Читать книгу: «... und am Ende wird alles gut», страница 2
Kapitel 2
Knapp sechshundert Kilometer mit dem E-Bike zurückzulegen war eine ziemlich verrückte Idee. Aber allein, um Sohnemann eins auszuwischen und bis zum nächsten Bahnhof zu fahren, war es allemal den Spaß wert.
Vorher hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie etwas geklaut. Nicht einmal als Kind. Und dies, obwohl meine Freunde aus Kindertagen bergeweise Wassereis hatten mitgehen lassen.
Ich befürchtete immer drakonische Strafen meiner Eltern. Dabei waren sie nie streng gewesen. Aber dieses Gefasel (Du sollst ein guter anständiger Junge werden) hatte sich in meinem Kopf festgesetzt. So blieb ich brav, anständig und unglücklich.
Der altbekannte Weg Richtung Stadt flog an mir vorbei. Entlang des vermüllten Feldwegs donnerten Gedanken meines vergangenen Lebens wild hin und her und ließen mich die Fahrt vergessen. Ich dachte an meine Kindheit, Jugend und die Zeit danach.
Alles begann doch so wunderbar. Wie konnte sich alles dermaßen geändert haben? Warum bestimmte das Schicksal über Wege, Planungen und Ereignisse? Der Hilferuf der Schwachen war stets nur ein Flüstern. Ein leiser Hauch, der das Mitleid derer hervorrief, die stark und vor allen Dingen gesund waren. Natürlich ist jeder seines Glückes Schmied, aber nur, solange das Feuer in der Esse brennt. Wenn die Glut nur noch ein Häufchen Asche war, war es das mit dem Glück.
Was für ein blöder Spruch, dachte ich und fuhr schnurstracks über eine rote Ampel. Ein silberner Toyota kam mit quietschenden Reifen kurz vor meinem geklauten E-Bike zum Stehen.
»Haben Sie noch alle Latten am Zaun?« Ein kräftiger Mann mit buntem T-Shirt und Bermuda-Jeans fiel förmlich aus der Tür und brüllte mir die Worte mit hochrotem Kopf entgegen.
»Sorry, nicht gesehen,« stammelte ich und versuchte mich vom Schreck zu erholen.
»Nicht gesehen, dass die Ampel rot ist?«, fragte der Mann und schoss direkt hinterher: »Sie können froh sein, dass ich noch rechtzeitig bremsen konnte.«
Wäre auch nicht schlimm gewesen, hätte ich beinahe gesagt, schluckte die Bemerkung allerdings herunter. »Alles gut. Tut mir leid. Das haben Sie ganz toll gemacht,« sagte ich und überschüttete den Kerl, der mir gerade das Leben gerettet hatte, mit einer gehörigen Portion Zynismus.
»Wollen Sie mich etwa verarschen?« Der Mann kam näher. Er war mindestens einen Kopf größer als ich, hatte eine Glatze und wirkte, trotz des bekloppten bunten Hemdes, recht durchtrainiert. Dass sich hinter seinem Wagen eine Schlange bildete und die ersten Ungeduldigen hupten und weiterfahren wollten, schien ihn nicht wirklich zu stören.
Ich weiß nicht was mich geritten hatte, doch mit einem Mal wurde ich ungewohnt selbstsicher. Mit dem Gefühl, dass mir eigentlich alles völlig egal sein konnte, antwortete ich ihm: »Und jetzt? Wollen Sie mir eine reinhauen?«
»Was? Hör mal, du wabbeliger Fettsack. Ich habe es eilig. Normal hau ich dich so um, dass es für dich kein Morgen mehr gibt.«
Welch eine Ironie. Ich lächelte und die Glatze wurde langsam unsicher.
»Sag mal, bist du besoffen?«
Ich antwortete ihm nicht, lächelte nur und fuhr weiter. Möglich, dass er heute noch da steht. Es war doch alles so belanglos. Was sollte schon passieren?
In der Nachbetrachtung wäre ich bei meinem Glück, an jedem anderen Tag wahrscheinlich im Krankenhaus gelandet. Querschnittsgelähmt, unfähig mich umzubringen. Der Worst Case. Das wäre typisch gewesen. Herrgott, es gab wirklich Leute, denen es noch dreckiger ging. Wahrscheinlich aber waren diese Leute nicht so depressiv. Wie sonst hätte man mit so einem Schicksalsschlag umgehen können? Und da waren sie wieder, die Starken und die Schwachen. Leider gehörte ich zur letzteren Kategorie.
