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Untersuchungsmaterial und Methodik

Die Erforschung der Alltagsgeschichte des Bündner Polizeiwesens ist, so kann die Brücke zu den vorangehenden Bemerkungen geschlagen werden, auf die Ergründung von vorfindbaren Kommunikationsüberlieferungen (und in diesem Sinn auch Entscheidungsspuren) angewiesen. Hierin zeigt sich besonders gut, dass der bislang in der Polizeigeschichtsschreibung oftmals unilateral erfolgte Rückgriff auf gedruckte Quellen (Instruktionen, Reglemente, Gesetze) oder schriftliche Verordnungen und Weisungen mit instruierendem und allgemeingültigem Charakter nur einen eingeschränkten Blick in den Alltag der Polizeibeamten gewährt.78 Obwohl die Abbildung der damaligen Realitäten aus der Retrospektive immer eine Utopie bleiben wird, können kommunikative Produkte des Polizeialltags (und dies sind in regelmässigen Abständen verfasste Landjägerrapporte weit eher als sporadisch erscheinende Instruktionen oder für das Gesamtkorps erlassene Weisungen) diesem Anspruch um ein Vielfaches gerechter werden. Dadurch nämlich können auch die sogenannten Grenzen des Systems wesentlich besser herausgearbeitet werden. Wenn also beispielweise nach dem formalen Polizeisystem gefragt wird, kann bald festgestellt werden, dass die Erforschung dieses von den Leitungsgremien verkündeten oder zumindest tolerierten formal-normativen Rahmens durch die Besichtigung von erlassenen Instruktionen und Ähnlichem allein sehr lückenhaft wäre. Noch augenscheinlicher wird dies, wenn die Rahmenbedingungen des Ersten Teils verlassen werden und nach den polizeilichen Alltagspraktiken gefragt wird beziehungsweise wenn beispielsweise die tatsächlichen Vorgehensweisen der Polizeibeamten im Kontext dieser formal-normativen Rahmenbedingungen im Mittelpunkt des Interesses stehen. Quellengattung und Art der Fragestellung stehen – hierbei handelt es sich in der Geschichtswissenschaft beileibe nicht um eine neue Erkenntnis – in einem überaus determinierenden Verhältnis. In einem solchen sozialgeschichtlichen Ansatz zur Rekonstruktion des Polizeialltags geht es somit (wenn die Begriffe der Kommunikationen und Entscheidungen auf eine metaphorische Ebene gestellt würden) zunächst um nichts anderes als eine Anhäufung von unzähligen kleinen Situationen oder eben Steinchen, welche sich durch die systematische Gruppierung und Selektion wie ein Mosaik zu einem Gesamtbild zusammenfügen lassen. Dabei stellt sich dem Historiker stets von Neuem die zentrale Frage, welche Betrachtungsweisen möglichst aussagekräftige Bilder ermöglichen. Insofern ist die Frage nach der überzeugenden Auswahl der Quellen und der passenden Vorgehensweise eminent wichtig.

