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Tödliche Kunst

Am Tag nach dem Mord: 11. Januar 2019

»Die Familie Winterberg 1944«, sagte Niedermann und deutete auf den leeren Rahmen. »Jemand hat das Bild aus dem Rahmen geschnitten. Sehr grob!« Der Direktor schien körperliche Qualen zu leiden beim Gedanken, dass der Täter mit einem Messer die Leinwand verletzt hatte.

»Ein Kunstraub also?« Hutter kannte sich nur mit Bildern von Tatorten aus und nicht mit solchen, die an Wänden hingen. »Käumlich«, entgegnete der Fachmann mit Blick auf den goldenen Rahmen, der ohne Bild jämmerlich protzig aussah. »Stammt aus Privatbesitz. Die Familie Winterberg. Sie verstehen?« Hutter verstand. Robert Winterberg war eine der schillerndsten Figuren auf der Schweizer Seite des Bodensees: Besitzer der gleichnamigen Brauerei, Präsident und großzügiger Sponsor des FC Kreuzlingen, der dank Winterbergs Zuschüssen knapp vor dem Aufstieg in die zweithöchste Fußball-Liga stand. Zusätzlichen Glanz verlieh ihm Christina Winterberg, seine zweite Frau, ein ehemaliges Fotomodell, die mehr aus Langeweile denn aus Überzeugung seit Jahren als Mäzenin verschiedener karitativer Einrichtungen wirkte. Ansonsten, wie es in ihrer alten Heimat hieß: Bella Figura.

»Eigentlich völlig wertlos, außer für die Familie selber, aus sentimentalen Gründen«, erklärte Niedermann.

»Ja aber warum stiehlt denn einer so was?« Hutter kratzte sich an der freien Stelle am Hinterkopf, deren Ausbreitung auch diverse Haarwuchsmittel nicht aufhalten konnten.

Darauf hatte der Museumsdirektor eine kreative Antwort: »Bestimmt nicht wegen des Werts des Bildes. Aber vielleicht als Packmaterial? Denn das zweite Exponat, das fehlt, ist ungleich wertvoller, um nicht zu sagen unbezahlbar.« Hutter fragte nicht nach. Er wartete, bis Niedermann von sich aus mit der Sprache rausrückte. »Ein Giacometti!« Der Museumsdirektor war sichtlich fassungslos: »Ein Riesenschaden. Unermesslich.«

Hutter tippte umständlich den Namen in sein iPad. Block und Bleistift waren ihm eigentlich sympathischer, aber er wollte vor den jungen Kollegen nicht als Ewiggestriger dastehen. »Vorname?«

»Ueli.«

»U-e-l-i G-i-a-c-o-m-e-t-t-i«, haute Hutter im Ein-Finger-System grob die Buchstaben ins Gerät.

»Neinein. Alberto! Alberto Giacometti«, korrigierte Niedermann. »Ich heiße Ueli.«

Hutter murrte vor sich hin. »Also Alberto. War der Italiener? Irgendwas mit Jesuskind?«

Niedermann blieb einen Moment sprachlos in Anbetracht von so viel Kunstignoranz. »Der war Schweizer, Herr Kommissar! Bündner, um genau zu sein. Ein Giacometti ist Millionen wert. Mindestens.« Niedermann riss die Augen weit auf, um die Aussage zusätzlich zu illustrieren. »Das Exponat hier war eine Büste aus Bronze.« Bronze? Gibt’s doch für einen dritten Platz, dachte Hutter, behielt es aber klugerweise für sich. »Also wurde das wertvolle Stück Metall möglicherweise in die Leinwand eingewickelt, um es beim Abtransport nicht zu beschädigen«, sagte der Direktor.

»Hmm. Das klingt logisch«, sagte Hutter, der seinen Sinn für Ordnung befriedigt sah.