Die Sonne brannte vom Himmel. Ein Vormittag im Mai glich inzwischen einem Vormittag im Hochsommer. Nicht einmal eine Kappe hatte ich eingepackt. Meine dichte schwarze Haarpracht, die mir sonst immer ziemlich auf den Wecker ging, weil sie so schlecht zu bändigen war, rettete mich davor, dass ich mir den Schädel verbrannte.
Eigentlich wäre dies ein perfekter Tag gewesen, um einen Ausflug zu starten, ließ man die Umstände außer Acht. Sonne, ein leichter Wind, Wiesen, Felder, kleine Wäldchen, alles was mir in den letzten Jahren verborgen geblieben war, lachte mich nun an. Vielleicht aber lachte mich die Natur auch nur aus. Haha, guck dir mal den Dicken auf dem Fahrrad an. Meine leicht halluzinierenden Gedanken führten dazu, dass ich glaubte, in einiger Entfernung Bäume zu sehen, die ihre Krone zusammenschoben und über mich redeten. Ich musste diesen Verfolgungswahn loswerden, dieses Gefühl ständig beobachtet zu werden. Immer die Ahnung zu haben, dass irgendjemand, der mich sah, lästerte, sich hinter meinem Rücken gnadenlos schlecht über mich ausließ. Aber es war so oder so zu spät. Mir konnte jegliches Lästern, jede Beobachtung meiner Person vollkommen gleichgültig sein, denn schließlich würde ich nicht mehr lange auf dieser kaputten Welt verweilen.
Ich fuhr, wie ich annahm, Richtung Nordosten, Richtung Ostsee. Mein Ziel: Je weiter ich in diese Richtung fahre, umso günstiger würde das Zugticket werden. Mein Handy, der moderne Kompass, beließ ich in der Hosentasche.
Inzwischen kannte ich die umliegenden Feldwege nicht mehr. Plötzlich lief mir ein Mann in grüner Latzhose schreiend entgegen. »Die Kuh, verdammt! Ich brauche Ihr Rad.«
»Die Kuh?«, wiederholte ich verdutzt.
»Meine Kuh, die gerade an Ihnen vorbeigerannt ist.«
Nachdenklich sah ich mich um und sah in einiger Entfernung eine Kuh, die sich in gemäßigtem Trab immer weiter von uns entfernte. »Oh«, fiel mir als einzig Sinnvolles ein.
»Kann ich Ihr Fahrrad haben?«
»Ähh, klar«, antwortete ich, mit der Situation immer noch überfordert. Ich stieg ab und drückte der Latzhose das E-Bike in die Hand.
Ohne ein weiteres Wort packte der Mann das Rad und nahm die Verfolgung auf. Kurz blickte ich ihm hinterher und hoffte, dass er die Kuh irgendwie zum Stillstand bekommen würde.
Dann tippte mich jemand an. Ich drehte mich um und blickte in glückliche, dankbare Augen.
»Lieb von Ihnen, dass Sie meinem Mann ihr Fahrrad geliehen haben.« Eine kleine rundliche Frau mit einer hellblauen Schürze stand vor mir.
»Kein Problem, das ist doch selbstverständlich«, meinte ich ehrlich.
»Das glaube ich Ihnen. Sie haben treue Augen.«
Treue Augen? Das hatte noch nie jemand zu mir gesagt. Ich glaubte ihr trotzdem, mir jedoch weniger. Treue? Ich bin nie in die Verlegenheit gekommen untreu zu werden. Vielleicht meinem Arbeitgeber, weil ich ihn durch meine Krankheit im Stich gelassen hatte, aber war das Untreue? Ich fühlte mich dadurch schlecht, das stimmte. Schließlich und insoweit konnte ich die Aussage der Frau bestätigen, besaß ich ein wenig Anstand. Aber wirklich treu?
»Wollen Sie auf ein Stück Kuchen und eine Tasse Kaffee reinkommen?«
Überrascht sah ich mich um, was sie sofort bemerkte. »Wir haben einen Bauernhof, direkt hier am Feld.«
Sie zeigte zur Seite, drehte sich um und ging los. »Kommen Sie!«, sagte sie lachend. Diese Frau hatte die Lebensfreude, die mir abhandengekommen war. Sie schien nicht viel auf Äußerlichkeiten zu geben. War mit dem zufrieden, was sie hatte, wahrscheinlich frei von jeglichem medialen Einfluss und sämtlichen Süchten und Beeinflussungen, die damit einhergingen. Zumindest war dies mein Eindruck.
Ich folgte ihr.
