Читать книгу: «... und am Ende wird alles gut», страница 3
»Ist ein aussterbender Brauch«, meinte der Lockige mit einer tiefen Bassstimme. »Aber wir halten die Fahne hoch.« Er streckte mir die Hand hin. »Ich bin Hans Zimmer, der Zimmermann«, meinte er und bellte lachend.
»Hans Zimmer, der Zimmermann«, wiederholte ich doof.
»Ist tatsächlich wahr«, meinte sein Kumpel. »Und er hängt den Zimmermann immer an, damit er nicht mit dem erfolgreichen Filmkomponisten verwechselt wird.«
Okay, von dem hatte sogar ich schon mal gehört.
»Ich bin übrigens Franz Heese«, ergänzte der Blonde und jetzt musste ich tatsächlich schmunzeln.
»Hans und Franz«, ich konnte es kaum fassen.
»Ja«, grinste der Schlacks. »Wie die Möpse von Heidi Klum.« Und wieder ließ er sein bellendes Lachen hören.
Wenigstens würde er damit eventuelle wilde Tiere in die Flucht jagen.
»Ich bin Simon«, stellte ich mich vor. »Simon Winkel.«
Ich schüttelte beiden die Hand.
Der Blonde zeigte auf einen kleinen Gaskocher, der vor ihm stand und hielt plötzlich, wie von Geisterhand, eine kleine Dose Ravioli in den Fingern.
»Hunger?«
Mein Magen knurrte zur Antwort, lauter als das Lachen des Lockigen. Mein letztes Mahl war der Kuchen der netten Bauersleute gewesen und das schien Jahre her.
Er öffnete die Dose, schnippte den Gaskocher an und platzierte den Blechbehälter darauf.
»Du bist auf der Reise?«, keine Frage des Blonden, sondern ebenfalls eine Feststellung. Er deutete auf meine Tasche. »Sorry«, sagte er, »aber wir haben deine Sachen durchsucht, weil wir wissen wollten, ob du irgendwelche Krankheiten hast und Tabletten brauchst.« Sein Kumpel lachte. »Dann haben wir dein Medikamentensammelsurium entdeckt und, da wir beide nicht Medizin studiert haben, beschlossen wir, dir nichts zu geben.« Er wurde ernst. »Aber du solltest vielleicht mal deinen Zucker messen.« Hans zuckte die Achseln. »Meine Mutter ist auch Diabetikerin und ich weiß, dass damit nicht zu spaßen ist.«
»Nach dem Essen«, meinte ich und erinnerte meine Freunde an die Dose, die mittlerweile einen angenehmen Geruch verströmte.
Franz stellte den Kocher aus, wickelte das heiße Blech in einen Lappen und reichte es mir, nebst Löffel.
»Ist meiner«, sagte er entschuldigend, »wir waren nicht auf Besuch eingestellt, sonst hätten wir das gute Porzellan mitgenommen.« Er grinste wieder. »Ich hab keine ansteckende Krankheiten«, meinte er noch.
Ich nickte nur freundlich und begann damit, die Nudeltaschen in mich hineinzuschaufeln. Es war kein First-Class Menü, aber es war warm und sättigte. Herz, was willst du mehr.
»Verpfeif uns bloß nicht bei der Innung«, meinte Hans dann. »Ein Gaskocher ist eigentlich nicht erlaubt.«
»So strenge Regeln?«, fragte ich nur und hatte damit einen wahren Redefluss angestoßen.
Während ich mir die Ravioli einverleibte, bekam ich einen kleinen Einblick des Lebens auf der Walz. Es war schwer Arbeit zu finden, Geld war immer knapp, nur wenige Gasthäuser nahmen Handwerker auf und ließen sie gegen kleine Reparaturarbeiten bei sich wohnen. Die beiden Männer, die allenfalls Mitte Zwanzig waren, trauerten der guten alten Zeit nach. Echt witzig.
»Und trotzdem zieht ihr es durch?«
»Klar. Wir sind schon zweieinhalb Jahre unterwegs. Den Rest der drei Jahre und einen Tag schaffen wir auch noch. Dann geht es ab nach Hause.«
»Und das ist wo?«
»In der Nähe von Bremen.«
Ich zuckte ein wenig und Hans deutete es richtig. »Liegt das auf deiner Route?«
»Irgendwie schon. Ich will an die Ostsee.«
»Mit dem Fahrrad? Mit Verlaub gesagt, du siehst jetzt nicht wie der geborene Sportler aus.«
»Ich wollte auch eigentlich die Bahn nehmen«, meinte ich nur und wunderte mich, dass ich wildfremden Menschen mein Herz ausschüttete.
