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Jenseits des Grolls

Ein paar Jahre später stellte eine Freundin (von der ich nicht wusste, dass sie bisexuell war) mir Kate vor, die gerade in der Stadt war. Meine Freundin, die das Drama liebt, hatte „vergessen“, mir zu erzählen, dass Kate homosexuell war, und war der Meinung, dass sie das, was ich gerade lernte, hochinteressant finden würde. Okay. „Auf einer Lesben-Skala von 1 bis 10 bin ich ungefähr eine 15,“ offenbarte mir Kate später. Ich habe noch nie mit einem Mann geschlafen. Allein den Gedanken ertrage ich kaum. Doch ich liebe Frauen.“ Am ersten Abend übersah ich die Signale: den diskreten Regenbogen-Ohrring, die schwarze Lederjacke und den trotzigen Blick. Ich sah nur eine brillante Ingenieurin mit einer bemerkenswerten Konzentrationsfähigkeit, einem breit gefächerten spirituellen Hintergrund und einem starken Willen, die ein paar der besten Fragen stellte, die ich bislang gehört hatte. Und so begann ein lebendiger Austausch über einige Distanz hinweg zwischen zwei sehr entschlossenen Frauen. Und es gibt ihn heute noch.

Wir studierten beide voller Feuereifer die gleichen spirituellen Texte und empfahlen einander begeistert dieses und jenes Buch. Als das Thema Vergebung zur Sprache kam, sagte ich ihr, dass es mir so vorkam, als würde sie Frauen alles vergeben, jedoch völlig erbost reagieren, wenn ein Mann irgendetwas tat, was ihr nicht gefiel.

Kate wurde sehr still. „Ich werde dran arbeiten,“ sagte sie mit der grimmigen Entschlossenheit einer wahren spirituellen Kriegerin. Eine Woche später bekam ich eine E-Mail von einer fürchterlich geschockten Lesbe! Nachdem sie sehr tief spirituell daran gearbeitet hatte, ihre Vorbehalte gegen Männer aufzulösen, hatte ein männlicher Kollege sie gefragt, ob sie mit ihm ausgehen wolle – zum allerersten Mal.

Am Tag ihrer Verabredung hatte sie zwar eine fürchterliche Migräne, doch der Abend verlief überraschend gut. Sie erzählte ihm alles über sich selbst. Verdutzt wollte ihr Kollege nur von ihr wissen, ob eine gemeinsame Zukunft denkbar wäre. Dem war wohl eher nicht so, da sie gerade ein Jobangebot in einem anderen Bundesland annahm.

Ein paar Monate später hatte sich definitiv etwas verändert. Männer, die sie früher als begriffsstutzige Hemmschuhe betrachtet hatte, stolperten förmlich übereinander in dem Wunsch, ihr Türen aufzuhalten, sie anzulächeln, ihr Hilfe, Möbel und Informationen anzubieten. „Und wenn ich einen Rock trage, sagen sie ‚Guten Morgen‘ zu meinen Beinen,“ lachte sie. „Natürlich, ich mag ja selber Frauenbeine.“

Als ich sie das nächste Mal sah, strahlte sie förmlich. Alle Spuren ihrer Abwehrhaltung waren verschwunden. Sie hatte zwar immer noch ein starkes Bedürfnis, in Lesbenbars rumzuhängen und sich auf lesbischen Websites zu tummeln, doch zu meiner Überraschung gab sie ihre sexuelle Orientierung an ihrem neuen Arbeitsplatz nicht bekannt, sondern verhielt sich neutral. Da sie dort quasi keine weiblichen Kolleginnen und kaum Freizeit hatte, fühlte sie sich im Laufe der Zeit zu einigen ihrer männlichen Kollegen hingezogen und fing an, sich mit ihnen zu verabreden. Mit einem von ihnen lebt sie nun seit neun Jahren zusammen.