Nach etwa hundert Metern standen wir mitten in einem wunderschönen Gutshof. Kühe muhten aus einem Stall in der Nähe und ein paar Hühner liefen frei umher und pickten auf dem Boden herum.
»Urig«, befand ich.
»Schöner ist es nirgendwo.«
Mein Eindruck schien sich zu bestätigen. Die Bäuerin war das Paradebeispiel eines zufriedenen Menschen und ein Leuchtturm mitten in rauer See, auf der sich Leute wie ich befanden, die ziellos auf ihrem alten Kahn dem Untergang geweiht waren. Leider, und so viel stand fest, würde ihr Licht mich nicht davon abhalten an den Klippen zu zerschellen.
»Das glaube ich Ihnen.«
Sie ging voran. Ich folgte ihr, durch eine offenstehende Holztür, in ein rot verklinkertes Haus, an dessen Fensterbänken herrlich bunte Blumen in grünen Kästen ausufernd nach unten rankten.
»Setzen Sie sich doch.«
»Danke!« Ich nahm an einem alten, grob behauenem Holztisch Platz, auf dem ebenfalls bunte Blumen in bauchigen Vasen blühten. »Sie scheinen Blumen zu lieben«, rief ich der Bäuerin hinterher, die in einem Nebenraum verschwunden war.
»Oh ja. Alles was leuchtet, was Farbe hat, liebe ich.«
Klirrendes Geschirr verriet mir, dass die gute Dame dabei war mir etwas Gutes zu tun.
»Sie brauchen sich wegen mir keine Umstände zu machen.«
»Aber das mache ich doch gerne«, sagte sie und betrat den Raum mit einem übergroßen Stück Apfelstreusel und einer dampfenden Tasse Kaffee, serviert auf, wie sollte es anders sein, knallbuntem Porzellan.
»Hui«, sagte ich erstaunt. »Das am Vormittag.«
»Ist es Ihnen nicht recht?«
Ich zögerte etwas. Mein Zuckerwert würde in astronomische Höhen schießen, aber auch das war völlig egal. Also antwortete ich: »Alles bestens. Das sieht sehr, sehr lecker aus.«
Nun lachte die Frau. »Ich fasse das mal als Kompliment auf. Hoffentlich schmeckt es auch so gut, wie es aussieht.«
Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, verschwand meine Kuchengabel mit dem ersten dicken Stück in meinem Mund. Ich neigte oft zu Übertreibungen und mir gingen wirklich nicht schnell die Superlative aus, aber zu diesem Kuchen fiel mir kaum noch etwas ein. Sensation, wäre wohl passend gewesen, doch selbst das war eine maßlose Untertreibung. Noch nie hatte ich einen so leckeren Kuchen gegessen.
»Und, schmeckt es Ihnen?«, fragte sie und sah mich mit erwartungsvollen Augen an.
Ich war kaum in der Lage einen ordentlichen Satz zu formulieren. Als hätte man einen Schalter umgelegt, hatte ich in den Genießermodus umgeschaltet, beinah unfähig zu sprechen.
»Un-glaub-lich!«, jubelte ich als Meister der Silbentrennung mit vollem Mund.
Wieder lachte die Frau und wies daraufhin, dass ich auch noch eine Kanne Kaffee auf dem Tablett stehen hatte. Also schenkte ich mir aus dem bunten Porzellan einen Kaffee in die Tasse und veredelte ihn üppig mit Kondensmilch und Zucker.
Höchstwahrscheinlich hätte mich mein Diabetologe erschlagen, was man in meiner Situation allerdings als Sterbehilfe hätte durchgehen lassen können.
»Darf ich fragen, was sie hier in diese Gegend treibt?« Die Dame des Hauses setzte sich mir gegenüber an den Tisch.
»Nun«, nur ungern wollte ich die nette Frau belügen. »Ich hatte mich zu einer Radtour aufgemacht und da ich heute nichts Besseres vorhatte, bin ich einfach drauflos gefahren und hier gelandet.« Naja, es war die ein wenig ausgeschmückte Wahrheit, aber ich wollte eine so freundliche Person nicht verunsichern.
Sie nickte lächelnd. »Ich hatte eben gesagt, dass Sie treue Augen haben. Ihre Augen sagen aber auch etwas von Trauer. Ich hoffe, Ihnen geht es gut.«
Zugegeben, es wurde ein wenig spooky. Dass sie den besten Kuchen gebacken hatte, schien mir schon ein kleines Wunder zu sein. Dass sie über hellseherische Fähigkeiten verfügte, versetzte mich in Erstaunen.