»Und das hat nicht funktioniert?«
Ich überlegte, wie viel ich erzählen konnte, doch der alte, verschlossene Simon kam wieder durch und ich winkte nur ab. »Lange Geschichte«, sagte ich nur und mein Tonfall schien weiteres Nachfragen zu verbieten.
»Was habt ihr für einen Weg?«
»Weiter nach Süden. Immer der Nase nach.«
Ich bewunderte die Zimmermänner, die scheinbar in den Tag leben konnten, ohne Angst vor dem morgen.
»Ich hoffe, ihr findet Arbeit«, sagte ich nur.
»Mach dir um uns keine Sorgen«, meinte der Lockige. »Wir kommen schon klar. Wir haben ein Dach über dem Kopf«, er deutete auf die Bretter über uns, »etwas zu essen, und ...«, er zwinkerte Franz zu, »... und wir haben uns.«
Wie meinte er das? Waren die beiden am Ende mehr als Freunde auf der Walz?
Ich wusste es nicht und fragte auch nicht nach. Es war mir auch völlig schnuppe. Die beiden hatten mich in meiner Notlage unterstützt und das Herz auf dem rechten Fleck.
»Nimm es uns nicht übel«, meinte der Blonde dann. »Aber wir sind seit fünf Uhr auf den Beinen. Wir hauen uns jetzt hin.« Er sah mich an. »Mit dir ist wirklich wieder alles in Ordnung?«
»Alles bestens«, meinte ich. Was für eine Lüge.
»Wir schlafen oben«, sagte er dann und deutete auf den Hochstand. »Willst du auch hinauf?«
Ich betrachtete die morsche Leiter und schüttelte schnell den Kopf.
»Ist ganz gemütlich hier unten.«
Sie erhoben sich und kletterten hinauf. »Danke nochmal«, sagte ich, doch sie winkten nur ab.
Einige Sekunden später knarrten die Bretter über mir, dann wurde es ruhig und ich war mit den Geräuschen des Waldes allein.
Ich machte tatsächlich eine Zuckermessung und spritzte Insulin. Pure Gewohnheit. Aber auch weil ich ein Dickschädel und eigen war. Ja, ich wollte sterben, aber zu meinen Bedingungen. Ich spülte zusätzlich meine Tablettenration mit dem letzten Schluck der ersten Wasserflasche herunter und legte mich wieder hin.
Das Gezirpe und Gepiepse um mich herum war ungewohnt, das Knacken im Unterholz im ersten Moment ein wenig unheimlich, doch ich hatte ja noch meine Schutzengel in der ersten Etage.
Dicke Freunde oder mehr.
Ich dachte an das Bauernehepaar und an die beiden Zimmermänner. Niemand dieser Personen hatte es zu Reichtum und Ruhm gebracht und es würde in diesem Leben wahrscheinlich auch nichts mehr werden. Trotzdem schienen sie zufrieden, nein, mehr, sie waren glücklich.
Ich vergaß den Wald. Dunkelheit umfing mich und es war nicht die Nacht.
Plötzlich waren sie wieder da. Die schweren Gedanken, die ich mit in meinen Traum nahm.
Als ich erwachte, spürte ich sofort, dass ich allein war. Hans und Franz waren früh aufgebrochen, aber sie hatten mir eine Nachricht hinterlassen. Und nicht nur das.
Der Gaskocher und ein paar Dosen lagen in meinem Fahrradanhänger, geschmückt mit einem Zettel.
»Moin Simon. Nimm den Kocher, du brauchst ihn mehr als wir. Und die Verpflegung, damit du nicht vom Fleisch fällst (Zwinkersmily). Wir wünschen dir alles Gute auf deiner Reise und wenn du in der Nähe von Bremen eine Unterkunft brauchst, dann melde dich bei unserem ehemaligen WG-Genossen. Er wird dir Unterkunft gewähren. Gruß Hans und Franz. «
Darunter befand sich eine Adresse.