Quellenanalyse

Wenn nach den Alltagspraktiken und der Alltagsgeschichte der Polizeibeamten zwischen 1818 und 1848 im Allgemeinen gefragt wird, stehen die überlieferten Produkte des Alltags, das heisst die zahlreichen Rapporte der auf den Landjägerstationen des Kantons postierten Bündner Polizeibeamten, im Zentrum des Interesses.79 Sie wurden monatlich verfasst und dem Verhörrichteramt beziehungsweise dem späteren Polizeidirektorium ex officio, das heisst per Bote und auf Kosten des Kantons, zugesandt. Im Fall Graubündens ist deren archivalische Aufbewahrung doppelt erfreulich. Einerseits ist die Überlieferung dieses Quellenbestands per se ein Glücksfall: Diese Produkte des Alltags galten im archivalischen Aussortierungsprozess des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und in einer Zeit, in der das Interesse des Historikers in erster Linie auf ereignisgeschichtliche Fragen ausgerichtet war, oftmals als minderwertig, sodass diese Quellen in vielen staatlichen Archiven entweder früher oder später vernichtet wurden oder aber gar nie den Weg in diese Aufbewahrungsstätten gefunden haben. Die einzigartige Situation Graubündens, in dessen Staatsarchiv ein überaus grosser Quellenkorpus an Landjägerrapporten erhalten geblieben ist, könnte nicht zuletzt in der systematischen Führung der Einzeldokumente begründet sein. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass im Verhörrichteramt sämtliche Rapporte in chronologischer Reihe erfasst wurden und eine eigene Signatur erhielten. Dabei, und dies ist der zweite grosse Vorteil bei der Besichtigung des Quellenkorpus, wurden auf sämtlichen Rapporten die Antworten, die sogenannten Weisungen des Verhörrichters beziehungsweise des Polizeidirektors notiert, sodass von beiden Seiten gewinnbringende Aussagen und Überlieferungen zum systemkonstituierenden Kommunikationsprozess erhalten sind. Diese Antworten oder eben Weisungen entsprangen durchgehend der Feder des ersten permanent gewählten Verhörrichters beziehungsweise späteren Polizeidirektors Heinrich de Mont. Die handschriftlichen Wortlaute geben dabei interessante Rückschlüsse auf seine Überlegungen, da vorhandene Streichungen und Ergänzungen Einsicht in Kommunikationsmutationen geben.80

4 Rapport des Landjägers Jakob Jecklin betreffend gesundheitliche Beschwerden, Thusis 20. 12. 1828 (Vorderseite). Am linken Rand des Dokumentes die anschliessende Weisung des Verhörrichters an den Landjäger, Chur 24. 12. 1828.

Überliefert sind im Staatsarchiv Graubünden die zu jeweiligen Jahresbündeln zusammengefassten Rapporte für den Zeitraum zwischen 1818 und 1848. Deren Umfang kann pro Jahr bis über 300 Einzelsignaturen beinhalten, wobei oftmals auch Dokumente in Dossierform enthalten sind, die ihrerseits mit weiteren angehängten Dokumenten späterer oder früherer Entstehung, welche aber thematisch mit dem konkreten Rapport verbunden waren, versehen sind. Dadurch kann die absolute Dokumentenmenge eines Jahres weitaus mehr als 300 Exemplare umfassen.81

Neben diesem im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung stehenden Quellenkorpus gibt es in einzelnen Unterabteilungen der im Staatsarchiv Graubünden gelagerten Dokumente zum Polizeiwesen noch weiteres Material, das für die Untersuchung von Bedeutung ist.82

Aus quellenkritischer Perspektive darf nicht vergessen werden, dass sich gerade die Landjägerrapporte durch einen bestimmten (zum Teil erheblichen) Grad an Vorselektion auszeichnen. Für die folgende Untersuchung muss nicht nur berücksichtigt werden, dass es sich bei diesen Kommunikationen um die Beschreibung von Beobachtungen zweiter oder noch späterer Ordnung handelt und damit immer mit den erwähnten blinden Flecken gerechnet werden muss, sondern dass im Gegensatz zu dieser unbewussten Selektion stets auch intendierte Akzentuierungen oder Weglassungen mitberücksichtigt werden müssen (wobei deren Inhalte dadurch oftmals nicht mehr rekonstruiert werden können). Das Quellenmaterial, das für die Rekonstruktion des Polizeisystems herangezogen wird, ist also immer das Resultat einzelner Entscheidungen, denen bewusste und unbewusste Vorselektionen vorausgegangen sind. Indem man gezwungen ist, den Alltag aus den Rapporten an die Polizeileitung herauszulesen, wird weiter auch erkennbar, dass diese Färbung (in der Regel) zwangsläufig ein Resultat vorhandener Hierarchieverhältnisse ist. Ansprechend ist diesbezüglich Behrs Verweis auf ein sogenanntes «hermetisches Vertexten» beziehungsweise eine «polizeiliche Konstruktion der Wirklichkeit», denn in der Regel würden polizeiliche Handlungen «so dokumentiert, dass sie vom Vorgesetzten akzeptiert werden» könnten.83 Für eine hermeneutische Begegnung mit dem Material muss diesem Umstand grosse Beachtung geschenkt werden. Dennoch kann die Rekonstruktion des Alltags der Polizeibeamten erstens nur über die Interpretation dieses Quellenmaterials gehen, da für den zu untersuchenden Zeitraum mit einer kleinen Ausnahme kein privates Brief- und Aktenmaterial der Bündner Landjäger verfügbar ist.84 Zweitens sind auch aus anderweitigem Quellenmaterial der Untersuchungszeit – zu denken ist an Reisebeschreibungen, zeitgeschichtliche Forschungsarbeiten, Zeitungen (in sehr marginalem Umfang vorhanden) oder beispielsweise Akten aus Privatarchiven, welche in irgendeiner Form das Bündner Polizeiwesen thematisieren – nur spärliche und höchstens punktuelle Aussagen zu gewinnen. Dieses Manko ist Herausforderung und Chance zugleich: Das vorhandene Quellenmaterial soll nämlich nach den verschiedensten alltagsrelevanten Aspekten durchleuchtet werden, 85 und es wird nach Aussagen Ausschau gehalten, die beim ersten Lesen leicht übergangen werden und aus ereignisgeschichtlicher Perspektive als regelrechte Banalitäten verstanden würden. Ebenso sehr interessiert immer auch die Frage nach dem Nichtgesagten.86 Angesichts der Kontingenz wird somit auch erklärbar, dass ein- und derselbe Rapport in Anbetracht des darin vorfindbaren Themenbezugs je nachdem mehrfach, das heisst in verschiedenen Kapiteln herangezogen wird, wobei, sofern angebracht, auch mit Querverweisen gearbeitet wird.