»Danke, es geht mir gut«, log ich nun doch. Sie nickte und verschwand wieder in der Küche.
Genüsslich ließ ich mir den Streuselkuchen schmecken, als plötzlich der Mann den Raum betrat, der eben noch mit dem E-Bike die Kuh verfolgt hatte. Ohne ein Wort zu sagen, ging er an mir vorbei und verschwand in einem Raum hinter dem Esszimmer. Verdutzt hörte ich damit auf, den Kuchen in mich hineinzuschaufeln. Hatte ich etwas Falsches getan?
Nach ein paar Sekunden betrat der Mann mit der Latzhose wieder das Zimmer und setzte sich mir gegenüber an den Tisch.
»Danke, dass sie mir ihr Rad geliehen haben. Die Kuh ist wieder auf der Wiese.«
Das Alter des Mannes war schwer zu schätzen. Alles an ihm sah nach harter Arbeit aus. Die sonnengegerbte Haut, das breite Kreuz und die kräftigen, Schwielen behafteten Hände, die er mir entgegenstreckte. »Mein Name ist Ansgar Waldhaus und wie ich sehe haben Sie sich schon mit meiner Frau Sandra bekannt gemacht.« Er deutete auf das Stück Kuchen und grinste, wobei sich die Falten um seine Augen wie eine Ziehharmonika zusammenzogen.
Ich stand auf und drückte seine Hand. Wobei ich genauso gut ein Stück Stahl hätte drücken können. »Sehr erfreut, Simon Winkel mein Name«, stellte ich mich vor.
Sandra kam aus der Küche gerannt und stellte Ansgar ein Stück Kuchen vor die Nase, welches ähnliche Ausmaße hatte wie das, welches ich gerade aß. Mir kam es so vor als hätte der Herr des Hauses jahrelang gehungert, so schnell schlang er den Kuchen hinunter. »Gerne noch eins«, sagte er zu Sandra und reichte ihr den Teller entgegen, während ich mit dem ersten Stück immer noch zu kämpfen hatte. Etwas überrascht nahm ich zur Kenntnis, dass Ansgar kein Gramm zu viel auf den Rippen hatte, was man von mir wahrlich nicht behaupten konnte.
»Sie haben aber einen gesegneten Appetit.«
»Wer viel arbeitet, darf auch viel essen«, antwortete er mir knapp und das nächste Stück landete, wie von Zauberhand, vor seiner Nase. Es war ähnlich schnell in seinem Mund verschwunden, wie das Erste. Dann atmete er tief ein und aus und ließ sich gegen die Rückwand fallen. »Das war lecker.« Ansgar musterte mich kurz. »Simon, darf ich Simon sagen?«
»Natürlich.«
»Simon, Sie haben eine meiner Kühe gerettet. Ohne Sie wäre das Tier vermutlich bis zur naheliegenden Landstraße gelaufen und dann …« Er schüttelte den Kopf. » … dann hätte es einen Unfall geben können.«
»Nun ja, ich habe schon zu Ihrer Frau gesagt, dass es eine Selbstverständlichkeit ist.«
»Sagen Sie bitte Ansgar.«
Nickend nahm ich sein Angebot zur Kenntnis.
»Noch jemand einen Kaffee?«, rief Sandra aus der Küche.
Aus Anstand sagte ich nichts, doch Ansgars zustimmendes Grinsen ließ mich rufen: »Natürlich, sehr gerne.«
»Für mich auch,« sagte der Hagere und rieb sich die Hände. »Ich habe ihren Akku in den Nebenraum gelegt.«
Fragend schaute ich ihn an.
»Ihr Akku. Er war so gut wie leer. Ich lade ihn gerade für Sie auf, Simon.«
Der Akku. Soweit hatte ich gar nicht gedacht. Wahrscheinlich hätte ich in einigen Kilometern richtig treten müssen.
»Okay, das ist aber sehr aufmerksam von Ihnen, Ansgar.«
»Das ist ein außergewöhnlich gutes E-Bike. Sandra und ich haben auch welche, aber bei weitem nicht diese Qualität. Wenn ich unsere Akkus auflade, dann braucht das eine ganze Zeit und wir können etwa fünfzig Kilometer fahren. Bei Ihnen, Simon, lädt der Akku vielleicht eine Stunde bei der doppelten Reichweite.«
Verblüfft hob ich die Augenbrauen. »Sie scheinen sich ja gut mit E-Bikes auszukennen.«
»Nun, bevor wir uns welche gekauft haben, habe ich mich gründlich informiert.«
»Klar, dass sollte man auch«, antwortete ich scheinheilig. Es sollte nicht unbedingt auffallen, dass ich nicht über technisches Wissen verfügte. Zum Glück ging Ansgar nicht weiter darauf ein.