Heute ist sie Managerin und leitende Ingenieurin in einer ansonsten rein männlichen Ingenieursfirma, in der ein hoher Leistungsdruck herrscht, und ist die Vorgesetzte von zahlreichen dieser Männer. Diese bewundern sie und lassen alles stehen und liegen, wenn sie bei einem Projekt kurzfristig Hilfe benötigt. „Die Leute sagen so tolle Sachen über mich, dass es mir schon peinlich ist,“ vertraute sie mir unlängst an.

Ich hatte gelernt, dass Vergebung, genauso wie ein Orgasmus, die Macht hat, unsere Wahrnehmung zu verändern. Oder, um es anders auszudrücken, Groll ist ein erstaunlich effektives Hindernis zwischen den Geschlechtern – doch wir haben die Wahl.

Sich paaren oder sich verbinden

Als Heterosexuelle fand ich den fließenden Wechsel bei meinen homosexuellen Freunden zunächst verwirrend. Ich hatte fälschlicherweise den Eindruck, dass Homosexualität das Gleiche ist wie Heterosexualität, nur eben mit umgekehrtem Magnetismus. Heutzutage bewegt sich jedoch scheinbar jeder im gleichen Spektrum, und das mit ausgesprochen fließenden Übergängen. In dem Institut, wo ich meinen Mann kennenlernte, bezeichneten sich alle Frauen einer gerade neu zusammengekommenen Gruppe auf die öffentlich gestellte Frage eines jungen Mannes, der offenbar auf der Suche nach einer Liebsten war und mit eventuellen Vorannahmen niemandem zu nahe treten wollte, als „bisexuell“ oder „pansexuell“. Ich weiß nicht, ob er daraus schloss, dass das Glas halb voll oder halb leer war.

Erst kürzlich habe ich herausgefunden, dass die Psychologin Lisa ­Diamond, Autorin des Buches Sexual Fluidity,79 bestätigt, dass fließende sexuelle Grenzen (insbesondere, wenn auch nicht ausschließlich, bei Frauen) die Norm sind. Sie verfolgte das Leben von achtzig nicht-heterosexuellen Frauen über zehn Jahre und entdeckte etwas ganz Unerwartetes. Einige der Frauen berichteten, dass sie sich in einzelne Männer verliebt hatten, für die sie auch sexuelles Begehren empfanden. Zuerst nahm Diamond an, dass sie sich in ihren Gefühlen vielleicht getäuscht hätten oder sich unklar über ihre sexuelle Orientierung waren. Doch sie hörte sich weiterhin Lebensgeschichten an und forschte.

Alle zwei Jahre wechselten ungefähr ein Drittel der Frauen die Kategorie von solchen Bezeichnungen wie „lesbisch“, „bisexuell“, „heterosexuell“ oder „unbestimmt“. Eine fließende sexuelle Orientierung war scheinbar ganz typisch. Obwohl Lisa Diamond angibt, dass die sexuelle Orientierung von Frauen fließender vonstattengeht als die bei Männern, weist sie darauf hin, dass „jedes Individuum in der Lage sein sollte, sexuelle Begierden zu verspüren, die seiner oder ihrer generellen sexuellen Orientierung widersprechen.“*80

Schließlich entwickelte sie ein Modell, um die von ihr beobachteten Fakten zu beschreiben: Während es das Ziel sexuellen Begehrens ist, sexuelle Einheit für den Zweck der Fortpflanzung zu schaffen, wird romantische Liebe von dem System der Zugehörigkeit oder Paarbindung bestimmt, dessen Ziel es ist, ein dauerhaftes Band zwischen zwei Individuen aufrechtzuerhalten.81

Herzensliebe (Bindung) hat daher mehr mit Fürsorge und emotionaler Zugehörigkeit zu tun als der Wunsch, sich zu paaren. Bindung greift auf die gleiche Funktion im Gehirn zurück, wie die, die Kinder an ihre erwachsenen Bezugspersonen bindet. Diese lieben ihre Kinder gleichermaßen, ob Junge oder Mädchen, daher hat diese Art der Bindung weder etwas mit dem Geschlecht zu tun, noch ist sie unmittelbar an sexuelles Begehren geknüpft.