Ich würde mit dem Zug an Bremen vorbeifliegen, soviel war für mich klar. Trotzdem steckte ich die nette Nachricht in meine Tasche.
Ein kurzer Check, ob ich schon neue Penunsen auf dem Konto hatte, verlief negativ.
Also noch ein Tag im Sattel.
Der Wahnsinn hatte von mir Besitz ergriffen.
Gestern hatte ich über dreißig Kilometer geschafft, nicht schlecht für einen übergewichtigen Hobbit. Mal sehen, wie weit mich der Wind heute trieb.
Ich orientierte mich auf meinem Handydisplay neu, schob das Fahrrad zurück auf den Feldweg und quälte mich in den Sattel. Meine Beine wollten mir den Dienst verweigern, mein Hintern fragte mich, ob ich noch ganz dicht wäre, doch ich ignorierte alles und fuhr einfach los.
Weg von dem Ort, an dem ich mich nie zu Hause gefühlt hatte, einfach nur weg ...
Kapitel 4
Kamp-Lintfort. Das war mein Ziel. Knapp über dreißig Kilometer entfernt. Man sollte eigentlich glauben, dass Fahrrad fahren mit einem E-Bike nicht unbedingt als anstrengend zu bezeichnen ist. Stimmt. Doch als herzkranker, übergewichtiger Diabetiker, der die letzten Jahre eigentlich nur in der Bude gehockt hatte, verhielt sich das anders. Außerdem wusste ich nicht mehr, dass das Ignorieren körperlicher Einschränkungen zu weiteren körperlichen Einschränkungen führte. Schon nach wenigen weiteren Kilometern gab es kein Körperteil mehr, dass nicht schmerzte. Ich war einfach nichts mehr gewohnt. Trotzdem, ich wollte mein Vorhaben in die Tat umsetzen. Also: schön weiterbewegen.
Die Feldwege waren verwaist. Das ein oder andere Rentnerpaar oder ab und an mal ein Trecker, dem ich ausweichen musste, kreuzten meinen Weg. Klar, es war ein stinknormaler Wochentag und wer machte da vormittags schon eine Radtour durchs Feld?
Ich kam zügig voran. Es erstaunte mich, dass in unserem modernen voll bebautem Bundesland noch so viele Felder existierten. Dass einsame Weiten in buntesten Farben zu bestaunen waren. Aus einem mir unerfindlichen Grund machten meine Beobachtungen die Reise interessanter und ich vergaß, weswegen ich eigentlich aufgebrochen war.
Ich roch frisch gemähtes Gras, sah Korn, das im Wind hin und her wippte und nahm den durchdringenden Geruch der hellgelben Rapsblüten wahr. Und ich roch etwas, dass die Urinstinkte des Menschen ansprach. Freiheit!
Jeder wird diesen Duft anders beschreiben. Für den einen ist es womöglich die Seeluft. Für den anderen sind es die Gerüche der Stadt. Wieder andere werden den Wald nennen. Doch für mich war es in dem Augenblick das Feld und der Weg, den ich fuhr, auch wenn er nur aus Asphalt und getrocknetem Kuhmist bestand.
Immer wieder hielt ich an und kontrollierte mit dem Handy, wo ich mich aktuell befand. Ich kam gut voran und das Wetter spielte ebenfalls mit. Sonnig und warm.
Dreieinhalb Stunden vergingen und ich hatte die Ortsgrenze von Kamp-Lintfort erreicht. Ich schwitzte stark und leider stank ich auch. Zum Glück hatte ich die Dose Deospray mit in die Tasche gepackt. Ich hielt an, schaute mich um und als ich sah, dass niemand in der Nähe war, schob ich mein T-Shirt hoch und versprühte das Deo unter meinen Armen und auf meinem Oberkörper. So sollte es gehen. Im Zug konnte ich ja noch einmal nachlegen. Ich fuhr noch ein paar Meter bis zu einer Siedlung. Um mich zu orientieren schaute ich wieder auf mein Handy. War das möglich? Kamp-Lintfort war die nächstmögliche etwas größere Stadt auf meiner Route gewesen. Von daher nahm ich an, dass es hier einen Bahnhof gab. Gab es aber nicht. Erst im April 2020 zur Landesgartenschau sollte eine Bahnverbindung reaktiviert werden. Ziemlich bedröppelt schob ich das E-Bike ein paar Meter weiter. Erst jetzt fiel mir auf, dass sich am Straßenrand jede Menge Leute versammelt hatten. An einer Parkbank lehnte ich das Rad an. Eine ältere Dame saß am Rand der Bank und starrte auf die Straße.
