehen, trat direkt auf ihn zu.

»Vanuzzi! Was macht Ihre Deckung?«

»Monty grüßt zurück.«

»Dann freue ich mich, Sie in unserem Team begrüßen zu dürfen. Obwohl Sie eher Einzelgänger sind. – Das ist mein Mitarbeiter, sein Name ist Faucon.«

»Faucon. Aber natürlich.«

Wo in Frankreich lag dieses Kaff nun wieder?

»Monsieur Faucon spricht ein wenig Deutsch, er war nach dem Krieg hier stationiert … er kann uns verstehen, wenn wir langsam schwetze.«

Schwetze? Vanuzzi sprach die deutsche Sprache jetzt schon so lange, er hatte längst begonnen, in ihr zu denken, in ihr zu träumen, Selbstgespräche in ihr zu führen. Und doch überraschte sie ihn immer wieder.

Sélestat machte Zeichen, ihm zu folgen. Er steuerte eine kleine, etwas abseits vom Geschehen befindliche Nische an, die gerade frei geworden war. Der Franzose bestellte Rotwein, Vanuzzi knurrte, dass er sich als eingeladen betrachte. Faucons Augenschlitze wurden schmaler, doch Sélestat lachte.

»Naturellement.«

»Erzählen Sie!«

»Gleich zur Sache, das ist gut. – Was wissen Sie über Algerien, Vanuzzi?«

»Nur, dass ihr Franzosen da seit sieben Jahren Krieg führt.«

Sélestat sah ihn mit kritischem Blick an.

»Das ist kein Krieg! Ein Krieg kann nur zwischen souveränen Staaten geführt werden. Algerien ist seit vielen Jahren fester Bestandteil des französischen Mutterlands. Genau wie die Bretagne.«

»Allerdings treten euch die Bretonen nicht in die Eier.«

»Weil die Bretonen zivilisiert sind im Gegensatz zu den Arabern. Wir haben es lange mit Vernunft probiert. Der Entwicklungsschub, den Algerien durch unsere Kolonisierung bekommen hat, ist superb. Wir haben ihnen Recht und Ordnung, Bildung und Kultur gebracht, und alles, was wir dafür bekommen, ist Terror und Gewalt.«

»Na, ein bisschen wird es sich für euch gelohnt haben, sonst wärt ihr längst raus.«

»Mir gefällt dein Gequatsche nicht, Vanizzi!«, dröhnte Faucons Bassstimme dazwischen.

»Der Name ist ›Vanuzzi‹. Und für das Gequatsche kann ich nichts. Ich bin aus Chicago, da redet man so.«

Er sah, wie Sélestat dem Rottweiler einen herrischen Blick zusandte, dann sprach der Pudel weiter.

»Jedenfalls haben auch die Sozialisten vor einiger Zeit verstanden, dass unsere zivilisatorische Mission scheitern wird, wenn wir den algerischen Terrorismus nicht mit Stumpf und Stiel ausrotten. Also musste die Armee ins Land. Sie setzt die Polizeiarbeit fort – mit den Methoden, die der FLN versteht.«

»Und was für Methoden sind das?«

»Informationsgewinnung. Aktionen und Strategien des FLN vorwegnehmen.«

»Folter.«

»Unsere Leute foltern nur, wenn Eile geboten ist. Wenn ein Anschlag droht, wenn ein Menschenleben gegen zwanzig zählt. Wenn wir uns weigern, einen Schuldigen zu foltern und dadurch den Tod eines Unschuldigen verhindern – wie sollen wir den Eltern des Getöteten in die Augen schauen?! – Sie waren im Krieg, Vanuzzi, wenn Ihre Jungs auf SS-Leute getroffen sind, haben Sie sie auch nicht zum Kaffee eingeladen.«

»Kaffee war meist aus.«

»Mir gefällt auch deine Visage nicht, Vanizzi!«

Diesmal reagierte auch Sélestat genervt.