Während die beiden Männer vor dem leeren Sockel und dem leeren Bilderrahmen standen, wurde die Leiche von Amélie Cohen fachmännisch entfernt. Niedermann wechselte deshalb das Thema: »Weiß man schon, wie? Weshalb?« Hutter schien mit den Gedanken wieder ganz woanders zu sein. »Die Frau Cohen! Amélie …«

»Ach so. Erschlagen, so wie’s aussieht. Von hinten auf den Kopf. Mit etwas Hartem. Vermutlich einem Stück Metall.« Nun wich die letzte Farbe aus Niedermanns Gesicht. Er schwankte zu einer der Bänke, die für Besucher bereitstanden, und setzte sich. Die Vorstellung war definitiv zu viel für ihn. »Ein Giacometti als Mordwaffe?«

Hier regiert der König

Acht Monate zuvor: 11. Mai 2018

Sanft schlugen die Wellen ans Ufer des Bodensees. Amélie Cohen und Robert Winterberg saßen in der Abendsonne auf der Terrasse des Restaurants Seehof. Beide stocherten lustlos im Fisch-Risotto. »Und wenn ich nicht bezahle?« Winterberg ließ seinen Blick unverfänglich über den See wandern.

»Das wäre sehr, sehr schade, aber kein Weltuntergang.« Amélie Cohen schaute Winterberg bestimmt in die Augen. »Dann sagen wir es ab. Dann muss der Niedermann halt was improvisieren.«

»Wie wär’s mit: ›Sonnenuntergänge im Wandel der Zeit‹?« Winterberg pickte die Fischstückchen heraus, Cohen schien es eher auf einzelne Reiskörner abgesehen zu haben. »Das ist viel Geld, auch für mich.« Nun fixierte Winterberg den Blick seines Gegenübers.

»Ich bitte Sie, Herr Winterberg.« Amélie versuchte ein Lächeln.

»Robert. Bitte! So weit waren wir doch schon einmal.«

»Also Robert …«

»Weißt du«, fiel er ihr ins Wort, »ich setze mein Geld gerne ein. Aber ich möchte einen gewissen Return on Investment sehen. Also mehr Geld. Oder meinen Spaß haben beim Ausgeben. Fällt dir dazu was ein?«

»Wozu?«

»Zu eins von beidem!« Winterberg tupfte sich die Lippen mit der weißen Stoffserviette ab und ließ seinen Blick erneut über die Weite des Sees schweifen.

Amélie Cohen tat so, als müsste sie nachdenken. »Return on Investment, R O I, Roi: wie König auf Französisch. Was will denn der König des Bodensees zurück? Gehört ihm nicht schon alles?«

Tatsächlich gehörte ihm auch der Seehof, wo sie zu Gast waren. Eines der besten Lokale weit und breit. Gebaut wurde das Haus am See kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Dann zerfiel es langsam, nach einer Reihe von schnellen Wirtewechseln, in den 1980er-Jahren. Knapp ein Jahr stand es sogar leer, bevor Winterberg es kaufte und für einen zweistelligen Millionenbetrag renovieren ließ. Dann suchte er sich einen der damals angesagtesten Spitzenköche. Seither florierte der Seehof. Es war ohne Zweifel ein kulinarisches wie auch wirtschaftliches Husarenstück.

Winterberg griff, um etwas Zeit zu gewinnen, zum Amarone, die Flasche zu 120 Franken, um nachzuschenken. Cohen hielt schnell die Hand über ihr fast leeres Glas. Winterberg schaute sie an. »Siehst du, liebe Amélie. Genau das meine ich.« Er hielt ihren Blick, bis sie langsam die Hand vom Glas nahm und Winterberg nachschenken durfte. Der ließ das süffige Rot provokativ langsam ins Glas laufen. Amélie Cohen schwieg und fixierte ihrerseits einen imaginären Punkt am Horizont. Winterberg genoss den Moment. »Meine Liebe: Ich denke, wir werden uns einig!«

Der König sitzt ein

Sechs Tage nach dem Mord

Ich staune: Wie klein meine Welt geworden ist. Ein Schritt geradeaus, eine Drehung um 90 Grad nach links, vier Schritte geradeaus, wieder im rechten Winkel nach links, ein Schritt, die Drehung und nochmals vier Schritte. Zurück zum Ausgangspunkt. Willkommen in meiner neuen Welt. Ja, lachen Sie ruhig. Der große Winterberg so klein. Spüren Sie sogar etwas Schadenfreude? Kein Problem, ich kann Sie verstehen.

Das ist mein neues Zuhause. Für 23 Stunden am Tag. Eine Zelle, wenige Quadratmeter groß. Eine Pritsche mit einer harten Matratze in der einen, eine Kloschüssel und ein kleines Lavabo in der anderen Ecke. Der Spiegel aus Blech, damit man sich nicht verletzen kann. Ein kleiner, an die Wand geschraubter Tisch und ein Stuhl, der ebenfalls fixiert ist. Mehr ist da nicht. Platz für: einen Schritt, vier Schritte, einen Schritt, vier Schritte.