„»Darf ich?«, fragte ich vorsichtig.
»Bitte, junger Mann,« sagte die Frau, die mit großem Hut und ihrem eleganten Kleid aussah, als wäre sie gerade einem Film aus den Dreißigern entsprungen. Mit einer einladenden Geste deutete sie auf den Platz neben sich, ohne dabei den Blick von der Straße zu nehmen.
»Danke!«
Sie nickte nur beiläufig und behielt ihr Ziel im Auge.
Ich lehnte mich zurück, schaute mich um und endlich wurde mir klar, warum die Menge am Straßenrand verharrte und die Dame neben mir wie gebannt auf einen Punkt schaute.
Gegenüber der Parkanlage, auf einem mehrstöckigen Haus, turnte ein Mann auf dem Dach herum. Warum auch immer … Ich war der Meinung, es müsste sich um einen Künstler handeln. Entspannt betrachtete ich den Kerl auf dem Dach und grub mich noch ein wenig tiefer in das leicht vermoderte Holz.
»Meinen Sie, er springt?«
Mit Unverständnis betrachtete ich die Alte. Mir war die Frage suspekt.
»Er springt?«, flüsterte ich fragend.
Gerade, als sie antworten wollte, ertönten Sirenen. Kurze Zeit später wimmelte es nur so von Feuerwehrautos und Polizeiwagen. Die Straße wurde abgeriegelt und die protestierende Menge in den Park verwiesen. Uns sagte man nichts. Wahrscheinlich waren wir tarnfarben. Man ließ uns einfach auf der Parkbank sitzen. Quasi in der ersten Reihe, so als hätten wir die besten Plätze reserviert. Erst jetzt fiel mir auf, was es denn mit dem ganzen Tohuwabohu auf sich und was die Frau mir zu erklären versucht hatte.
Der Mann dort oben war kein Künstler. Niemand, der den Leuten zum Gefallen etwas präsentieren wollte. Der Typ hatte schlichtweg vor, sich das Leben zu nehmen.
Was für eine Ironie, schoss es mir durch den Kopf.
Der lange Mantel des Mannes auf dem Dach flog wie der Muleta eines Toreros hin und her. Nur dass der Mensch dort oben kein Matador war, sondern ein vor Aufregung zappelndes Nervenbündel.
»Mein Gott. Wie lange steht der denn schon da oben?«, fragte ich die Frau.
Sie schaute mich aus kleinen weisen Augen an, an deren Seiten sich tiefe Falten gebildet hatten.
»Ich sitze hier jeden Tag, junger Mann. Jeden Tag«, wiederholte sie. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«
Da war es wieder, dieses junger Mann. Als Endvierziger war ich mit Sicherheit kein junger Mann mehr, aber aus ihrer Sicht vielleicht schon. Auf jeden Fall hatte sie vergessen, meine Frage zu beantworten. Behutsam, um ihr nicht zu nahe zu treten, wiederholte ich freundlich die Frage: »Das glaube ich Ihnen gern. Wissen Sie denn, wie lange er schon da oben steht?«
»Ein paar Minuten.« Ihr Blick blieb auf mir haften.
Ich nickte und lächelte unsicher.
»Wieso?«, meinte sie.
Ich hatte immer gelernt, dass es keine dummen Fragen, sondern nur dumme Antworten gab. Für den Moment begann ich daran zu zweifeln. Die Frage, warum ich fragte, machte doch gar keinen Sinn. Ich riss mich zusammen und antwortete: »Selbstmörder, die ihren Suizid als klares Vorhaben einstufen, beenden ihr Leben meistens direkt, ohne zu zögern. Der da«, ich deutete auf das Haus gegenüber, »macht mir nicht den Eindruck.«
Es war völlig verrückt. Jemand der einen Suizid begehen wollte, belehrte gerade eine alte Frau, dass Selbstmörder oft in Kurzschlussreaktionen handeln und das durch Zögern Denkmuster entstehen, die Zweifel hegen. Hätte ich ihr erzählt, dass ich gerade mit einem Fahrrad zur Ostsee fahre, um genau das Gleiche zu tun, wäre sie wahrscheinlich direkt gegangen. Ich verschwieg mein Vorhaben. Es tat eh nichts zur Sache.