Im Gegensatz zur Herzensliebe haben erotische Gefühle (Paarung) sehr viel mit der Sucht nach Alkohol oder Drogen zu tun. Intensive neurochemische Nachrichten stellen sicher, dass wir bei unserem Partner „an der Angel hängen“, zumindest für eine Weile. (Mehr über die Wirkungsweisen dieses Prozesses folgt in den nächsten drei Kapiteln.)

Teambildung

An diesem Punkt auf meiner Reise nahm ich weitere Vorteile wahr, Liebe ohne Orgasmus zu machen. Bis ich anfing, damit zu experimentieren, musste ich fast jedes Mal, wenn ich mit einem Mann schlief, Antibiotika nehmen, nur um eine Infektion des Urinaltraktes zu vermeiden. Ich habe sie niemals wieder gebraucht. Auch meine Hefepilzinfektionen hörten einfach auf. (Eine Freundin von mir, die einen Genitalherpes hat und auch mit Karezza experimentiert hat, stellte übrigens fest, dass der Herpes nur ausbrach, wenn sie wieder in die Leidenschaft verfiel.)

Mittlerweile hatten meine Reisen mich bis nach Kalifornien gebracht, wo ich an einem Institut arbeitete, an dem chinesische Medizin und Massage unterrichtet wurden. Ich bat Will, den Anatomie- und Physiologielehrer, die Unterlagen zu lesen, die ich auf meiner Website veröffentlichen wollte. Ich dachte mir, Will könnte sich als guter Kritiker erweisen.

Wie sich herausstellte, hatte er eine Menge mehr zu bieten. Wir sind seit sechs Jahren verheiratet und seit acht Jahren zusammen. Er ist ein wunderbarer Mitforscher mit einem bemerkenswerten Willen, sich außerhalb gewöhnlicher Denkstrukturen zu bewegen. Wir fingen unsere Beziehung mit Karezza an (obwohl ich den Ausdruck damals noch nicht kannte) und vermieden Orgasmen so gut es ging.

Ich hatte auf dem harten Weg lernen müssen, dass es praktisch unmöglich ist, von konventionellem Verkehr über Nacht auf Karezza umzusteigen. Der Versuch, sich wie gewohnt zu lieben, doch auf den Orgasmus zu verzichten, „schneidet dem Sex die Eier ab,“ wie ein Freund von mir sagte. Um Karezza auszuprobieren, brauchen Paare ein klares Ziel und eine Übergangszeit mit viel liebevollem Kontakt.

Um diese Phase zu erleichtern, habe ich eine dreiwöchige Serie spielerischer Aktivitäten zusammengestellt, die ich die ekstatischen Austauschübungen genannt habe und die Sie am Ende des Buches finden. Das Ziel der Austauschübungen ist es, Paaren viele Möglichkeiten des liebevollen Umgangs miteinander zu offerieren, ohne unbewusst wieder in die gewohnten Routinen des Vorspiels zu verfallen oder einander allzu heiß zu machen. Die Austauschübungen fordern dazu auf, in den ersten zwei Wochen auf Verkehr völlig zu verzichten, so dass die Übenden zunächst den Kater ihres letzten Orgasmus überwinden können. Sie tragen daher zunächst auch Kleidung in der Nacht. In der dritten Woche ist dann langsamer, entspannter Verkehr in jeder dritten Nacht an der Reihe.