Man hat mir alles genommen. Alles, was mir lieb und teuer war: mein Ansehen, meinen Reichtum, meine Familie und vor allem meine Freiheit. Sagen Sie ruhig: Recht geschieht ihm. Aber ich sage Ihnen: Ich war’s nicht! Mein Anwalt meint, es sehe ernst aus. Die Polizei behauptet, die Beweislast sei erdrückend. Was die Medien berichten, weiß ich nicht, und was meine Freunde denken, ebenso wenig. Vielleicht ist das ein Vorteil in meiner Situation. Wenn es auch der einzige ist.

Darf ich mich Ihnen kurz vorstellen? Gestatten: Mein Name ist Winterberg. Bei den männlichen Lesern dürfte der Name sofort einen Reflex auslösen: »Noch ein Winterberger!« Genau. Das bin ich. Der Bierkönig. Die Brauerei kaufte mein Vater, Conrad Winterberg, vor 82 Jahren. Aber zur wahren Blüte kam das Geschäft erst, als ich es nach dem Tod von Vater übernahm. 30 Jahre ist das her.

Ein Schritt, vier Schritte, ein Schritt, vier Schritte. Das ist manchmal auch Glück, so eine Zelle. Da staunen Sie. Denn ein solches Leben bedeutet viel Zeit zum Nachdenken. Eigentlich ein Luxus. Einen, den ich trotz allem Reichtum nie hatte. Ich, ein Mann der Tat. Sie fragen sich sicher, wie ich in diese missliche Situation geraten bin. Nun, man verdächtigt mich, eine Frau erschlagen zu haben. Ein Vorwurf, der ernst zu nehmen ist, sagt mein Anwalt. Er muss es wissen, denn immer, wenn er mir gegenübersitzt, macht er ein besorgtes Gesicht. An seinem Honorar kann es nicht liegen.

Ich gestehe: Ich kannte diese Frau. Alle Welt weiß das, darum gibt es keinen Grund, es zu leugnen, sagt auch mein Anwalt. Sebastian Hess heißt er übrigens. Und teuer ist er. Aber das Beste, was man sich in meinem Fall leisten kann, leisten sollte, meint er.

Amélie Cohen ist der Name der Toten. Der Vorname wie aus dem französischen Film, den meine Frau so gerne sieht. Und der Nachname wie der kanadische Musiker, den ich sehr verehre. Übrigens: Ist der nicht auch gestorben? Schlechte Zeiten für Cohens.

Amélie und ich waren Geschäftspartner. Geschäftsfreunde sogar. Kein Wunder kannten wir uns, die Tote und ich. Sie war häufig zu Gast bei uns auf dem Conradsberg, dem Anwesen, das nach meinem Vater benannt wurde. Ich soll sie erschlagen haben, behauptet die Polizei. Deshalb sitze ich hier, liege viel und denke nach. Und manchmal gehe ich: einen Schritt zur Seite, vier Schritte nach vorn, einen Schritt nach links, vier Schritte zurück.

Giacometti schlägt zu

Am Tag nach dem Mord: 11. Januar

Uwe Drechsler hatte schlechte Laune. Das hatte er meist, seit er hier am See lebte. Das halbe Jahr Nebel, das andere halbe Jahr Touristen, die zum Einkaufen oder Flanieren kamen und ihm den Platz für das Bier an der Abendsonne streitig machten. Da fehlte ihm eine frische Leiche am Freitagnachmittag grad noch. Verlängertes Wochenende futsch, Ski-Ausflug in die Berge futsch. Dabei war die Nähe zu den Bergen, außer dem Zahltag in Schweizer Franken, etwas vom wenigen, was er als Ostdeutscher hier im Süden schätzte.

»Amélie Cohen, 38 Jahre, 1.79 Meter groß, 60 Kilo.« Eine attraktive Frau zu Lebzeiten, dachte er. »Getötet mit einem Schlag auf den Hinterkopf, mit etwas Hartem, einem Hammer vielleicht, einer Eisenstange, so was in der Art.« Lustlos rapportierte Drechsler weiter. »Keine weiteren Verletzungen, kein Geschlechtsverkehr in den letzten 24 Stunden, soweit ich das auf den ersten Blick feststellen kann. Außerdem scheint es keinen Kampf gegeben zu haben, Fingernägel sind frei von Stofffasern oder Hautabschürfungen. Ansonsten tipptopp manikürt. Nagellack ist purpurrot«, ergänzte er zufrieden.