Nachdem wir unseren Kaffee getrunken hatten und Sandra mit dem Wegräumen des Geschirrs beschäftigt war, nahm mich Ansgar mit und zeigte mir den Hof der Waldhausens.
Das Anwesen hatte einiges zu bieten. Neben Kühen, Schweinen und ein paar Hühnern bewirtschaftete die Familie auch noch zwei große Felder, die in diesem Jahr Weizen und Roggen trugen. Außerdem, so erfuhr ich, hatten sie eine Tochter und einen Sohn, die beide allerdings schon vor Jahren ausgezogen waren. Der Sohn lebte in Amerika. Er hatte hier Medizin studiert und arbeitete dort nun in einem großen Labor, das sich mit den Auswirkungen pandemischer Prozesse befasste. Die Tochter wohnte in Berlin und arbeitete dort als Vermögensberaterin. Sie hatte ebenfalls studiert, erzählte mir Ansgar stolz.
Natürlich stellte er mir persönliche Fragen, aber ich versuchte meine Antworten weitestgehend zu umschreiben. Ich log. Aber ich log milde und schon gar nicht großkotzig oder bösartig. Was hätte ich ihm auch erzählen sollen? Ich bin ein kranker Diabetiker, der schon seit Jahren nicht mehr arbeitet und nun mit einem geklauten E-Bike Richtung Ostsee fährt, um sich umzubringen? Das hörte sich wirklich zu doof an. Außerdem … alles was dieser Mann geschaffen hatte, blieb mir verwehrt. Gab es da nicht diesen Spruch? Du sollst ein Haus bauen, einen Baum Pflanzen und Kinder in die Welt setzen. Nichts von dem hatte ich auch nur im Ansatz geschafft. Ich war ein Taugenichts und so nett wie diese Bauernfamilie sich gab, mir ging das alles zu weit. Ich fühlte keinen Neid, aber eine Ablehnung jeglichen Erfolgs. Wenn Leute mit ihren Kindern prahlten, schaltete ich auf Durchzug. Mir war es schlichtweg gleichgültig. Jegliche Form von Statussymbolen war mir fremd. Die ganzen Autoposer, Firmenbesitzer. Die, die jemanden Besonderen kannten und damit hausieren gingen. All das fand ich abstoßend.
Somit hatte Ansgar, ohne es zu wollen, bei mir einen wunden Punkt getroffen. Ich spielte weiter den netten Gast, ließ ihn reden, wobei ich mir wirklich Mühe gab, seine Errungenschaften als erreichtes Ziel zu würdigen. Doch wie so oft sprach mein Kopf eine andere Sprache wie die, die aus meinem Mund kam. Und in diesem Fall tat es mir leid, weil sich die beiden wirklich Mühe gaben gute Gastgeber zu sein. Mir wurde mit einem Schlag bewusst, warum ich diese Reise angetreten hatte und warum ich dem Ganzen ein Ende setzen musste. Ich war einfach ein Griesgram, sah nur das Schlechte und bemühte mich gut zu sein. Alles verstellt, nicht echt. Ich lebte eine Lüge.
Als ich wieder losfuhr, standen Sandra und Ansgar eng umschlungen vor der Haustür und winkten mir zum Abschied.
»Vielen Dank für den Kuchen, den Kaffee und das Aufladen«, rief ich zurück.
Der Weg Richtung Ende hatte mich wieder. Ein kleiner Hoffnungsschimmer, einmal das Gute im Menschen zu sehen, hatte sich durch meine schlechten Gedanken in Luft aufgelöst. Gedanken: Schranken in meinem Kopf. Die mein Leben bestimmten und mir nicht die Wahl ließen, frei oder einfach nur ich zu sein.
Kapitel 3
Ich trat kräftig in die Pedale, um möglichst viel Raum zwischen mich und die Waldhausens zu bringen. Ich floh förmlich aus ihrer heilen Welt, die mir all das gezeigt hatte, was ich nicht hatte und nie haben würde.
Meter um Meter brachten mich weg von Dingen, die sich mir nie erschlossen hatten.
War es doch Neid? Warum hatten manche Menschen einfach nur Glück und anderen schien das Pech für immer an den Schuhen zu kleben?