»Sie kennen sich ja aus.«
»Nein. Ich finde nur, dass es logisch klingt.«
»Logisch?«, fragte sie entrüstet. »Sein Leben zu beenden ist nicht logisch. Es ist krank.«
Krank? Ich kannte sie nicht. Folglich konnte ich mir kein Urteil erlauben. Ich tippte einfach darauf, dass sie ein glückliches Leben geführt hatte.
»Ich bin mir nicht sicher, ob man das als krank bezeichnen kann.«
Als sie gerade erneut etwas sagen wollte, kam Bewegung in die Szenerie. Auf dem Balkon, direkt unter dem Dach, sprach eine Frau mit dem gewillten Selbstmörder. Immer wieder hob und senkte sie die Arme. Man sah, dass der Mantelträger auf die Frau reagierte. Ständig unterbrach er seinen Gang und rief ihr etwas zu. Plötzlich tauchte ein Polizist hinter dem Mann auf. Ich fragte mich, wie dieser so schnell dort hingekommen war. Er war quasi aus dem Nichts aufgetaucht. Dann packte er den Mann am Kragen und zog ihn zurück auf das Flachdach. Andere Polizisten eilten herbei und hielten den Mann fest. Die Frau verschwand vom Balkon und auch die Beamten waren mit einem Mal nicht mehr zu sehen. Ebenso der Suizidgefährdete. Der Spuk war vorbei. Ein erleichtertes Aufatmen ging durch die Menge hinter uns. Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass ein paar anwesende Sensationstouristen gerne einen Sprung gesehen hätten. Einfach, um sich daran aufzugeilen. Um zu sehen, wie der Körper auf den Asphalt kracht. Die Menschheit war durchzogen von Verdorbenheit.
»Zum Glück. Der arme Mann.« Die elegante alte Dame fiel förmlich in sich zusammen. Sie brach in Tränen aus.
»Hören Sie. Es ist alles gut. Alles ist gut«, erklärte ich ihr. Doch sie ließ ihrer Trauer freien Lauf. Und als sich die Menschenmassen schon längst verzogen hatten, saß ich immer noch neben ihr, den Arm um ihre Schulter gelegt und versuchte sie zu beruhigen.
»Es ist so schrecklich«, schluchzte sie, wobei ihr der weiße Hut vom Kopf fiel.
Ich hob ihn auf und klopfte ihn an meiner Jeans ab. Dann gab ich ihn ihr zurück und betrachtete sie genauer. Vor dreißig Jahren sah sie bestimmt wunderschön aus, dachte ich und riss mich damit selbst wieder in mein gewohnheitstypisches Loch.
»Danke!«
Sie nahm den Hut wieder an sich, steckte die Haare hoch und ließ sie unter der Kopfbedeckung wieder verschwinden. »Niemand sollte sein Leben so beenden.«
Im Grunde hatte sie mit dieser Aussage recht. Aber sie kannte den Mann nicht. Hinterfragte nicht seine Intention. Das Warum war hier von entscheidender Bedeutung. Dennoch wollte ich sie weder belehren noch eine Grundsatzdiskussion über Suizid anfangen.
»Ja,« sagte ich zögerlich. Aber wahrscheinlich so zögerlich, dass es ihr auffiel.
»Das klingt so, als hätten Sie eine andere Meinung.«
Fordernd schaute sie mich an. Die Trauer hatte einer gewissen Wut Platz gemacht.
»Grundsätzlich nicht, aber man muss immer sehen, was zu dieser Situation geführt hat.« Nun ließ ich mich dummerweise doch auf eine Diskussion ein.
»Die Situation kann noch so bedrückend sein. Wir haben einmal das Geschenk bekommen, auf diesem wundervollen Planeten sein zu dürfen. Ein zweites Mal wird es nicht geben.«
Da hatte sie recht. Ich war immer Realist gewesen. Zeit meines Lebens. An eine Wiedergeburt, das Leben nach dem Tod, in einem ach so schönen Paradies, glaubte ich nicht. Wer starb, der starb. Der Gedanke, dass die Seele ewig weiterleben würde, war mir suspekt.
»Gut«, gab ich zu. »Das kann natürlich sein, aber wer sich in den Tod stürzen will, der wird das nicht grundlos tun.«
Sie antwortete nicht, sondern grub ihr Gesicht wieder in die faltigen Hände.