»Wenn Sie das nicht verstehen«, sagte Sélestat in schärferem Ton, »dann verstehen Sie hoffentlich die Worte Ihres ehemaligen Präsidenten Theodore Roosevelt: Kolonialkonflikte sind immer unbarmherzige Rassenkriege, die außerhalb der Regeln der internationalen Moral stehen. Die völkerrechtlichen Vereinbarungen zur Kriegsführung besitzen keine Gültigkeit, weil der Gegner als unzivilisierter Barbar die Regeln der zivilisierten Kriegsführung gar nicht kapiert

»Good old Teddy! Ist allerdings ein bisschen her, dass er das sagte.«

»Ich stamme aus dem Elsass. Als es 1871 an die Deutschen ging, hat sich ein Teil meiner Familie in Algerien ein neues Leben aufgebaut. Sie haben das Land rechtmäßig erworben, sie haben geschuftet und die Gegend urbar gemacht. Für die Araber war es Wüste, aber heute, wo es gutes Land ist, wollen sie es zurückhaben … ich war oft zu Besuch, ich kenne die Verhältnisse. Glauben Sie mir, Vanuzzi: Die Araber sind nichts als eine dreckige Rasse! Unser Fehler war von Anfang an, dass wir sie wie Menschen behandelt haben. Sie taugen nichts. Du kannst ihnen nicht vertrauen. Sie widersetzen sich jeglichem sozialen Fortschritt. Und wenn wir ihnen etwas beibringen, dient es nur dazu, uns übers Ohr zu hauen.«

Vanuzzi verbiss sich einen Kommentar. Obwohl ihm die Worte bekannt vorkamen – als Jude hatte er sie mehr als einmal gehört, nur waren immer er und seine Glaubensbrüder damit gemeint gewesen.

Sélestat kippte den letzten Schluck Rotwein, der sich in seinem Glas befand, schenkte sich und den anderen nach und sagte dann: »Vielleicht haben Sie davon gehört, dass de Gaulle kürzlich über ein Referendum zur Unabhängigkeit Algeriens abstimmen ließ. Meine Familie da unten fühlt sich von ihm verraten und verkauft. Und ich kann sie verstehen. Weil wir den Sieg schon vor Augen hatten.«

»Ist das so?«

»Wenn de Gaulle den Terroristen nicht permanent Zugeständnisse gemacht hätte, wäre Algerien längst befriedet. Noch ist es nicht zu spät. Auf keinen Fall dürfen wir das Land herschenken, wie wir Indochina hergeschenkt haben, sonst wären all die jungen Soldaten dort sinnlos gefallen. – Aber es geht dabei nicht nur um Frankreich.«

»Sondern?«

»Um den Einfluss der Kommunisten in der Region. Wenn Algerien dem FLN in die Hände fällt, wird ganz Nordafrika kommunistisch. Wenn Nordafrika kommunistisch ist, nehmen die Sowjets Europa von zwei Seiten in die Zange. Nasser, der Staatspräsident von Ägypten, ist schon Moskaus Schoßhündchen. Er heizt den Konflikt in Algerien an. Unsere Jungs führen einen Krieg für die ganze freie Welt!«

»Ich dachte, es ist gar kein Krieg.«

»Eigentlich gefällt mir an dir gar nichts, Vanizzi.«

»Mach Männchen!«

»Was hast du gesagt?«

Faucon war hochgeschnellt, sah Vanuzzi drohend an. Trotz ihrer Randposition im Raum hatten sich einige Köpfe zu ihnen umgedreht.

»Wollt ihr beiden vielleicht mal vor die Tür?«

Sélestat sah abwechselnd von Vanuzzi zu Faucon. Der zischte ein paar französische Worte zwischen den Zähnen, zog seinen Mantel über und verließ den Club.

»Sie sollten vorsichtig sein, Vanuzzi. Faucon ist ein besserer Kämpfer als Sie. Im Krieg hat er deutschen Soldaten mit bloßer Hand den Garaus gemacht.«

»Schon gut, Sélestat, wir haben alle unsere Heldengeschichten aus dem Krieg. Zu den Fakten: Um wen geht es?«

Sélestat zog ein maschinengeschriebenes Blatt und ein Foto hervor, auf dem zwei Männer in Sonntagsgarderobe posierten. Der Ältere mit Vollbart, gut aussehender Südländer mit melancholischem Blick, der Jüngere mit eng stehenden Augen, kleiner Nase, auf der Stirn ein liegendes Dreieck aus Muttermalen.