Mir fiel dieses blödsinnige Märchen ein, indem Goldmarie und Pechmarie ihr Unwesen trieben. War es Frau Holle gewesen? Ich konnte es nicht mehr genau sagen. Ich wusste nur noch, dass die Moral der Geschichte war, dass man sich Glück erarbeiten musste.
Aber war das wirklich so? Hatte ich nicht alles versucht, um ein brauchbares Mitglied dieser Gesellschaft zu werden?
Oder war uns alles vorbestimmt? War unser Weg von unserer Geburt an festgelegt? Ein schöner und einfacher Gedanke. Denn wenn es so wäre, dann könnte man die Hände in den Schoß legen und sagen: Ich kann überhaupt nichts für meine Misere. Dieses miese Schicksal ist schuld.
Doch so war ich nicht. Im Gegenteil. Jede meiner Handlungen, die zu meinem traurigen Dasein geführt hatten, hatte ich tausendfach hinterfragt. Und mir immer wieder eingestehen müssen, dass ich an Weggabelungen oft die falsche Abzweigung genommen hatte.
Der Gedanke erinnerte mich an mein aktuelles Problem. Ich hatte meine Flucht vor der heilen Welt recht kopflos angetreten und als ich jetzt etwas langsamer fuhr, bemerkte ich, dass ich nicht den kleinsten Schimmer hatte, wo ich mich befand.
Ich hielt an und blickte mich um.
Aber auch das brachte mich nicht weiter. Keine Schilder in Sicht, nur ein asphaltierter Feldweg, Felder, Wiesen und ein kleines Wäldchen.
Ich stieg vom Rad und bemerkte erstaunt, dass mir jetzt schon mein verlängertes Rückgrat wehtat. Dabei war ich, summa summarum, noch keine zwei Stunden im Sattel. Wie hielten das diese Irren bei der Tour de France eigentlich aus? Klar, Doping. Eine Sache, die mir, trotz aller Medikamente, die ich mit mir führte, nicht zur Verfügung stand.
Ich angelte meine Tasche aus dem Fahrradanhänger, nahm eine Flasche Wasser heraus und tat einen kräftigen Schluck. Dann blickte ich mich noch einmal um.
Was, zum Henker, tat ich hier eigentlich? Welcher Wahnsinn hatte von mir Besitz ergriffen? Wollte ich tatsächlich 600 Kilometer bis zur Ostsee radeln?
Es dauerte einen Moment, bis ich mich wieder im Griff hatte.
Nein, diese Distanz wollte ich nicht auf diesem unbequemen Sattel zurücklegen. Ich hatte nur einfach losgewollt und mich unüberlegt auf den Weg gemacht.
In zwei oder drei Tagen würde neues Geld auf meinem Konto sein und dann würde ich die restliche Strecke mit der Bahn zurücklegen.
Was in meiner jetzigen Situation aber bedeutete, dass ich noch mindestens zwei Tage und, was noch viel schlimmer war, zwei Nächte unterwegs sein würde.
Was hatte ich mir nur dabei gedacht?
Um bei der Wahrheit zu bleiben: Nichts!
Trotzdem wollte ich erfahren, wo ich mich eigentlich befand und angelte mein Handy aus der Tasche.
Es war ein relativ neues Modell, erst drei Monate alt und die Akkulaufzeit war zum Glück noch in Ordnung. Stand jetzt 94%. Aber ich hatte auch noch eine Powerbank bei mir, die mir noch drei oder viermaliges Aufladen gestattete. Des Handys natürlich, für das E-Bike würde es nicht reichen.
Ich schaltete Google Maps, nebst GPS ein und erfuhr schnell, dass ich mich auf dem Weg nach Krefeld befand.
Okay, dafür musste ich noch fünfzehn Kilometer hinter mich bringen, aber die grobe Richtung stimmte schon mal.
Und von Krefeld an die Ostsee war es ja quasi nur noch ein Katzensprung.
Ich durchsuchte noch einmal meine hastig gepackte Tasche. Zwei T-Shirts, eine kurze Hose, Unterwäsche, Ladegerät fürs Handy, eine Jacke, Kekse und jetzt nur noch eineinhalb Flaschen Wasser.
Ich überlegte kurz, ob ich meine lange Jeans gegen die kurze Hose tauschen sollte, entschied mich aber dagegen.
Noch ein kurzer Schluck aus der Flasche und dann wieder zurück in den Sattel.
Mein Hintern protestierte sofort, aber auf Einzelschicksale konnte ich keine Rücksicht nehmen.