Zum Abschluss dieser quellenkritischen Bemerkungen bleibt der Hinweis auf den Faktor Selektion aufseiten der Polizeileitung. Hier gründet diese unter anderem in fehlenden Signaturnummern (zu denken ist an die Verwendung der Akten für andere Dokumentationsmappen, Personen oder Instanzen bis hin zu regelrechtem Verlust oder sogar Eliminierung der Unterlagen) oder etwa in unbeantworteten Fragen (infolge mündlicher Weisungen vor Ort, schlichter Unterlassung oder gar Versäumnisses).

Aufbau

Die vorliegende Untersuchung des Bündner Polizeisystems ist konzeptionell in drei Teile gegliedert. Im Ersten Teil werden die formal-normativen Rahmenbedingungen des Polizeisystems erörtert. Es handelt sich diesbezüglich um die von der Polizeileitung und den politischen Behörden intendierten oder angeordneten Normen und nicht um solche, die sich innerhalb der niederen Polizeibeamtenschicht informell konstituierten oder manifestierten. Eine ausschliessliche Fokussierung auf gedruckte Instruktionen und Reglemente indes genügt für die Untersuchung dieses Aspekts bei Weitem nicht, denn neben den explizit nach aussen vermittelten Anforderungen gilt es, aus dem Untersuchungsmaterial das ganze Kompendium des nach innen gerichteten Normenwerks mit den entsprechenden Gesetzmässigkeiten herauszufiltern. Dabei geht es auch darum, das vordergründig Implizite und Ungesagte sichtbar werden zu lassen, wobei hier je nach Thematik durchaus auch nach organisationsimmanenten Machtkompositionen gefragt werden muss. Im Zentrum stehen folglich nicht unbedingt Legitimierungsfragen der Polizei, sondern die Soll-Fragen des polizeilichen Alltags: Wie sollte das typische Landjägerprofil aussehen? Wie sollte der Alltag der Landjäger organisiert sein? Wie sollten die Landjäger mit Fragen wie Zeit- und Finanzhaushalt umgehen? Dabei müssen für die Ergründung des formalen Polizeisystems jedoch expressis verbis auch Alltagspraktiken berücksichtigt werden, denn in bestimmten Bereichen, gerade bei nach innen gerichteten Normen, werden die Grenzen nur an den sich den rapportierten Alltagspraktiken anschliessenden korrigierenden Weisungen ersichtlich.