Hutter warf Drechsler einen irritierten Blick zu. Er bezweifelte, dass die Medien heute Abend an Werbung für Frau Cohens Nagelstudio interessiert waren. Hutter brauchte dringend Informationen. Für 19 Uhr war eine Medienkonferenz im Foyer des Museums angesagt. Die Vernissage, die eigentlich für diesen Zeitpunkt geplant gewesen wäre, wurde offiziell, mit einem nebulösen Hinweis auf betriebliche Probleme, kurzfristig abgesagt. Und nachdem die Eltern der Kinder, die Cohens Leiche entdeckt hatten, erstaunlicherweise auch dichtgehalten hatten, war das Ableben der Kuratorin bis zur Stunde tatsächlich geheim geblieben.

»Todeszeitpunkt?«

»Das ist einfach: Zum Glück herrscht in einem Museum Tag und Nacht die gleiche Temperatur, zur Schonung der Exponate«, erklärte Drechsler mit einem süffisanten Lächeln. »Der tödliche Schlag jedenfalls, nur ein einziger, wurde am Donnerstagabend zwischen 20 und 22 Uhr ausgeführt. So weit leg ich mich fest. Genaueres gibt es Anfang Woche. Wenn mich jetzt der Herr Kommissar bitte entschuldigt.«

»Moment, können wir schnell … Läuft Ihr PC noch?«

Umständlich klaubte Hutter das iPad aus der Manteltasche und tippte die Notiz von dort in die Suchmaske des Computers. Da ploppte das Gewünschte auf. Eine 3-D-Aufnahme von Giacomettis Figur mit dem unaussprechlichen französischen Namen.

»Was ist denn das?«, fragte Drechsler.

»So eine Art Kunst«, antwortete Hutter unbeholfen.

Aufmerksam betrachtete der Gerichtsmediziner den Kopf der Figur, nahm Maß und verglich Größe und Form noch einmal mit den Aufnahmen der Wunde am Hinterkopf von Amélie Cohen. »Also, wenn Sie mich fragen …« Das tu ich doch schon die ganze Zeit, dachte Hutter ungehalten. »… das passt wie Arsch auf Eimer!«

Nachdenken über Frauen und Sex

8. Tag in U-Haft

Warum ist der Sex mit schönen Frauen oft so langweilig? Ja sehen Sie, auf solche Fragen komm ich hier beim vielen Nachdenken in der U-Haft. Mal schauen, ob Ihnen etwas Gescheiteres einfiele, wenn man Ihnen alles weggenommen hätte, was Sie auf andere Gedanken bringen könnte: kein Fußball. Keine Wirtschaftsmeldungen. Keine Politskandale. Überhaupt keine Medien. Informations-Detox. Aber ich schweife ab. Ich glaub ja, wenn die schönen Frauen wissen, dass sie schön sind, dann bemühen die sich weniger. Das ist überhaupt nicht frauenverachtend. Im Gegenteil: Kaum etwas wird von mir so sehr verehrt und geschätzt wie die Frauen.

Nehmen wir aus aktuellem Anlass Frau Cohen, die Amélie. Nach dem Moment in der Abendsonne am Seehof wussten wir beide, dass er unvermeidlich war: der Fick. Wir beide wollten was voneinander und beide hatten es im Angebot. So einfach war das. Sie wollte mein Geld, ich ihren Körper. Doch dann, na ja, wie gesagt: schöner Körper, aber wenig Bewegung, wenn Sie wissen, was ich meine. Das Geld floss trotzdem. Nichts da mit #metoo. Hören Sie mir damit auf! Amélie hätte ja aufstehen und mir den Rest Rotwein ins Gesicht schütten können. Kein Problem damit. Ich hätte es verstanden. Meine erste Frau meinte zu Lebzeiten immer: »Kompliment, dass du die Frauen so gut verstehst, fast so gut wie das Bierverkaufen.« Meine erste Frau: Die Gabriela war eine Gute, ein ganz lieber Mensch. Aber schauen Sie, was jetzt ist: Tot ist auch sie.