Mein Handy gab die Richtung vor und ich folgte.
Ich achtete nicht darauf wie viele Kilometer ich schaffte, wollte mich nicht selbst entmutigen. Natürlich war ein E-Bike bequemer zu fahren als ein gewöhnlicher Drahtesel, aber ich musste mir selbst eingestehen, dass mich dennoch jeder Tritt anstrengte. In den letzten Jahren war die größte Entfernung, die ich zurückgelegt hatte, die Meter zwischen Couch und Kühlschrank gewesen. Kondition hatte ich dabei nicht aufgebaut.
Eine Dame mit Hund kam mir entgegen und sie musste schon von weitem mein Keuchen gehört haben. Sie hielt sich nicht mit einer Begrüßung auf, sondern rief mir nur ein besorgtes: »Geht es Ihnen gut?«, zu.
Ich winkte nur, unfähig zu sprechen und quälte mich an ihr und ihrem mitleidig blickenden Hund vorbei.
Was hätte ich ihr auch sagen sollen? Bin unterwegs zur Ostsee, um mein Leben zu beenden?
Sie hätte mir nicht geglaubt. Sah ich doch eher danach aus als würde ich schon in den nächsten fünf Minuten tot vom Fahrrad fallen.
Als die Dame nicht mehr zu sehen war, ging ich noch weiter vom Gas.
Nur ganz anhalten wollte ich nicht, weil mir klar war, dass ich dann nie wieder weiterfahren würde.
Trotzdem wurde mein Gehirn wieder etwas besser mit Sauerstoff versorgt und sofort meldete es Probleme an.
Es konnte nicht ewig dauern, bis es dunkel wurde und ich musste eine billige Unterkunft finden. Mit fünfzig Euro schied eine Suite im Hilton jedenfalls aus.
Ich kam jetzt an vereinzelten Häusern vorbei, Vorboten vom wunderschönen Krefeld Forstwald.
Ich war noch niemals hier gewesen, es sah jedoch nicht so aus, als würde hier Gasthaus an Gasthaus und Hotel an Hotel stehen. Ich fürchtete es gab nicht einmal eine Jugendherberge.
Mir war allerdings auch klar, dass ich heute nicht weiterkommen würde. Meine Oberschenkel schmerzten. Meine Arme zitterten so stark, dass ich Schlangenlinien fuhr und mein Gesicht brannte von Sonne und Fahrtwind. Nur mein Hintern meldete sich seit gut einer Stunde nicht mehr. Wahrscheinlich war er abgestorben.
Sollte ich einfach anhalten, an einer Tür klingeln und nach einer Bleibe für eine Nacht fragen?
Die würde ich sicherlich bekommen. Allerdings in einer Polizeizelle.
Schon wurden die Häuser wieder spärlicher und ich durchfuhr ein kleines Waldstück. Der Schatten tat gut, ein kühles Lüftchen wehte, nur die Sicht war nicht besonders gut, weil sich helle und dunkle Flecken stetig abwechselten.
Oder mein Kreislauf versagte schon.
So genau konnte ich es nicht sagen, aber es war wenigstens eine kleine Entschuldigung dafür, dass ich beinahe einen Mann umfuhr.
Ich bremste, hätte es aber nicht mehr geschafft, rechtzeitig zum Stehen zu kommen, doch der Mann hatte hervorragende Reflexe und sprang von der Straße ins Unterholz.
Als das Fahrrad endlich anhielt, sprang ich ab und wollte nach dem Rechten sehen, doch meine Beine machten nicht mehr mit.
Plötzlich hatte ich stechende Schmerzen und schien keinen Schritt mehr machen zu können.
Meine Augen flimmerten und die hellen und dunklen Flecken blieben. Schien vielleicht doch der Kreislauf zu sein.
Der Mann kam wieder auf die Straße und jetzt bemerkte ich erst, dass es zwei waren. Oder sah ich schon doppelt oder halluzinierte?
Ich richtete mich auf Ärger ein, wollte eine Entschuldigung brabbeln, aber mein Mund war plötzlich so ausgetrocknet wie die Wüste Gobi und meine Zunge schien auf die doppelte Größe angewachsen zu sein.
»Ich, also ich...«, schaffte ich doch noch irgendwie, dann versagten mir meine Beine völlig den Dienst.
Ich sah noch den staubigen Asphalt auf mich zukommen, dann wurde es dunkel.
Ich erwachte. Jedenfalls glaubte ich es. Vorsichtig öffnete ich die Augen, doch die Dunkelheit blieb.