»Okay. Natürlich ist es ein Fehler«, log ich, um die Dame zu beruhigen. Als sie weiter in dieser Position verharrte, legte ich nach. »Nicht immer hält die Ellenbogengesellschaft einen Platz für die bereit, die durchs Raster gefallen sind. Wer weiß, vielleicht war dieser Mann einer von denen, die es nicht geschafft haben, sich einen Platz zu sichern. Oh«, stockte ich. »Ist dieser Mann, muss es natürlich heißen, nicht war. Es ist glücklicherweise nichts passiert.«
Endlich ließ die Frau ihre Hände sinken. Sie starrte geradewegs auf das Haus, auf dem eben noch der Mann stand. Sie hielt die Augen offen, ohne zu zwinkern, als wäre sie mit ihren Erinnerungen in einer anderen Zeit.
Mir war klar, dass ihre Gedanken nicht mehr dem unbekannten Mann galten, der sich beinahe umgebracht hatte, sondern dass ihre Trauer viel tiefer ging.
»Wissen Sie«, begann sie zaghaft. »Ich war vierzig Jahre verheiratet. Edgar, mein Mann, und ich führten eine glückliche Ehe.« Sie richtete sich auf. »Das kann ich ganz bestimmt sagen. Und wie ein gemeinsames Leben halt so abläuft, so war es auch bei uns. Am Anfang ist alles wie ein Traum. Ein kleines Märchen, dessen Geschichte du selbst schreibst. Man liebt sich, will am besten gar nicht voneinander los. Alle Termine, die man eigentlich alleine wahrnehmen sollte, sind zu viel, weil man bei seinem Partner sein möchte.« Das erste Mal, seit wir auf der Bank saßen, begann sie zu lächeln. Es war ein zauberhaftes Lächeln und ich konnte erahnen, welch wacher, frohsinniger Geist einst in dieser Frau gelebt hatte. Ganz war er noch nicht gestorben. Doch die Boten der Gegenwart zeichneten Spuren in ihr Gesicht und ihre Gedanken. Gebannt hing ich an ihren Lippen. Ohne Zweifel hatte sie etwas Interessantes aus ihrem Leben zu berichten.
»Edgar wollte immer Kinder. Ja, er liebte Kinder. Sobald er ein kleines Mädchen irgendwo sah, musste er sich zurückhalten, um es nicht in den Arm zu nehmen und zu knuddeln. So war er halt. Dann wurde unser Traum wahr. Nach einem Jahr wurde ich schwanger. Wir heirateten. Das Märchen lebte weiter. Unsere Hochzeitsreise nach Andalusien war wunderschön. Fast schon zu prunkvoll für unser bescheidenes Einkommen. Aber hallo.« Sie hob den Zeigefinger in die Luft. »Man heiratet schließlich nur einmal, zumindest die meisten.
Die Schwangerschaft verlief komplikationslos. Und als es endlich so weit war und ich in den Wehen lag, stand Edgar neben mir und hielt meine Hand. Wir wussten zu dem Zeitpunkt, dass es ein Mädchen werden würde. Pamela. Den Namen hatte sich Edgar ausgesucht, weil es der Zweitname seiner Mutter war und weil sie diesen Namen hasste. Und Edgar mochte seine Mutter nicht. Die kleine Rache war perfekt.
Ich hatte nichts dagegen. Der Name gefiel mir.
Kurz bevor Pamela das Licht der Welt erblickte, bemerkte der Arzt das sich die Nabelschnur um den Hals des kleinen Bündels gewickelt hatte. Eile war geboten, denn die Herztöne wurden immer schwächer. Als Pamela dann da war, war es bereits zu spät. Alle Versuche, die Kleine wiederzubeleben, scheiterten.«
Wieder benetzten Tränen die trüben Augen. Nun schaute sie mich an. Ein Blick so voller Trauer, dass ich beinahe angefangen hätte zu weinen.