Demgegenüber behandelt der Zweite Teil die Alltagspraktiken der Polizeibeamten vornehmlich aus der Perspektive der Landjäger; im Zentrum steht weit eher die Ist- als die Soll-Frage. Hier wird der systemtheoretische Ansatz Luhmanns besonders interessant, denn die Kommunikationen beziehungsweise Entscheidungen der einzelnen Landjäger sind aus deren Perspektive als konstitutive Elemente zu verstehen, welche die Autopoiesis des Polizeisystems in dessen evolutivem Fortgang prägten. Während den Anhängern eines in der theoretischen Einleitung vorgestellten kulturtheoretischen Ansatzes im Ersten Teil trotz mehreren Einwänden noch in Teilen beizupflichten wäre (Stichwort ‹Polizeikultur›), müsste eine analoge Gleichsetzung des Zweiten Teils mit der sogenannten Polizistenkultur (Behr) als umso weniger zufriedenstellend gewertet werden. Als Hauptproblem erweist sich der Faktor des Ein-/Ausschlusses von Personen, der im Kulturbegriff inhärent ist. Die im Kapitel System zur Hauptthematik erklärten Kommunikationen und Entscheidungen sind im vorliegenden Verständnis als systemkonstitutiv zu verstehen, und es soll gleichzeitig darauf hingewiesen werden, dass vorgelegte Interaktionsformen nicht pauschal für Typen des Gesamtkorps zu erklären sind. Insofern wird die Schwäche des von Behr propagierten polizistenkulturellen Ansatzes hier am augenfälligsten. Indem wenn immer möglich auch die sich den einzelnen Kommunikationen anschliessenden Folgekommunikationen – Weisung des Verhörrichters/Polizeidirektors, nachfolgender Rapport des Landjägers und so weiter – berücksichtigt werden müssen, soll danach gefragt werden, wie sich das Polizeisystem evolutiv weiterentwickelte: Wie erkannten und bewerteten die Polizeibeamten durch die Auslegung der Definitionsmacht die Grenzen des Systems, und welche individuellen Normen auferlegten sie sich in der Folge? Beeinflussung sowie kommunizierte oder auch stillschweigende Aufnahme beziehungsweise Ablehnung konnte hier sowohl bei der Polizeileitung als auch bei den rangniedrigen Polizeibeamten erfolgen. Der Verweis auf das Prozesshafte ist hier besonders wichtig: Aussagen zum Polizeisystem sind immer als Ausschnitte aus einem sich evolutiv fortentwickelnden Prozess zu verstehen: Wenn beispielsweise eine Polizei-Bürger-Interaktion untersucht wird und danach gefragt wird, inwiefern die Kommunikation des Polizeibeamten und im Besonderen die kommunikative Reaktion darauf nach dem Dualismus Macht haben/keine Macht haben codiert war, kann in Erfahrung gebracht werden, wie der Polizeibeamte diese Interaktion aus späterer Beobachtung beurteilte und inwiefern sie aus seiner Sicht die Grenze des Systems gebildet hat. Möglich ist eine vom Polizeibeamten rezipierte Bestätigung seiner Macht, das Gegenteil oder aber auch eine zwischen diesen beiden Extrempositionen liegende Auffassung. Da ein Urteil mehrere Selektionen erfahren hat und nicht alle Folgekommunikationen bekannt sind, können auch nur Momentaufnahmen gemacht werden. Das gemachte Urteil muss insofern nicht zwangsläufig für die gesamte Untersuchungszeit Gültigkeit haben. Aus der Retrospektive und infolge der vielen Selektionen bleibt dem Forscher diesbezüglich keine Alternative, wobei in Anbetracht der Evolution eines Systems, in welcher ein absoluter Verharrungsmoment durchaus theoriefremd erscheinen muss, dieses scheinbare Problem ohnehin relativiert werden muss.

Aus den obigen Anmerkungen ergibt sich demnach, dass im Zentrum des Zweiten Teils Bewältigungsstrategien der Landjäger, vorkommende Interaktionsmuster in unvorhergesehenen Situationen sowie die Verschiedenartigkeit der Interaktionskreise im Polizeialltag stehen.87 Dabei interessieren immer auch die (Nicht-)Kommunikationen und (Nicht-)Entscheidungen, welche sich aneinanderreihen, und damit verbunden die Frage, wie sich das System durch entsprechende Sinngebung gegenüber seiner Umwelt abgrenzte.

