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2.2.3 Schätzen, was man hat

Frei von Begierde zu sein heißt also, vollkommen oder ganz zu sein. Es fehlt einem nichts. Umgekehrt ist die Triebfeder der Gier das Gefühl des Mangels. Und ein Mangel ist in Konsumgesellschaften schnell ausgemacht. Tatsächliche Bedürfnisse rücken dabei oftmals ins Hintertreffen und aufkeimende Unzufriedenheit wird überlagert mit dem nächsten Kompensationsakt – dem nächsten Einkauf, dem nächsten Bissen.

Der Gier keine Angriffsfläche zu bieten, bedeutet in erster Linie: anzuerkennen, was da ist. Wer sich selbst Antworten darauf gibt, was einem wirklich fehlt, wird innerlich freier. Wer seine Leere füllt, hat es nicht nötig, das Buffet zu stürmen, mit überladenen Tellern zum Tisch zurückzukehren, sich zu überfressen oder erst recht die Hälfte stehen zu lassen. Auch wenn es noch so gut schmeckt. Nie genug haben kann dagegen der, der seine Bedürfnisse nicht kennt. Die Gier auszutricksen hat auch mit Würde zu tun: Dankbarkeit, Bescheidenheit und Demut mögen etwas aus der Mode gekommen sein, bilden aber immer noch Eckpfeiler gelassener Existenzen. Damit lässt sich aus der Fülle schöpfen, nicht aus dem Mangel.

2.2.4 Fülle durch Konzentration

Mehr in dem zu finden, was man hat, funktioniert über eine geschärfte Wahrnehmung. Man braucht nicht mehr, wenn die Sinne auf Maximum geschaltet sind: Bewusst die Meeresbrise spüren, den Sand von den Füßen reiben, das Stück Schokolade auf der Zunge zergehen lassen, den Wein, das Wasser oder den Tee schmecken, eine Umarmung auskosten, jeden Atemzug wahrnehmen. Finetuning der Sinne erfüllt und führt zum Genuss. Die Gier zeigt sich dann im Streben nach einer immer feineren und bewussteren Wahrnehmung. Im Herauskitzeln der Details, im Erkenntnisgewinn. In der Distinktion. Wie wirken welche Eindrücke auf uns? Was macht das mit mir? Die Reflexion und das Wachhalten der Erinnerung steigern die Erfahrung und sättigen mehr als Materielles.

Wie Zufriedenheit und Glück sogar mit einem steten Verlust von Hab und Gut einhergehen kann, erzählt das Märchen von »Hans im Glück«: Für sieben Jahre Arbeit erhält Hans einen kopfgroßen Klumpen Gold. Diesen tauscht er gegen ein Pferd, das Pferd gegen eine Kuh, die Kuh gegen ein Schwein, das Schwein gegen eine Gans, und die Gans gibt er für einen Schleifstein mitsamt einem einfachen Feldstein her. Er glaubt, jeweils richtig zu handeln, da man ihm sagt, ein gutes Geschäft zu machen. Von Stück zu Stück hat er auf seinem Heimweg scheinbar weniger Schwierigkeiten. Zuletzt fallen ihm noch, als er trinken will, die beiden schweren Steine in einen Brunnen. »So glücklich wie ich«, rief er aus, »gibt es keinen Menschen unter der Sonne.« Mit leichtem Herzen und frei von aller Last ging er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter angekommen war. (Fassung der Brüder Grimm)

2.3 SUCHT SUCHT

Genuss wird aber nicht nur mit Gier in Verbindung gebracht, sondern auch mit Sucht. Physiologisch lassen sich zwei Mechanismen zu Genussgefühlen feststellen: Der eine ist jener mittels Substanzen wie Alkohol, Kokain oder Nikotin. Die entsprechenden Moleküle kommen über den Blutkreislauf ins Gehirn und wirken dort direkt auf das Dopaminsystem. Es folgt eine verstärkte Ausschüttung von Dopamin und anderen Katecholaminen. Der andere Mechanismus führt über Sinneswahrnehmungen wie Riechen, Sehen, Fühlen …, die an Rezeptoren Impulse erzeugen, die wiederum über Acetylcholin vermehrt zur Dopaminausschüttung führen. Das dopaminerge System sorgt dafür, dass auf die im Gehirn erzeugten Erregungen Handlungen folgen.