»Keiner, der dies nicht erlebt hat, kann sich vorstellen wie es ist, sein totes Kind auf dem Bauch liegen zu haben. Den schockierten Ehemann noch an seiner Seite. Die Kleine sah aus, als würde sie schlafen, ganz friedlich. Ich weinte nicht einmal. Ich streichelte meiner Tochter über den Kopf, froh, dass sie endlich da war. Alle versuchten mir zu erklären, was passiert war, doch ich strich ihr behutsam weiter über das kleine Köpfchen. Es vergingen Minuten, vielleicht sogar Stunden. Es war der zweitschwärzeste Tag meines Lebens.«
Durch den salzigen Geschmack an meinen Lippen fiel mir nun erst auf, dass ich tatsächlich weinte. Dass sie sagte „Zweitschwärzeste“ ließ mich leicht geschockt erahnen, was folgen würde. Ich schwieg mit offenem Mund.
»Der Tag, dieses Ereignis, änderte alles. Während ich mich, durch psychologische Betreuung, wieder an ein halbwegs normales Leben herantastete, fiel Edgar in ein Loch.«
Sie hob den Mundwinkel an. Ein angedeutetes, eher ironisches Lächeln. »Natürlich hatten Sie eben recht, junger Mann.«
Da war es wieder, aber in diesem emotional, dermaßen aufgeladenen Augenblick, erschien es mir belanglos.
»Es gibt Dinge, die keiner von uns vergisst. Keiner. Immer wieder werden Menschen mit Aufgaben konfrontiert. Kaum lösbare Aufgaben. Aber wir müssen uns stellen.«
Kräftig ballte sie die Hände zu Fäusten. Sie kämpfte. Mit sich, mit ihrer Trauer und ihrer erschütternden Vergangenheit.
»Edgar versuchte, dieser Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Er begann zu trinken. Wein, Whiskey, Korn, egal. Hauptsache, es war hochprozentig und er konnte dadurch die Bilder aus seinem Kopf vertreiben. Betrunken fiel er jede Nacht in einen unruhigen Schlaf und schrie ab und an. Verstehen konnte ich nie, was er dort von sich gab. Aber er muss schreckliche Alpträume gehabt haben. Es ging ihm immer schlechter. Später ging er nicht einmal mehr arbeiten und lag den ganzen Tag auf der Couch. Meine Versuche, ihn dazu zu bewegen, etwas zu unternehmen, irgendwie wieder am Leben teilzuhaben, scheiterten kläglich. Glauben Sie mir, ich habe mein Bestes versucht.«
Schluchzend ließ sie sich an meine Schulter fallen. Ich heulte mit ihr. So, als hätte ich das Ganze selbst erlebt. Die Umgebung existierte nicht mehr. Was blieb, waren ich, die alte Frau und die Parkbank, auf der wir saßen. Langsam richtete sie sich wieder auf, hob entschuldigend die Hand und fuhr fort: »Er war nicht mehr der Mann, der er einmal war und ich nicht mehr die Frau von damals. In der Zeit vor Pamela. Aber ich hatte gelernt, was es bedeutet, zu leben. Einfach zu leben. Und wenn man dieses Leben als Geschenk betrachtet, fällt vieles leichter. Edgar konnte das nicht. Er wurde immer depressiver. Eines Tages ging er aus dem Haus.« Wieder lachte sie kurz auf, doch in ihrem Gesicht spiegelte sich keine Freude wider.
»Ich kann mich noch gut daran erinnern. Es war ein Samstag. Im Fernsehen lief gerade die Sportschau. Fast das Einzige, was er noch mit Verstand schaute. Ich dachte er sei auf dem Sofa. Doch als ich ins Wohnzimmer ging, lief der Fernseher und die sonst chaotisch umherfliegenden Alkoholflaschen standen sauber aufgereiht auf dem Tisch. Die Sachen meines Mannes waren fein säuberlich gefaltet. Die Kissen an den richtigen Positionen und die Decke glattgestrichen. Auf dem Couchtisch lag ein Brief. Handgeschrieben. Eigentlich schrieb Edgar grauenvoll. Manche würden sagen, er hatte eine Sauklaue. Doch diesmal waren die Buchstaben wie gemalt. Wunderschön geschrieben. Der Inhalt jedoch war das Traurigste, was ich je gelesen habe.«
Sie machte eine Pause und blickte mich verzeihend an.
»Ich will Sie nicht mit jedem einzelnen Wort belästigen«
Ich nickte und lächelte vorsichtig.