Abschliessend wird im Dritten Teil nach dem Innenleben der Polizeibeamten gefragt. Im Zentrum steht die Frage, wie die Landjäger ihren Beruf und ihren Alltag bewerteten. Im Wissen, dass dieser Versuch zur sogenannten Eruierung der Psychologie der Landjäger anhand eines Quellenkorpus erfolgen muss, der sowohl in der Entstehung als auch in der Weiterverwendung eine Vielzahl von bewussten und unbewussten Selektionen88 durchwandert hat, kann dieses Unterfangen auch nur in Ansätzen und mit einiger Relativität der Aussagen erfolgen. Dennoch ist die Frage nach der Identifikation mit dem Beruf zu wichtig und zu spannend, als dass sie für die Untersuchung unbeantwortet bleiben kann. Das vermeintlich Gedachte und Gefühlte gelangt folglich entweder gar nicht oder nur andeutungsweise zum Ausdruck. Dabei handelt es sich um sogenannte psychologische Dispositionen wie das Selbstbild, um verschiedene Konzepte wie dasjenige der Macht und der Sicherheit bis hin zu Diskrepanzen zwischen dem Idealbild und der Wirklichkeitsrezeption. Wenn auch der in der Systemtheorie Luhmanns verwendete Begriff des psychischen Systems in gewisser Weise fremd erscheinen muss, kann der Vorstellung, dass diese Gedanken im Handeln, also in den Kommunikationen und Entscheidungen der Landjäger, eine zentrale Rolle spielten und insofern einen wichtigen Einfluss auf den Alltag und das Polizeisystem ausübten, eine sehr relevante Dimension zugesprochen werden. In der Vorgehensweise hätte dieser Dritte Teil folglich auch an zweiter Stelle gesetzt werden können. Diesbezüglich gilt jedoch zu unterstreichen, dass die Perspektive auf psychologische Komponenten fruchtbarere Resultate liefert, wenn sie sowohl nach den von oben definierten formellen Rahmenbedingungen (Erster Teil) als auch nach der Alltagspraxis (Zweiter Teil) thematisiert wird, denn die Interpretation (und das Verständnis) der Gefühlszustände hinter dem äusserlich Sichtbaren der Alltagspraxis kann in gewisser Weise nur dann erfolgen, wenn diese zuerst auch wirklich sichtbar gemacht wurde.

Die Polizei als formales Organisationssystem

Der erste Schritt zur Annäherung an eine möglichst umfassende Darstellung des Landjägerkorps tangiert in erster Linie organisationstechnische Merkmale. Diese werden zuerst bei der Auswertung und dem Vergleich von Instruktionen erkennbar. Daraus lässt sich eine Art Berufsleitbild rekonstruieren, welches eine kurze und prägnante Idee von den grundlegenden Verpflichtungen und Aufgaben der ersten Bündner Berufspolizisten gibt. Es ist denn auch diese erste Untersuchungsebene, über welche die mehrfach erschienenen Jubiläumsschriften kaum hinausgingen.89 Für eine Annäherung an den Untersuchungsgegenstand ist indes eine Auseinandersetzung mit dieser ersten Ebene von Vorteil, weil damit der Kernauftrag des Landjägerdienstes deutlich herausgestrichen werden kann. Obwohl nämlich das erste Dekret für das Bündner Landjägerkorps (30. 5. 1804) im Lauf des ersten halben Jahrhunderts mehrere Ergänzungen und Ersetzungen erfuhr, blieb es in seiner Funktion (gleichzeitig auch als erste Publikation zur Aufstellung eines Korps dienend) in seiner äusserst knappen Form für den zu untersuchenden Zeitraum durchgehend richtungsweisend. Die Hauptbotschaft des Dekrets lässt sich dabei auf den ersten Satz reduzieren:

«[Der Kleine Rat hat] in Folge des ihm ertheilten Auftrags ein Piquet von 8 Landjägern aufgestellt […], welche dazu bestimmt sind, den Kanton von allen fremden Landstreichern rein zu halten, und dadurch auch dem so lästigen Betteln zu steuren.»90