Hier ist Wills Bericht über seine frühen Erfahrungen, die er nach ungefähr zehn Monaten aufschrieb:

„Als ich zustimmte, die Austauschübungen zu machen, hatte ich noch Vorbehalte. Zum einen hatte ich nie die ganze Nacht ruhig schlafen können, auch nicht mit meiner Ex. Zum Zweiten war ich nicht begeistert davon, Liebe nach Rezept zu machen, das mir vorschreibt, wann ich Geschlechtsverkehr haben darf und wann nicht. Zum Dritten kannte ich Marnia in dieser Hinsicht gar nicht, und es fühlte sich komisch an, mit einem Programm anzufangen, wo Geschlechtsverkehr erst in drei Wochen auf der Tagesordnung stand. Und zum Vierten masturbierte ich gern (ungefähr drei oder vier Mal die Woche), und ich wusste, dass ich auf Ejakulation während der Austauschphase verzichten musste.

Allerdings hatte ich ihre Unterlagen gelesen, und die beschrieben die Achterbahn meiner vorherigen Beziehungen ziemlich genau. Ich hatte endlich verstanden, warum ich mich immer zurückziehen musste, um Raum für mich zu haben, oder mich in sinnlosen Streitereien mit meinen Freundinnen verloren hatte. Ich war nicht davon überzeugt, dass die Auswirkungen von einem Orgasmus tatsächlich so langfristig waren, wie Marnia sagte, doch ich hatte noch nie lange genug auf einen Orgasmus verzichtet, um es wirklich herauszufinden. Jedenfalls spürte ich, dass dieser Zugang zum Sex eine Verbesserung sein könnte. Ein paar Monate zuvor hatte ich mich gerade mal wieder von der Mutter meines Sohnes getrennt, mit der ich eine schmerzhafte „An-Aus-An-Aus-Beziehung“ geführt hatte. Ich hatte zu trinken begonnen, als wir zum ersten Mal zusammen kamen. Das war damals fünfzehn Jahre her.

Als ich mit den Austauschübungen anfing, war ich finanziell ruiniert und mein Trinken hatte so zugenommen, dass ich Alkoholiker war – wobei ich meine Sucht verbarg, indem ich den Campus verließ, um zu saufen, wann immer es ging. Ich befand mich in einer Abwärtsspirale und wusste nicht, wie ich da wieder herauskommen würde. Ich fasste also den Entschluss, dass es einen Versuch wert war.

Einige der Wirkungen der Austauschübungen wurden extrem schnell sichtbar. Nach nur drei Tagen fühlte ich mich wohler und entspannter in meinem Körper. Küssen fühlte sich wie eine ganz neue Erfahrung an – wie meine ersten Küsse vor vielen, vielen Jahren. Das ganze Zielgerichtete am Sex fiel weg. Und mein Fokus bewegte sich weg von meinen Genitalien, hin zu einem Fokus, etwas miteinander zu teilen.

Weitere Veränderungen folgten. Mein Muster, nicht mit jemandem in einem Bett schlafen zu können, löste sich auf, auch wenn die ersten Nächte wahrlich herausfordernd waren. Jetzt liebe ich es, sie anzufassen, wenn ich nachts aufwache, bevor wir wieder einschlafen.

Die Sucht brauchte etwas länger, um sich zu verändern – teilweise, weil ich versuchte, es zu verstecken und ganz allein damit aufzuhören, immer wieder und ohne Erfolg. Als es herauskam, war ich mir sicher, dass sie mich verlassen würde, doch das tat sie nicht. Stattdessen wurden wir durch diese gemeinsame Aufgabe noch engere Partner. Es ist jetzt sechs Monate her, dass ich zum letzten Mal Alkohol getrunken habe und ich hatte keine Sucht- oder Entzugserscheinungen. Ab und an habe ich ans Trinken gedacht, und das war immer, nachdem sie oder ich zu leidenschaftlich geworden waren. Ich hatte früher den Alkohol dazu benutzt, dem Beziehungsschmerz zu entkommen. Doch mit diesem Zugang wurde die Beziehung zu einer Quelle der Inspiration und Stärke.