»Er ging zu seiner Mutter. Die alte Gertrud war schwer dement. Sie hatte keine Ahnung, was ihr Sohn veranstaltete. Er holte sich einen Holzkohlegrill vom Balkon und schloss sich in der Abstellkammer ein. Von innen klebte er die Türschlitze mit Kreppband ab. Dann zündete er die Holzkohle an und wartete auf den Tod.«
Ihre Stimme wurde brüchiger. Mit jedem Wort grub sich die schmerzende Erinnerung weiter in ihre Stimmbänder.
»Von außen hatte er vorher einen Zettel an die Tür geheftet. Daran kann ich mich noch gut erinnern, weil es das wiedergab, wie er eigentlich war. Dort stand: Liebe Feuerwehrleute! Passt auf! Beim Öffnen der Tür besteht die Gefahr einer Vergiftung! Er hatte sie gewarnt, damit ihnen nichts passiert, in solch einem Moment.« Ihre Stimme brach endgültig. Tränen liefen ihr über die Wangen.
Ich schluckte schwer und traute mich kaum etwas zu sagen, sah, wie diese kämpferische Frau mit Tränen, Wut und Verzweiflung rang. Dann schüttelte ich den Kopf, nahm ihre Hand in meine und flüsterte: »Das tut mir unglaublich leid.«
Ich glaube, dass es keinen besseren Augenblick in meinem Leben gab, um ehrliche Traurigkeit auszudrücken. Nicht aufgesetzt, sondern von Herzen.
»Danke!« Ihre tränenerstickte Stimme war ernst und doch mit so viel Dankbarkeit erfüllt, dass mir ein Schauer über den Körper lief. Dann begann sie erneut. Ihre Worte wurden wieder klarer und deutlicher. »Das, was ich nach Pamela durchmachte, erlebte ich nun noch einmal. Wieder suchte ich mir Hilfe, wieder bemühte ich mich, meinem Leben trotz aller Hindernisse einen Sinn zu geben. Es dauerte lange. Sehr lange. Irgendwann aber sah ich spielende Kinder. Sah ihre Lebensfreude. Eine Freude, die Erwachsenen abhandenkommt.« Sie wischte sich hastig ein paar Tränen fort. »Ja, das Leben kann ein Kampf sein, aber am Ende bist du der Krieger, der die Waffen wählt.«
Überrascht von den doch etwas martialischen Worten, rieb ich mir mein Kinn und versuchte meine Sicht der Dinge zu erklären. »Ab und an sind es halt stumpfe Waffen. Ich will nichts schönreden, dafür ist ihre Geschichte zu tragisch und ich kann kaum erahnen, was sie durchgemacht haben, aber nicht jeder schafft den Weg aus solch einer Krise.«
Ich wollte mich nicht auf Edgars Seite begeben. Was für einen Grund hätte ich gehabt? Die einzige Gemeinsamkeit unseres Weges war das Ziel, aber das durfte ich hier auf keinen Fall erwähnen.
Die Frau erhob sich, klopfte sich ihr Kleid ab und drehte sich zu mir um. »Danke. Sie waren ein guter Zuhörer. Darüber reden tut immer noch weh, aber es hilft mir auch.«
Sie bedankte sich noch einmal, trotzdem glaubte ich, etwas Falsches gesagt und sie verärgert zu haben. Es war ein sensibles Thema, aber ich hatte mir Mühe gegeben.
Doch sie war mir nicht böse, viel schlimmer, sie hatte mich durchschaut.
»Bitte tun Sie mir den Gefallen und begehen nicht den gleichen Fehler wie mein Mann. Sie sind ein wertvoller Mensch. Glauben Sie mir das.«
Und mit diesen Worten ließ sie mich allein und nachdenklich auf der Parkbank zurück. Fieberhaft überlegte ich, ob ich irgendetwas von meinem Vorhaben Preis gegeben hatte. Doch ich war mir sicher, dass dem nicht so war. Nicht eine Silbe. Verdammt! Wie hatte sie das wissen können? Ein Deja vu. Die Bauersfrau hatte sich ähnlich ausgedrückt. Mir wurde immer bewusster, dass Frauen scheinbar die Gabe hatten, ins tiefste Innere eines Menschen zu blicken. Ein Talent, das den meisten Männern nicht gegeben war. Was für ein seltsamer Tag, dachte ich, schnappte mir das Fahrrad und machte mich auf zu den Ufern der Ewigkeit. Vielleicht sogar zu Edgar.