Nutzt man Genussmittel nur ihrer Wirkung wegen und meint man, die Glücksgefühle bloß noch dadurch zu erzielen, bewegt man sich eigentlich schon abseits des Genusses. Wenn also der Kaffee nur noch zum Aufputschen dient, der Wein bloß mehr entspannt und berauscht, die Zigarette nicht schmeckt, nur anregt oder beruhigt. Wenn also Genussmittel nicht für den Genuss gebraucht werden, sondern auf Dauer unbewältigbare oder Alltags-Situationen, Stress und Ärger kompensieren sollen. Wenn das Glas Bier belohnt, die Schokolade den Frust verdauen soll, das neue Kleid die innere Leere füllt. Wenn man ausweicht.

Können aber auch einzelne Nährstoffe unabhängig davon süchtig machen? Zucker ist immer wieder in Diskussion. Suchtexperten sehen die Basis dafür nicht gegeben. Denn das Entscheidende an einem Suchtmittel ist, dass es unglaublich gut und unmittelbar wirken muss, dass es uns massiv psychisch verändert, dass es also psychotrop wirkt. Wie eben Opiate, Kokain, Tranquilizer oder Alkohol. Mit Zucker lässt sich eine derartige psychotrope Wirkung nicht erreichen. Schließlich ist Sucht immer etwas Desaströses, etwas, das einem irgendwann völlig entgleitet. Da ist man bei Zucker weit davon entfernt. Selbstverständlich gibt es auch bei Zucker Menschen mit übermäßigem Konsum. Doch nicht jeder übermäßige Konsum führt zu einer Abhängigkeit. Für das Abhängigkeitssyndrom gibt es zudem, gemäß der sogenannten ICD-10 Systematik (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems), eine klare Definition. Danach müssen mindestens drei von sechs Kriterien über mehrere Wochen zutreffen, bevor man von einer Sucht spricht (s. unten).

Kriterien für ein Abhängigkeitssyndrom:

1. Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren (Craving)

2. Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums (Kontrollverlust)

3. Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums (Körperliche Abhängigkeit)

4. Nachweis einer Substanztoleranz (Toleranzentwicklung)

5. Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen (Psychische Abhängigkeit I)

6. Anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen (Psychische Abhängigkeit II)

Körpereigene Drogen durch Fett

Bei Fett ist der Mechanismus im Körper genauer geklärt: Es setzt körpereigene Drogen frei – nämlich dann, wenn Fett auf der Zunge schmilzt. Diese sogenannten Endocannobinoide entstehen im vorderen Abschnitt des Darms und steigern den Appetit auf das Weiteressen. Das bedeutet, dass es zu einer Spirale kommt: Wieder landet Fett auf der Zunge und wieder werden Endocannabinoide freigesetzt. Oft ist es daher nicht leicht, mit dem Essen von fetten Lebensmitteln oder Speisen aufzuhören. Doch nicht alle Menschen reagieren gleich. Der eine tut sich schwerer als der andere. Und nicht jeder ist übergewichtig. Das hängt von vielerlei Faktoren ab. Zum einen von der inneren Einstellung und Selbstdisziplin, zum anderen vom restlichen Ernährungsverhalten und Lebensstil, in erster Linie vom Bewegungsmuster. Solch endogene Drogen gibt es beim Verarbeiten von eiweißreichen oder zuckerreichen Speisen übrigens nicht.