Der Wortlaut verdeutlicht, wie eine Herrschaftsgewalt (Kleiner Rat als Staatsregierung) eine neue Berufsgruppe (Piquet von acht Landjägern) aus der Taufe hebt und ihr eine Zielgruppe (Landstreicher und Bettler) und einen Hauptauftrag zur Ausführung (Reinhaltung des Herrschaftsgebiets von dieser Zielgruppe) erteilt. Diese reduzierte Formulierung der Beziehungsstruktur lässt erkennen, was Weber bei der Wiedergabe seiner Typologie legitimer staatlicher Herrschaft, die den Prinzipien der Bürokratisierung verpflichtet war, aufzuzeigen beabsichtigte. Für den ersten Schritt der vorliegenden Untersuchung erweist sich diese Kurzform trotz den erwähnten Vorbehalten als hilfreich. Obwohl sich nämlich die tatsächliche Durchsetzungsfähigkeit der Regierung beziehungsweise des Grossen Rates als oberste Verwaltungsund Polizeibehörde91 nach Entstehung des Kantons Graubünden (1803) in etlichen Aspekten noch als problematisch erweisen sollte, war ein Macht- und Staatsapparat entstanden, welcher sich den Prinzipien bürokratischer Herrschaftsgewalt verpflichtet sah. Das Landjägerkorps bildete in diesem Weber’schen Konstrukt legaler Herrschaft einen von mehreren im Lauf der Jahre aufgebauten Verwaltungsstäben – und zwar, wie Salathé dies treffend festhält, in Form einer «vorgeschobene[n] ‹Front›» und durch den «unmittelbarsten» Kontakt «zu Verwaltenden bzw. zu Beherrschenden»92. Da sich legale Herrschaft explizit auf Gesetze und Reglemente stützt, leuchtet es ein, dass der Vergleich der verschiedenen Instruktionen auch den ersten Schritt zur genaueren Darstellung des Polizeisystems bildet. Dabei kann erstens aufgezeigt werden, dass im Fall Graubündens eine Transformation des Pflichtenheftes einsetzte, als die Polizeibeamten zusehends auch für eine erweiterte Zielgruppe und nicht mehr ausschliesslich für die oben erwähnten Landstreicher und Bettler zuständig waren. Zweitens wird ersichtlich, dass die in den Instruktionen festgelegten organisatorischen Bestimmungen zu einer fortschreitenden Ausdifferenzierung des Polizeisystems führten. Der Blick auf die Instruktionsgeschichte der untersuchten Zeit nämlich bringt im Fall Graubündens vier komplette Hauptreglemente, die jeweils ihre Vorgängermodelle ablösten, sowie mehrere Einzelabänderungen und -ergänzungen zum Vorschein: Die erste unpublizierte Instruktion von 180493 wurde kurz vor Ende der Mediationsphase einer ersten kleinen Revision unterzogen. Diese neu entstandene Instruktion von 181394 nun war etwas umfassender und genauer formuliert und in vier Hauptabteilungen unterteilt: I. Organisation und Bestimmung der Landjäger, II. Instruktion (allgemeine Pflichten der Landjäger), III. Disziplin und IV. Besoldung, Montierung und Dienstzeit der Landjäger. Im Vergleich zur Instruktion von 1804 ging die auf sie folgende Ausgabe konkreter auf die zu leistenden Verrichtungen der Landjäger ein und versuchte, diese möglichst klar zu umschreiben, um Missverständnissen vorzubeugen.95

Nach einem Nachtrag zur Instruktion von 181396 wurde das neue Reglement für die Landjäger im Jahr 1828 erstmals in umfassender Form in der Amtlichen Gesetzessammlung des Kantons Graubünden97 abgedruckt. Diese neue Instruktion von 1828 umfasste nunmehr 35 Artikel, darunter neue Vorschriften im Bereich der Strassen-, Gewerbe- und Gesundheitspolizei.98 Nach einer Nachtragsverordnung schliesslich, die insbesondere Disziplinar- und Hierarchiefragen an den Zollstätten beinhaltete, 99 erhielt das Bündner Landjägerkorps innerhalb des in der vorliegenden Untersuchung behandelten Zeitraums im Jahr 1840 seine letzte neue Instruktion.100 Diese war von einem Spezialreglement begleitet, welches im Zusammenhang mit den grossrätlichen Massnahmen zum Armenwesen stand101 und den Landjägern zusätzlich ausgehändigt wurde. Das Hauptreglement von 1840 sollte für die Bündner Polizeibeamten bis zur neu erlassenen Instruktion von 1868102 Gültigkeit haben.