Ich habe nicht ein Mal während der letzten zehn Monate, seit Beginn unserer Beziehung, ejakuliert. Und das Bedürfnis nach einem Orgasmus habe ich auch nicht wirklich – obwohl ich sicher bin, dass ich einen haben könnte, wenn ich wollte. Der Verzicht auf Ejakulation hatte keine negativen Auswirkungen. Ich hatte nur ein einziges Erlebnis, wo ich mich körperlich unwohl fühlte, und das war, als sie mich mit klassischem Vorspiel zu sehr überreizt hat.

Der größte Unterschied zwischen dieser Beziehung und meinen anderen ist, dass wir uns wie Teenager fühlen, obwohl wir in unseren Vierzigern sind. Wir verbringen jeden Tag Zeit damit, uns zu küssen, und lieben uns oft. Die Energie war von Anfang an so zwischen uns – abgesehen von ein paar Verirrungen in die „Beziehungshölle“, in die wir durch zu viel Leidenschaft geraten sind, was zur Folge hatte, dass sie einen Orgasmus hatte. Diese Umwege haben mich davon überzeugt, dass wir mit konventionellem Sex eine genauso schlechte Beziehung hätten wie alle Beziehungen meiner Vergangenheit.

Ich sehe auch in anderen Bereichen meines Lebens große Veränderungen. Meine Finanzprobleme lösen sich und mein Berufsleben entwickelt sich in Richtungen, die ich mir immer gewünscht habe, die ich jedoch bislang nie einschlagen konnte. Die Gelegenheiten bieten sich mir einfach mühelos an, und alles entwickelt sich wunderbar. Ich habe viel mehr Vertrauen in mich selbst. Ich bin ruhig und konzentriert. Und ich fühle mich jetzt viel wohler damit, in einer Partnerschaft zu sein, anstatt mich als ein separates Wesen zu sehen, das zufällig zur gleichen Zeit auch mit jemand anderem zusammen ist. Ich habe eine viel optimistischere Einstellung zu Beziehungen gewonnen.“

Eine harte Lehre

Leider reicht es für dauerhafte Harmonie nicht aus, einfach nur Orgasmen zu vermeiden. Will und ich lernten das auf die harte Tour. Von Selbstzufriedenheit eingelullt, weil die Harmonie zwischen uns so leicht aufrechtzuerhalten war, finden wir damit an, uns zu lieben, wann immer wir Lust dazu hatten. Bis zu dem Punkt hatten wir darauf geachtet, zumindest jede zweite Nacht mit jeder Menge nicht zielorientiertem Kuscheln zu verbringen.

Risse tauchten auf, doch wir taten unser Bestes, sie zu ignorieren. Ohne es zu bemerken, kamen wir weg von dem achtsamen Austausch von Berührungen und bewegten uns mehr auf das Standard-Vorspiel zu. Dann drifteten unsere Schlafrhythmen auseinander. Will wachte immer früher auf. Wenn er aufstand und ins Büro fuhr, entstand eine emotionale Kluft zwischen uns, und wenn er blieb, war er so unruhig, dass ich mich genötigt sah, ihn zu beruhigen. Am Abend waren wir beide dann immer völlig erschöpft.

Meine Libido nahm erschreckend ab, doch ich tat mein Bestes, um sexuell offenzubleiben, immer in der Hoffnung, dass alles wieder mehr ins Gleichgewicht käme, wenn Will sich mehr genährt fühlen würde. Doch stattdessen wurde er immer hungriger. Wir schliefen manchmal miteinander, wenn ich nicht wirklich dazu bereit war, in einem fehlgeleiteten Versuch, die Nähe zueinander wiederherzustellen, die im Verschwinden begriffen war. Für mich fühlte es sich so an, als würde ich ein immer fordernderes Kind ernähren müssen, und ich war erstaunt darüber, wie sehr es mich auslaugte – und wie ärgerlich es mich machte. Er war verwirrt und frustriert. Wie er ganz logisch sagte: „Ich berühre dich so, wie ich es immer getan habe, und wenn du es jetzt nicht mehr magst, dann liebst du mich eben doch nicht.“