Ich bemerkte, dass ich nicht mehr auf dem asphaltierten Feldweg lag, sondern auf weichem Waldboden. Jemand hatte mir meine Tasche als Kissen unter meinen Kopf geschoben und mich mit meiner Jacke zugedeckt.
Eigentlich ganz gemütlich, trotzdem wollte irgendetwas in mir wissen, was hier vor sich ging.
Vorsichtig richtete ich mich auf und sah nicht weit von mir zwei Gestalten sitzen. Offensichtlich hatte man nicht vor, mich zu berauben, denn auch mein Fahrrad stand in der Nähe.
Ich zog die Beine an und ging in die Hocke. Es war Nacht, aber Sterne und Mond lugten durch Baumkronen und ich konnte die Szenerie überblicken.
Mein Stöhnen blieb nicht ungehört und einer der Männer blickte zu mir herüber.
»Oh«, machte er nur und stupste seinen Kameraden an. »Unser Patient ist erwacht.« Er grinste und im Mondlicht blitzten seine strahlend weißen Zähne.
»Komm rüber, setz dich zu uns«, forderte der andere mich auf und ich kam seinem Wunsch nach.
Wieder stöhnte ich, als meine Knie knackend protestierten und meine Oberschenkelmuskulatur in Flammen aufging.
Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, schleppte mich näher an die beiden heran und ließ mich sofort wieder fallen, wie ein nasser Sack.
»Wie geht es dir?«, fragte einer der beiden und ich versuchte cool abzuwinken. »Muss«, sagte ich knapp, aber sie brauchten keine Hellseher zu sein, um meine Lüge zu durchschauen.
Ich musterte meine Retter und wunderte mich gleichzeitig über diese völlig irreale Situation. Normalerweise hätte mir die Begegnung mit Fremden Unbehagen bereiten müssen. Noch vor ein paar Stunden hätte ich vermutlich Angst gehabt. Jetzt war ich vollkommen ruhig. Was sollte mir auch schon passieren? Ich hatte mit dem Leben abgeschlossen. Nichts konnte mir etwas anhaben. War das eine seltsame Art von Freiheit?
Mir fiel ein alter Song ein. Me and Bobby McGee von der genialen, viel zu früh verstorbenen Janis Joplin. Okay, eigentlich hatte Kris Kristofferson das Ding verbrochen, aber die Version von Janis war die bekanntere. Schwamm drüber!
Freedom's just another word for nothing left to lose, heißt es darin.
Hatte ich diese Freiheit erreicht, weil ich wirklich nichts mehr zu verlieren hatte? Außer dem bisschen Leben natürlich.
Meine Gedanken kreisten.
»Kannst du auch reden?«, wurde ich wieder angesprochen. Ich war in letzter Zeit so wenig unter Leuten gewesen, dass es mir gar nicht mehr auffiel, dass ich nur in Gedanken unterwegs war.
»Doch, doch«, machte ich dann nur und blickte mich um. Jetzt erst bemerkte ich vier Balken, die senkrecht in die Höhe wuchsen und weit über mir eine Decke aus Holzbrettern.
»Das ist ein Hochstand, für die Jagd«, meinte einer meiner neuen Freunde, der meinen ratlosen Blick bemerkt hatte.
Langsam fand ich meine Stimme wieder. »Danke, dass ihr mir geholfen habt«, sagte ich und fand es gar nicht mehr seltsam wildfremde Menschen zu duzen.
Jetzt hatte ich die Gelegenheit, meine Retter näher zu betrachten. Der eine war klein, aber unglaublich kräftig gebaut. Mit blonden kurzen Haaren und einem gestutzten Vollbart. Der Zweite war hager und groß, mit einer lockigen Matte, wie Wolle Petry zu seinen besten Zeiten und einem wilden Vollbart, der ihm bis auf die Brust fiel. Beide trugen schwarze Cordhosen, weiße Hemden unter einer schwarzen Weste, grobe Schuhe und breitkrempige Hüte lagen an ihren Seiten.
»Ihr seid auf der Walz«, es war keine Frage von mir, sondern eine Feststellung und ich war verdammt stolz auf meine Scharfsinnigkeit.
Der Blonde nickte und zeigte wieder sein Zahnpastalächeln. »Wenn das die eine Million Euro Frage gewesen wäre, dann bräuchtest du dir über deine finanzielle Situation jetzt keine Gedanken mehr zu machen.«
»Ich dachte so etwas gibt es gar nicht mehr«, meinte ich und fühlte mich sofort gar nicht mehr so klug.