»Das sind die beiden: Youssef Ben Kemali und Saïd Djefel. Schon mal gehört?«

»Nein, woher denn?«

»Würden Sie etwas mehr als den Sportteil in der Zeitung lesen, wären Ihnen die Namen ein Begriff.«

»Mehr als den Sportteil, muss ich mir aufschreiben. – Warum sind sie in der BRD untergetaucht?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob Sie das wissen müssen.«

»Ich bin mir sehr sicher, dass ich das wissen muss.«

»Also gut. Seit drei Jahren ist Charles de Gaulle Ministerpräsident. Für die meisten Franzosen ist er ein Kriegsheld. Er hat den Arabern Honig ums Maul geschmiert, daraufhin sind viele von ihnen in sein Lager abgewandert, weil sie dem FLN nicht mehr zugetraut haben, das Land in die Unabhängigkeit zu führen. Der FLN musste reagieren, also hat er Algerien für unabhängig erklärt.«

»Algerien ist unabhängig?«

»Wäre ja noch schöner! Außer Ägypten und ein paar anderen arabischen Staaten hat niemand diese Farce anerkannt. Aber um das Ganze offiziell zu machen, hat der FLN ein Schattenkabinett präsentiert, künftige Regierungsleute, Männer in Anzügen. Um der Welt zu signalisieren, dass man keine Verbrecherbande ist.«

»Djefel und Ben Kemali waren Teil des Schattenkabinetts.«

»Nur Ben Kemali. Djefel ist sein Mitarbeiter.«

»Um zu erfahren, was diese Regierung plant, würden Sie sie gern mal in die Mangel nehmen, klar. Aber was machen die in der BRD?«

»Sind hier abgetaucht. Weil sie, wie alle von der ALN, Kriegsverbrecher sind, und Deutschland selten ausliefert.«

Als er Vanuzzis fragenden Blick sah, schob Sélestat hinterher: »Armée de libération nationale, der bewaffnete Arm des FLN. Wissen Sie, was die mit gefangenen französischen Soldaten machen? Sie stechen ihnen die Augen aus. Wenn sie ihre Messer nicht schmutzig machen wollen, nehmen sie Schraubenzieher. Dann schlagen sie die Hände ab. Am Ende ziehen sie ihnen die Axt über den Schädel und lassen die Leichen liegen, als Abschreckung für andere.«

»Ich verstehe.«

»Tun Sie das, Vanuzzi? Tun Sie das wirklich …? Ich habe im letzten Krieg manches gesehen: die Nazis in Dünkirchen, die Ruinen von Oradour … aber so etwas habe ich nicht erlebt. Denken Sie an die Worte Ihres Präsidenten: Unzivilisierte Barbaren kapieren –«

»Weshalb ich? Mit dem SDECE hatte ich noch nie zu tun.«

»Wir brauchen jemanden, der nicht direkt mit uns in Verbindung gebracht werden kann. Unsere Leute haben in der BRD schon einmal viel Wind gemacht, das ist noch nicht lange her. Diesmal will man im Élysée-Palast keine Demarche der westdeutschen Regierung riskieren. Die Beziehungen unserer Länder sind zarte Pflänzchen … außerdem könnten uns die Deutschen bei den Amis verpetzen, weil wir alliierte Statuten verletzen.«

»Ich arbeite auf eigene Rechnung, also deutet nichts Richtung Paris, okay. Aber warum muss ich Ben Kemali und Djefel in Frankreich übergeben, und nicht hier?«

»Weil wir dann sagen können, dass wir sie bei uns geschnappt haben. In Frankreich liegen Haftbefehle gegen sie vor.«

Vanuzzi grinste. Auch wenn er Sélestat etwas suspekt und Faucon zum Kotzen fand, hatte die Sache begonnen, sein Jagdfieber zu wecken. »Wo soll ich ansetzen?«

»Was ich Ihnen gegeben habe, ist alles, was Sie von uns erwarten können.«

»Das ist nicht besonders viel. Die BRD ist zwar nicht groß, aber groß genug, um …«

»Muss ich Ihnen Ihre Arbeit erklären? Oder habe ich mich nicht klar ausgedrückt? Die Crémerie weiß von nichts. Wir haben uns nie gesehen, wir haben nie miteinander gesprochen. Das ist Ihr Job, Vanuzzi. Machen Sie was Schönes draus!« Sélestat stand auf, legte einen Zettel über die Vorgehensweise zur Kontaktaufnahme, einen Briefumschlag mit einer Anzahlung und einen Hundertmarkschein für die Bedienung auf den Tisch. Dann ging er ohne zu grüßen zum Ausgang.

Vanuzzi überschlug Sélestats Geld, tauschte den Hunderter gegen einen Fünfziger aus dem Umschlag und bezahlte. Als er einen letzten Blick zur Bühne warf, war dort gerade ein neues Mädchen damit beschäftigt, sich umständlich ihres Mieders zu entledigen.