Sucht durch achtsamen Genuss reduzieren

Sucht ist oftmals nicht die Primärerkrankung, sondern folgt auf psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angst- und Panikstörungen. Rund ein Drittel schwer depressiver Menschen ist süchtig, bei einer generalisierten Angststörung sind 14 % (Männer) bzw. 36 % (Frauen) von irgendeiner Substanz abhängig. Zerlegt man Suchtprophylaxe etymologisch, steht »pro« für »vor« und »phylax« für »Wachsamkeit« oder übersetzt in den Kontext für »behüten, beschützen, wachsen lassen«. Was lässt nun Menschen wachsen? Geborgenheit, Sinn und Orientierung, Abenteuer und Selbsterfahrung, Anerkennung und Bestätigung, Glück und Zufriedenheit, Bewegung und Körpererfahrung. Einen Großteil haben wir selbst in der Hand. Ein selbstfürsorglicher und genussvoller Umgang hat sich als wesentlicher Kern in der Therapie und Prophylaxe erwiesen. Denn die Psychologie des Genießens gründet auf den gleichen psychologischen Abläufen, die für seelische Gesundheit bestimmend sind. Dr. Rainer Lutz hat vor mehr als 25 Jahren ein Gruppentherapieprogramm dazu entwickelt: die »Kleine Schule des Genießens«. Es kommt seither in psychiatrischen oder psychosomatischen Kliniken zum Einsatz. Aus den Erfahrungen mit der Genussgruppe ließ sich der euthyme Therapieansatz ableiten. Zentraler Inhalt ist die Wieder-Entdeckung der Sinne. Sie wecken ganz unmittelbar positive Emotionen, wodurch ein allgemeinpsychologischer Mechanismus gefördert wird: nämlich die Aufmerksamkeit auf Positives lenken zu können und zu halten. Diese Fokussierung gilt als grundlegendes Verhalten, um seelische Gesundheit zu fördern.

2.4 KÖNNEN WIR GENIESSEN?

Für die große Mehrheit in Österreich und Deutschland ist genießen wichtig, sogar wichtiger als Karriere, Geld oder soziales Ansehen (89 bzw. 86 %). Doch viele leiden unter mangelnder Zeit dafür und wünschen sich, sich für die genussvollen Momente im Leben mehr Zeit nehmen zu können. Im Vergleich zu Deutschland wird dem Genießen hierzulande mehr Zeit eingeräumt. Allerdings genießen die Deutschen entspannter, die Österreicher haben ständig ein schlechtes Gewissen dabei. Gut acht von zehn Personen verschaffen sich auch aktiv im Alltag Genussmomente. Dabei sagen nur 15 %, dass das Genießen heutzutage leichter ist als vor 25 Jahren. Das sind Resultate einer Befragung aus 2014 des Marktforschungsinstitutes market in Österreich mit 1007 Teilnehmern zwischen 22 und 49 Jahren und von FORSA in Deutschland. Daten des Österreichischen Genussbarometers des forum. ernährung heute aus 2009/10 mit 2000 Teilnehmern zwischen 14 und 69 Jahren stimmen mit den Ergebnissen überein. Genuss ist mehr eine Frage des Lebensstils als jene der Geldtasche. Immerhin schätzen sich acht von zehn als Genießer ein. Und nur 0,8 % der Befragten finden, dass Genießen ein teures Vergnügen ist. Doch ein detaillierter Blick zeigte auch da: Die Mehrheit zweifelt beim Genießen und hat ein schlechtes Gewissen.

Denn nicht jeder kann genießen. Menschen unterscheiden sich in ihrer Fähigkeit dazu. Nach dem Bilanzierungsmodell von Roland Bergler lassen sich drei Typen ableiten: die Genießer, die Genusszweifler und die Genussunfähigen. Das Modell gründet auf einer Art Kosten-Nutzen-Rechnung für soziale Beziehungen und einer Erwartungs-mal-Wert-Theorie. Wieviel muss ich investieren und was kommt bei dem Verhalten heraus? Ist der Nutzen größer als der Aufwand? Und welches Verhalten verspricht den meisten Wert? Am Beispiel Sport: Überwiegt der Nutzen gegenüber den Kosten? Also Auspowern, gute Laune, Stabilisierung des Körpergewichts, Treffen von Freunden, Abschalten … gegenüber Zeitaufwand, Überwinden des inneren Schweinehunds, Umziehen, Anstrengung? Wenn ja, dann wird man bei der Sportart bleiben. Die zweite Theorie kommt ins Spiel, indem in die jeweilig persönliche Kalkulation eingeht, ob zum Beispiel eine andere Sportart die persönlich wichtigsten Bedürfnisse ebenfalls erfüllen oder gar übertreffen würde. Je nachdem bleibt man bei der einen Sache, wechselt oder macht beides.