Als ich vorschlug, dass wir den Rückwärtsgang einlegen und wieder mit den Austauschübungen anfangen sollten, wurde es ganz offensichtlich, wie weit wir uns von unserem ursprünglichen Kurs entfernt hatten. „Wenn ich das machen würde, was du vorschlägst, käme ich mir vor wie ein Neutrum!“ schrie er mich an. „Du versuchst, mir all mein sexuelles Vergnügen zu rauben!“ Oje. Das hörte sich nicht nach Will an. Schließlich war er in der Zeit, als wir die Austauschübungen gemacht hatten, und noch Monate danach, erstaunt gewesen, wie befriedigt er sich fühlte, egal, ob es eine Nacht war, in der wir Sex hatten oder nur kuschelten. Warum hingen sein Glück und seine Männlichkeit jetzt davon ab, ob wir den Impulsen folgten, die wir früher vermieden hatten, und zwar mit so guten Ergebnissen?

Wo hatten wir uns vertan?

Wie sich herausstellte, hatten wir zwei Fehler begangen – auch wenn uns der zweite damals noch gar nicht richtig bewusst war. Zunächst hatten wir unsere Kontrolle unabsichtlich wieder an unsere Biologie abgegeben, als wir aufhörten, Sex nach Plan zu haben. Will, ein typischer heißblütiger Mann, ist darauf programmiert, alle sich bietenden sexuellen Möglichkeiten zu nutzen. Ohne unsere regelmäßigen Nächte ohne Geschlechtsverkehr war es seine biologische Pflicht, den Motor auf Touren zu bringen – für alle Fälle. Er war wie ein Automotor, der die ganze Zeit überhitzt wurde. Dieses Problem wurde während der Austauschübungen vermieden, weil wir da immer wussten, wann wir Geschlechtsverkehr haben würden und wann nicht. Die Struktur war also sehr beruhigend.

Außerdem hatten wir uns davon wegentwickelt, einander so viel nicht zielorientierte Zuwendung wie möglich zu schenken. Deswegen bekam unser Nervensystem keine wirkliche Chance, sich in die heilsame Energie hinein zu entspannen, wie wir sie anfangs miteinander geteilt hatten. Wie wir viel später feststellten, bedeutete das auch, dass wir nicht ständig die Signale miteinander austauschten, die in unserem Säugetiergehirn mit Verbindung und Zugehörigkeit assoziiert werden.

Für solche unschuldigen Fehler haben wir eine ganz schön lange Zeit gebraucht, um den Schaden wieder zu reparieren. Wir hatten nicht nur begonnen, unsere gemeinsame Zukunft in Zweifel zu ziehen, sondern es fehlte auch die Anziehung zwischen uns, die früher so absolut zuverlässig da gewesen war, um uns wieder zueinander zu bringen. Autsch.

Zunächst versuchten wir, einfach wieder Geschlechtsverkehr nach Plan zu haben. Doch das funktionierte nicht. Es floss keine Elektrizität zwischen uns, unsere Herzen blieben zurückhaltend, Wills Berührung war immer noch hungrig, und ich hatte einen Orgasmus im Traum, was bedeutete, dass wir mit weiteren zwei Wochen unausgewogener Energie umzugehen hatten. Krisen auf der Arbeit laugten uns aus. Unser Leben schien sich auf jeder Ebene in einer seltsamen Abwärtsspirale zu befinden.

Wir fanden heraus, dass wir unser Nervensystem komplett neu ausrichten mussten, wenn das stimmte, was wir gelernt hatten. Wir mussten uns wieder auf das Geben einstimmen anstatt auf das Nehmen, auch wenn es bedeutete, durch eine weitere unangenehme Phase des Rückzugs hindurchgehen zu müssen. Wir hatten beide ziemliche Angst. Wie Will sagte: „Ich glaube, ich schaff das nicht. Ich weiß einfach nicht, wie ich dich anfassen soll.“