Vanuzzi trat hinaus in die Nacht und atmete die Luft tief ein. Sie roch nach Chrysanthemen, verbranntem Holz und frischem Teer.

4

Vor fünf Jahren waren Vanuzzi und Ödön mit brisanten Unterlagen für den MI6 aus dem brennenden Ungarn entkommen. Danach mussten sie sich eine neue Heimatbasis schaffen. Ödön war schon nach zwei Wochen krank vor Heimweh. Er hing Tag und Nacht vor dem Radio, las jede Zeitung, die ihm unter die Finger kam, immer in der Hoffnung, irgendwann doch gute Nachrichten aus Budapest zu finden. Vergeblich. Die Sowjets zertraten den revolutionären Widerstand im Land und zementierten ihre Herrschaft. Vanuzzi nahm Ödön das Radio weg und sorgte dafür, dass er keine Zeitungen mehr zu Gesicht bekam. Der junge Mann hatte immer mehr Gewicht verloren, drohte zugleich, apathisch zu werden. Dennoch drängte er darauf, in Österreich zu bleiben, wohin sie zunächst geflohen waren. Falls die Revolution in Ungarn eines Tages einen zweiten Anlauf nehmen würde, wäre Ödön schneller wieder in seinem Heimatland gewesen. Doch Vanuzzi hatte ihm klargemacht, dass Österreich, seiner Neutralität wegen, für Agenten uninteressant geworden war: »Wenn du Kühlschränke verkaufen willst, ziehst du auch nicht an den Nordpol!« Und da Ödön in ihm immer noch so etwas wie seinen »Ausbilder«, wahrscheinlich auch einen Ersatzvater sah, war er ihm 1957 widerwillig in die BRD gefolgt. Für Leute wie Vanuzzi der europäische Hotspot. Der MI6 hatte dafür gesorgt, dass sie problemlos Papiere bekommen hatten. Kurzzeitig hatte er darüber nachgedacht, nach Westberlin zu gehen … spätestens heute war er froh, sich dagegen entschieden zu haben. Es war keine drei Monate her, dass die DDR begonnen hatte, die Stadt mit einer Mauer, Sperranlagen und Todesstreifen abzuriegeln. Beinahe jeden Tag hörte Vanuzzi von Republikflüchtlingen, die erschossen worden waren, und am Checkpoint Charlie hatten sich schussbereite amerikanische und sowjetische Panzer gegenübergestanden. Westberlin war eine Insel geworden, vielleicht sogar eine tödliche Falle.

Monty Hanson, der 1957 frisch in Bonn akkreditiert war, hatte Vanuzzi damals vorgeschlagen, in seiner Nähe zu bleiben. Im großbürgerlichen Bonn hatten sich Vanuzzi und Ödön allerdings keine Wohnung leisten können, deshalb waren sie nach Köln ausgewichen und in einem Ledigenheim untergekommen. Hatten sich das Zimmer mit zwei weiteren Ungarn-Flüchtlingen geteilt. Das ganze Jahr über mussten sie ihre Lebensmittel in Zeitungen verpacken und auf den äußeren Fensterbänken lagern, weil es keine andere Möglichkeit gab, sie zu kühlen. »So viel zum Thema Kühlschränke verkaufen«, hatte Ödön gemurrt. Doch wenigstens hatte er wieder ein wenig Gewicht zugelegt.

Anfangs schien das Ledigenheim für Vanuzzi die perfekte Tarnung, auch wenn er alles, was nicht zu dieser Camouflage passte, in einem Bankschließfach verstecken musste. Nach zwei Jahren wurde er nachlässiger, begann, seine Waffe in seine Nachttischschublade zu legen und diese nicht immer abzuschließen. Als einer ihrer Zimmerkameraden offenbar auf der Suche nach Geld war, stieß er zufällig auf die Pistole. Am selben Abend nahm er Vanuzzi beiseite und sagte ihm, dass ein Ungar schweige wie ein Grab, aber nur, wenn man von Zeit zu Zeit ein paar Mark aufs Grab lege. Der verblüffte Vanuzzi ließ sich zunächst darauf ein, bis die Forderungen immer unverschämter wurden. Ödön, der einen Job als Schreinergehilfe in Köln gefunden hatte, blieb im Ledigenheim, und Vanuzzi, dem der MI6 eine winzige Wohnung beschafft hatte, packte seine Siebensachen und zog weiter. Seitdem lebte er in Essen, konnte in der Masse der italienischen Gastarbeiter untertauchen, ein Gesicht unter vielen in einer Stadt mit über siebenhunderttausend Einwohnern.