Zurück zur Geschichte mit Amélie. Ich sag’s Ihnen, wie es ist: Die Amélie blieb gleich beim ersten Treffen sitzen. Sie ließ sich nachschenken, auch noch von der zweiten Flasche. Und dann meinte sie, in dem Zustand sollte sie wohl nicht mehr nach Hause fahren. Da hatte sie natürlich recht. Und da bin ich auch ein Gentleman alter Schule: Anstelle eines Taxis offerierte ich ihr ein Zimmer im Seehof mit Blick auf Abendsonne und See. Und schauen Sie: wieder die Chance zu einem Nein, wieder nicht gepackt. Mein Fehler? Ja, urteilen Sie ruhig, selbstgefällig, wie Sie da sind in Ihrer Freiheit! Ich mach mir keine Vorwürfe. Mein Umgang war äußerst korrekt.

Übrigens: Sie hatte tatsächlich einen wunderschönen Körper. Die Proportionen, die Formen – alles stimmte. Und da werde ich ja subito zum Ästheten: Nie täte ich so was zerstören. Wo denken Sie hin. Das habe ich auch meinem Anwalt, dem Hess, gesagt. »Das, lieber Robert, behalt lieber für dich. Wenn bekannt wird, dass ihr beide intim wart, verbessert das deine Chancen auf Freiheit nicht. Im Gegenteil«, sagt er. Und das wegen einiger Male einvernehmlichem Sex. So weit sind wir schon, dass so was bestraft wird! Verstehe das, wer will. Ich gehör da nicht dazu. Vielleicht war das jetzt etwas leichtsinnig, dass ich das hier einfach so herumerzähle. Aber wir sind doch Freunde, oder? Sie und ich. Ich verlasse mich ganz auf Ihre Diskretion.

David und Goliath bei Mekka

April 2014

»Es ist angerichtet, meine Damen und Herren! Das Duell: David gegen Goliath. Noch pilgern die letzten Fans in das kleine Stadion am See, das heute für einmal das Mekka des Fußballs ist.« Der Reporter des Schweizer Fernsehens war offensichtlich ganz besoffen von der Ausgangslage des Cup-Halbfinals und ließ keines der noch so schrägen, falschen oder ausgelutschten Bilder aus. Goliath war der übermächtige FC Basel, Serienmeister und -Cupsieger, David der FC Kreuzlingen, Tabellenzweiter der dritthöchsten Fußball-Liga. Es hatte einiger Fußballwunder bedurft, wie sie nur in einem Cupwettbewerb vorkamen, damit es der kleine FCK bis in den Halbfinal geschafft hatte.

Die Kamera schwenkte auf Robert Winterberg, der mit grün-weißem Vereinsschal auf der Tribüne die Gäste begrüßte. »Das, meine Damen und Herren, ist der Mann, der das alles hier überhaupt möglich gemacht hat. Der Bier-Tycoon aus der Provinz, der mit seinem Geld innerhalb von wenigen Jahren aus einem Amateurklub einen möglichen Finalisten des Schweizer Cups formte. Eine Sensation, wie sie in der Schweizer Fußballwelt leider nur selten vorkommt!« Der Reporter, angesteckt von der ausgelassenen Stimmung im Stadion, schrie die Zuschauer an den TV-Geräten förmlich an. Die Karten für das Spiel waren innerhalb einer Stunde ausverkauft gewesen. So wurden die wenigen Eintritte, die der FCK für seine Sponsoren, Gönner und Freunde zurückgehalten hatte, in den vergangenen Tagen zur begehrten Ware. Reguläre Tickets wurden im Internet für dreistellige Beträge gehandelt. Nie zuvor und nie mehr danach hatte Robert Winterberg so viele gute Freunde gehabt, so viele Hände geschüttelt und so viele Komplimente für sein Sponsoring entgegengenommen wie an diesem milden Sonntagnachmittag. Seine Brauerei stellte, dank einer Ausnahmebewilligung, den Ausschankwagen vor das Stadion und spendierte jedem Fan, der die Vereinsfarben trug, Gratisbier. Euphorisch skandierte darum die grün-weiß gekleidete Fangemeinde des FC Kreuzlingen lautstark »Rooooobert – WIN-TER-BERG« aus der Südkurve.