Ergänzt wurden diese Instruktionen jeweils durch Einzelverordnungen der Regierung oder durch spezifische Gesetze des Grossen Rates, 103 die ihrerseits zumeist ein partikuläres Problem behandelten und in denen die Landjäger als Hauptbeauftragte zur Ausführung der Problemlösung erwähnt wurden.

Handelte es sich, so stellt sich daraus folgend die Frage, bei der neuen Berufsgattung ‹Bündner Landjägerkorps› tatsächlich um einen Polizeiapparat nach modernem Begriffsverständnis? Der Vergleich mit Knemeyers Erörterung des alten und neuen Polizeibegriffs scheint diese Frage, wenn nicht definitiv, so doch relativ gut zu beantworten: Waren die sogenannten Verwaltungsstäbe bei Weber noch nicht spezifisch auf das Polizeiwesen zugeschnitten, so müssen, anlehnend an den alten Polizeibegriff, mit welchem die begriffliche Gleichsetzung von Polizei und innerer Verwaltung gemeint war104, das Element der «gute[n] Ordnung des Gemeinswesens»105 und der Faktor Sicherheit miteinbezogen werden. Letzterer erfolgte durch den sich allmählich herauskristallisierenden materiellen Polizeibegriff, welcher die Gleichsetzung von Polizei mit «Aufgaben der Gefahrenabwehr» festlegte.106 Infolgedessen stellt sich für die vorliegende Untersuchung zur neuen Berufsgruppe Landjäger der Terminus Sicherheitspolizei als am treffendsten heraus, wobei auch er, wie noch aufzuzeigen sein wird, die Handlungsfelder der Landjäger nicht umfassend und realitätstreu zu umschreiben vermag. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass der Begriff Sicherheitspolizei explizit auch in den untersuchten Quellen anzutreffen ist. So umschreibt die Instruktion von 1828 die Hauptverrichtung der Landjäger wie folgt: «[I]hre vorzüglichen Pflichten bestehen in allem, was der Dienst der Sicherheitsund Kriminal-Polizei mit sich bringt.»107 Diese Gesamtheit der instruktions-, gesetzes- und verordnungsbezogenen Paragrafen jedenfalls, welche für den Alltag der neuen Berufsgattung konstitutiven Charakter haben sollte, kann vergleichsweise gut und bei aller Schwäche des Kulturbegriffs der Ahlf’schen Umschreibung der Polizeikultur gegenübergestellt werden. Diese wird von Ahlf in harte (Organisationsstruktur) und weiche Faktoren (Werthaltungen, Normen, Orientierungsmuster, Leitbilder usw.) unterteilt.108 Folglich scheint er eine offensichtliche von einer nicht sofort erkennbaren Auftragsdimension zu unterscheiden: Erstere manifestiert sich insbesondere durch äusserlich sichtbare Handlungen, wobei zentrale Tätigkeitsfelder anhand sich verändernder Instruktionen relativ leicht eruiert werden können. Zweitere ist auf den ersten Blick und insbesondere für Aussenstehende nicht sofort erkennbar. Daraus folgt, dass das formale Polizeisystem nicht nur aus offen propagierten Richtlinien und erlassenen Instruktionen bestand, sondern dass es ebenso sehr durch die Auswertung vieler Entscheidungen skizziert werden kann (sofern diese in ihrer Form von den Leitungsgremien entweder direkt unterstützt, nicht klar angefochten oder kommentarlos angenommen wurden). Die Einteilung des formalen Polizeisystems in die beiden Hauptkriterien, welche nach harten (Institutionsstrukturen) und weichen Faktoren (das formal-normative Landjägerprofil) unterschieden werden, wird deshalb als Leitschema verwendet.

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990 стр. 85 иллюстраций
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9783039199099
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