Die ihm manchmal, besonders an den Wochenenden, im Vergleich zu Chicago vorkam wie ein Dorf, das aus den Nähten geplatzt war. Und über dem stets der Geruch von faulen Eiern lag.

Vanuzzi hatte sich die Dossiers seiner Zielpersonen durchgelesen. Sie waren knapp gehalten. Beide wurden vom SDECE für ein Massaker in der Nähe des Ouarsenis-Gebirgsmassivs verantwortlich gemacht, bei dem mehr als dreihundert französische Soldaten bestialisch getötet worden waren. Ben Kemali hatte Englisch und Rechtswissenschaft studiert. Er war Anfang vierzig, hatte Frau und zwei Kinder. Djefel war zehn Jahre jünger, ohne eigene Familie. In Algerien schien er so etwas wie Ben Kemalis rechte Hand gewesen zu sein. Sie waren gebildet, hatten sich beim FLN schnell einen Namen gemacht und waren in der Hierarchie aufgestiegen. Seit Frankreich den Krieg in Algerien verschärfte, waren immer mehr hochrangige FLN-Leute festgenommen worden. Ben Kemali und Djefel schien die Flucht in letzter Minute gelungen zu sein. Immerhin hatte der SDECE die Stationen, die sie über Italien und die Schweiz genommen hatten, nachverfolgen können, bis sich in der BRD ihre Spuren verloren. Man ging davon aus, dass sie irgendwo in Nordrhein-Westfalen untergekommen waren, weil hier die algerische Gemeinschaft am größten war. Dennoch, das war immer noch viel zu wenig. Vanuzzi hatte nicht einen echten Anhaltspunkt. Und Monty hatte nur zu deutlich gemacht, dass er ihm nicht helfen würde. Also musste er damit beginnen, ganz kleine Brötchen zu backen.

Sein Boxclub lag im finsteren Hinterhof eines finsteren Viertels im finsteren Norden der Stadt. Es war bereits dunkel, als sich Vanuzzi dorthin aufmachte. An einem nahegelegenen Förderturm waren wie jeden Abend die Lichter angegangen, der Dampf der Kühlanlagen quoll in weißlichem Grau empor, bis er sich in der Schwärze des nächtlichen Himmels verlor.

Beim Betreten des Clubs schlug ihm der Geruch von alten Socken entgegen, von Kohl, Mäusekot und Männern, die einmal in der Woche baden. Vanuzzi atmete nur oberflächlich ein und aus.

Immerhin standen die Chancen gut, dass »Die Taube« heute trainierte. Die Taube war der mit Abstand beste Halbschwergewichtler aus ihren Reihen, auch wenn er den Sprung zur Professionalisierung nicht geschafft hatte und als Anfangsdreißiger auch nicht mehr schaffen würde. Trotz seiner Größe von fast eins achtzig war er Gedingehauer (was auch immer das sein mochte) auf Zeche Fritz-Heinrich. Vor allem aber stammte sein Vater aus Algerien.

Die Taube bearbeitete gerade den Sandsack. Vanuzzi trat näher, sah ihm dabei zu. Die Augenlider des Boxers waren entzündet, den Kohlestaub bekam er nie ganz aus ihnen heraus. Er ließ seine braunen Augen noch dunkler erscheinen. Schwarzhaarig, gutaussehend wie ein Filmstar, ein drahtiger Typ, der nahezu unendliche Kondition hatte. Eigentlich hieß er Alexander – die deutsche Mutter hatte sich bei der Namenswahl durchgesetzt. Doch weil er, wie viele, die unter Tage arbeiten, Tauben züchtete, nannten sie ihn hier nur: Die Taube.

Mit einer mächtigen rechten Geraden beendete er den Trainingsabschnitt, fing den Sandsack mit seinen Handschuhen ab und sagte: »Danny, schon gehört: guter Kampf in Hamburch.«

Vanuzzi winkte ab.

»Denkt, er hat mich nach zwei Runden am Boden. Riesenbaby mit Glaskinn.«

Die Taube lachte. Vanuzzi zeigte ihm das Foto der beiden Algerier.

»Schon mal gesehen?«

Die Taube blickte flüchtig auf das Bild.