David hielt die erste halbe Stunde tapfer dagegen und lag nur wegen eines unglücklich abgelenkten Weitschusses 0:1 zurück. Als kurz vor der Halbzeit der junge Hüppi nach einem Corner den Kopf an der richtigen Stelle hatte und zum 1:1 ausglich, wusste der Kommentator keinen schlaueren Satz als: »Ja was ist denn hier los?« In der Pause schien noch alles möglich zu sein. Das Publikum schwelgte in grün-weißer Hoffnung. Das Spiel ging letztlich 1:5 verloren. Der jungen Truppe des FCK schwand nach einer Stunde die Kraft und Goliath zeigte David den Meister. Winterberg aber fühlte sich als Sieger, auf dem Gipfel seiner Macht. Nach dem Schlusspfiff umarmte er den Schweizer Bundespräsidenten zu seiner Linken, danach seine Frau zu seiner Rechten. Später zog er sich mit seinen engsten Mitstreitern, Freunden und Freundinnen ins Restaurant Seehof zurück, wo sie bis in die Morgenstunden feierten.

Der Schweiß tropft

Am Tag nach dem Mord

Grundsätzlich macht man sich keine Freunde, wenn man Journalisten an einem Freitagabend kurzfristig zu einer Veranstaltung einlädt. Aber Hutters Chef, Polizeikommandant Wiesendanger, bestand darauf: »Offensiv informieren, bevor eine Indiskretion größeren Schaden anrichtet!« Die Ankündigung »MK zu einem Tötungsdelikt« führte dazu, dass die Redaktionen, die geistig bereits im Wochenende waren, ihre Pikettdienste aufboten. So war das Foyer des Kunstmuseums gut besucht. Wenigstens 30 Personen aus TV-, Online-, Radio- und Zeitungsredaktionen bevölkerten den Raum. Umständehalber wurden die für die Vernissage bestellten Häppchen an die Journalistenmeute verfüttert, was die Laune hob und den Geräuschpegel senkte.

»Sehr geehrte Damen und Herren, geschätzte Medienvertreter. Ich danke Ihnen für Ihr kurzfristiges Erscheinen zu so ungewöhnlicher Stunde.« Hutter war nicht wohl im Rampenlicht. Er fand, er sähe auf den Aufnahmen noch unvorteilhafter aus als in natura. Das viele Licht schmeichelte ihm nicht. Er spürte die Schweißtropfen auf seiner Stirn. »Ich habe die traurige Aufgabe, Sie über ein Tötungsdelikt zu informieren, das sich vor wenigen Stunden in diesem Haus ereignet hat.« Kurzfristig verstummten die Kau-Geräusche. »Das Opfer ist Amélie Cohen, Kuratorin der Ausstellung ›Charakterköpfe‹, die heute Abend hätte eröffnet werden sollen. Sie wurde gestern Abend, vermutlich bei den letzten Arbeiten an der Ausstellung, von einem unbekannten Täter …« Hutter schwankte kurz zwischen »erschlagen« und »getötet« und entschied sich dann für Letzteres. »Über die Umstände ihres Todes und über weitere Einzelheiten kann ich Ihnen aus ermittlungstaktischen Gründen keine Auskunft erteilen.« Unter den Journalisten machte sich Unruhe breit. Keine Auskunft war immer schlecht in einem Gewerbe, das genau von solchen lebte. »Ich wäre froh, wenn Sie in Ihren Berichten einen Zeugenaufruf machen könnten. Dieser steht auch in der Mitteilung, die wir in wenigen Minuten verschicken werden.« Hutter suchte den Blick seiner Praktikantin, die seine Aussage mit einem dezenten Nicken quittierte.

»Weiß man etwas über ein mögliches Motiv?«, fragte eine Journalistin.

»Es ist momentan zu früh …« Hutter wurde von einer weiteren Frage unterbrochen.

»Wurde etwas gestohlen, Bilder oder so?«

»Wie gesagt, wir stehen erst ganz am Anfang.«

Hutter spürte, wie ihm ein Schweißtropfen über die Schläfe in den Hemdkragen lief. Höchste Zeit, die Veranstaltung zu beenden. »Meine Damen und Herren. Ich verstehe Ihr Informationsbedürfnis, aber bitte verstehen Sie auch …«

Bevor Hutter seinen Satz beenden konnte, knallte es hinten im Foyer. Oliver Tschanz vom Kreuzlinger Anzeiger, der die Medienkonferenz wortlos in der letzten Reihe verfolgt hatte, verließ das Gebäude und gab dabei wie so oft der Tür etwas zu viel Schwung.

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Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
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264 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783839268148
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