Schweren Herzens zogen wir uns wieder etwas an, wenn wir abends ins Bett gingen, und fingen wieder von vorne mit den Austauschübungen an. Konnte es wirklich sein, dass sie zweimal wirken würden, insbesondere in unserem Gemütszustand? Hatten sie überhaupt jemals gewirkt? Alles, was wir im vergangenen Jahr an Positivem genossen hatten, wurde in Frage gestellt. Vielleicht hatten wir uns etwas vorgemacht. Vielleicht war unsere Harmonie lediglich das Ergebnis einer vorübergehenden Flitterwochen-Neurochemie gewesen. Vielleicht waren Wills Sucht und seine Depression aus anderen Gründen zurückgekehrt, die gar nichts damit zu tun hatten. Vielleicht gab es gar keinen Ausweg aus der biologischen Bestimmung. Ich fühlte mich dazu verdammt, eine „alte Hexe“ zu werden. Ich war sicher, dass die Ringe unter meinen Augen, die in den vergangenen Wochen aufgetaucht waren, hießen, dass es keinen Ausweg gab. Selbst mein Teint hatte eine neue Blässe angenommen.

Am Anfang stand die Zeit still. Obwohl wir beide versuchten, so fürsorglich und liebevoll wie möglich zu sein, fühlten sich die Übungen staubtrocken an. Will strengte sich total an, um seinen Schalter nicht auf sexuellen Hunger umzustellen. Er beschrieb es so, dass er meinen ganzen Körper so berührte, als sei keines meiner Körperteile wichtiger als ein anderer Teil, anstatt sich wie vorher auf seine Lieblingsstellen zu konzentrieren. Er entschloss sich dazu, sich auf meine Reaktionen auf seine Berührungen einzustimmen, anstatt sich auf seine eigenen Empfindungen zu konzentrieren.

Ich gab mir alle Mühe, liebevoll zu sein und seine Zuwendung zu erwidern, selbst wenn ich müde war. Nach ein paar Tagen lichtete sich die Stimmung bei uns, doch anfangs fühlte es sich wirklich an wie die Kameradschaft zwischen dem Tode geweihten Gefangenen, die ihre letzte Mahlzeit miteinander teilen. Doch wir schliefen definitiv wieder zunehmend besser, und vor allem im gleichen Rhythmus.

Nach sechs oder sieben Tagen kamen wir an einen Wendepunkt. Will meinte, dass er sich wesentlich ruhiger und entspannter fühlte. In unseren „Ich liebe dich“ schwang neue Begeisterung mit, und wir lachten wieder viel mehr miteinander. Sowohl die „Geschlechtsverkehr-Nächte“ als auch die „Kuschel-Nächte“ nahmen wieder ihre ursprüngliche Zärtlichkeit und Zufriedenheit an. Wir fühlen uns wieder optimistisch. Unser Berufsleben bekam Aufschwung und wir sahen wieder besser aus. Das Letzte, was sich erholte, war meine Libido. Mein Unterbewusstes hatte offenbar das Gefühl, „verschlungen“ zu werden, als ein unangenehmes Erlebnis abgespeichert, obwohl Will niemals aggressiv oder auch nur fordernd gewesen wäre.

Noch Jahre nach dieser Erfahrung kehrten wir immer wieder zu den Austauschübungen zurück, wenn wir merkten, dass wir auf einen zielorientierten Kurs abdrifteten. Und schon sehr bald reichten eine oder zwei Nächte bewusster und großzügiger Zuwendung, um uns wieder auf den richtigen Kurs zu bringen.

Überzeugt, dass wir da etwas sehr Wertvolles und Wiederholbares entdeckt hatten, überraschte mich Will eines Tages, als er sagte: „Ich werde mal schauen, ob es hilfreiches, wissenschaftliches Material dazu gibt.“ Er war sich sicher, dass sich hinter dem, was wir erfuhren, eine physiologische Realität verstecken musste. Das, was er bei seinen Forschungen entdeckte, ist so faszinierend, dass ich es mit seiner Hilfe in den weiteren Verlauf des Buches einweben werde.

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