»Freunde von dir?«

»Könnte man so sagen. Vor allem schulden sie mir Geld für mein Auto, die Beule repariert sich nicht von selbst.«

Die Taube nickte. Er begann, sich für die Arbeit am Punchingball vorzubereiten.

»Und dat Fotto hasse vor oder nachen Unfall gemacht?«

Statt einer Antwort grinste Vanuzzi.

»Nie gesehn, Danny.«

»Wo trifft sich dein alter Herr mit seinen Landsleuten?«

»In Köln. Am Hansaring gibbet ein Café. Irgendwat mit L … Lessner … Lessing … Lessmann! Der Pächter is von Tunesien.«

Vanuzzi steckte das Foto wieder ein und sah der Taube einen Moment bei den Speed-Bag-Punches zu. Dann machte er sich auf den Weg nach Köln.

Als er kurz nach zwanzig Uhr dort ankam, schloss das Café gerade. Die letzten Gäste standen in Grüppchen, unterhielten sich auf Arabisch. Vanuzzi beschloss, bei seiner Geschichte der Fahrerflucht zu bleiben, auch wenn es nicht allzu wahrscheinlich war, dass die Männer einen der Ihren in die Pfanne hauen würden. Immerhin würde er in ihren Augen sehen, wenn sie jemanden erkannten, dann könnte er sie sich anderswo in Ruhe vornehmen. Doch nachdem die Männer Vanuzzis Gruß freundlich erwidert hatten, verhärteten sich ihre Mienen, als er das Foto und seine Geschichte präsentierte. Die meisten sahen gar nicht hin, und die, die hinsahen, schüttelten die Köpfe. Innerhalb weniger Minuten strebten die Grüppchen auseinander, Vanuzzi stand unentschlossen – sollte er auf den Wirt warten? Aber vielleicht wohnte der im Haus, und er würde sich hier in der Kälte nur die Beine in den Leib stehen. Blöde Idee! Vanuzzi machte sich auf den Weg, dachte über das weitere Vorgehen nach. Wenn die Algerier schwiegen und die Franzosen und Briten ihm nicht weiterhelfen würden, musste er es wohl oder übel bei seinen ehemaligen Landsleuten versuchen.

Er hatte ein wenig straßab geparkt, musste die Ringstraße überqueren. Der Verkehr war überschaubar, und Vanuzzi ließ sich Zeit. Doch als er die Straßenmitte gerade erreicht hatte, hörte er einen Wagen beschleunigen. Er drehte sich dem Geräusch zu und sah, wie das Auto, das ohne Licht fuhr, direkt auf ihn zuhielt. Er trat einen Sprint an, ein Motor jaulte drohend, dann blitzte der Kühlergrill direkt neben ihm auf. Vanuzzi hechtete auf den Bürgersteig, der Wagen schlingerte, fing sich wieder und jagte in irrem Tempo in westlicher Richtung davon. Er hatte ihn nur um wenige Zentimeter verfehlt. Kennzeichen: Fehlanzeige, auch Automarke und Farbe hatte er nicht erkannt, geschweige denn den Fahrer.

Als das Adrenalin abzuflauen begann, richtete sich Vanuzzi mühsam auf. Seine Hüfte schmerzte, wahrscheinlich geprellt, Schürfwunden an den Händen, sonst war er unverletzt. Entweder machte in Köln ein geisteskrankes Arschloch Jagd auf Fußgänger – oder seine neuen algerischen Freunde mochten es überhaupt nicht, wenn jemand Fragen nach einem der Ihren stellte. Es war nicht viel mehr als eine Warnung. Wenn ihn das Auto wirklich erwischen hätte wollen, hätte er keine Chance gehabt!

Das Glas seiner Armbanduhr war gesplittert, aber das Uhrwerk war nach dem Hechtsprung nicht stehengeblieben. Sie zeigte 20.27 Uhr. Wenn er sich beeilte, konnte er es in einer halben Stunde schaffen. Vor 21.30 Uhr ging sein Mann nie heim, Vanuzzi wusste, dass der sicher sein wollte, dass die Kinder bereits im Bett waren, bevor er zu Hause ankam.

Vanuzzi lenkte den Wagen Richtung Autobahn, dann gab er Vollgas bis zum Bonner Verteilerkreuz. Es war 21.05 Uhr, als er an Schloss Deichmannsaue in Bad Godesberg ankam.

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