Bei der Bewertung des eigenen Genussverhaltens ist es ähnlich. Genießer ziehen bei genussvollem Verhalten eine positive Bilanz. Bei ihnen überwiegen in der persönlichen Bewertung deutlich die wahrgenommenen vorteilhaften Folgen des Genießens gegenüber möglichen Nachteilen. Gute Laune, Entspannung und gesteigertes Wohlbefinden bewerten sie weitaus höher als mögliche zeitliche oder finanzielle Einschränkungen.

Genussunfähige sehen im Genießen kaum Vorteile und bewerten die Nachteile als wahrscheinlicher und bedeutsamer. Die persönliche Genussbilanz fällt für sie negativ aus. Sie können sich weder vorstellen, ihre Laune, ihr Selbstbewusstsein, ihre Leistungsfähigkeit oder Problemlösekompetenzen mit genussvollen Handlungen verbessern zu können, noch nehmen sie die entspannende Qualität wahr.

Zwischen den beiden rangieren die Genusszweifler. Sie genießen eigentlich gerne, aber mit schlechtem Gewissen. Sie ängstigt der Gedanke, beim Genießen zu gierig oder unkontrolliert zu handeln; zudem befürchten sie zum Beispiel zeitliche oder finanzielle Kosten. Genusszweifler nehmen Vorteile und Nachteile gleichermaßen wahr und kommen somit zu einer ambivalenten Haltung. Damit lebt der Genusszweifler ständig angespannt in der Ungewissheit, ob er sein Verhalten nun gut oder schlecht finden soll.

Die Kategorisierung in die drei Typen lässt sich über Fragen nach den Assoziationen zum Genießen und den persönlichen Auswirkungen von Genussentzug, also der Bilanzierung zu den Vor- und Nachteilen des Genießens, treffen.

Für Österreich ergab sich im Österreichischen Genussbarometer des forum. ernährung heute (f.eh) aus 2009/10 folgende Aufteilung: 15 % Genießer, 68 % Genusszweifler und 17 % Genussunfähige. Die Ergebnisse des f.eh-Genussbarometers »Best Ager« in der Altersgruppe der 60- bis 79-Jährigen aus dem Jahr 2014 mit 300 Personen deuten darauf hin, dass mit dem Alter das Genussverständnis steigt: Zwar ist auch bei der Generation 60+ die überwiegende Mehrheit den Genusszweiflern zuzuordnen (70,5 %), doch 29 % sind Genießer. Der Anteil der Genussunfähigen liegt demnach in dieser Umfrage unter 1 %.

3
EINE KULTURTECHNIK IN DER KRISE ODER:
WARUM KLAPPT ES OFT NICHT?

»Wenn das Alte stirbt und das Neue (noch) nicht geboren werden kann, spricht man von einer Krise«, so hat es einmal der italienische Philosoph Antoni Gramsci formuliert. So gesehen leben wir nicht nur in einer Wirtschafts-, sondern seit langem schon in einer Krise rund ums Essen und Genießen: Rund um unseren Umgang mit Lebensmitteln, unser Verständnis über deren Herstellung, die Wertschätzung für die Produkte und auch die Zeit, die wir dem Essen und Trinken, der Besorgung und Zubereitung, dem geselligen Miteinander einräumen. Tagtäglich heißt es zu entscheiden: noch ein Bissen oder aufhören? Alleine jetzt essen oder später gemeinsam? Einkaufen und kochen oder doch auswärts essen? Gemüse oder Fleisch? Saisonal und regional? Bio oder konventionell? Selbst gemacht oder Fertigprodukt? Oder fertig, aber »wie selbst gemacht«? Wie wir entspannt und gelassen mit dem Angebot und unseren Möglichkeiten Lebensstilen umgehen – das ist noch nicht »neu geboren«. Wir sind mitten drin, in der Genuss-Krise.

Wie und was wir konsumieren, spiegelt wider, wo und mit wem wir leben. Essen und Trinken werden daher als ein soziales Totalphänomen bezeichnet. Das heißt nichts anderes, als dass es auf viele Bereiche des Lebens wirkt und umgekehrt von vielen beeinflusst wird. Es ist ein Unterschied, ob ich in einem Dorf lebe oder in einer Stadt mit unzähligen kulinarischen Angeboten. Auch die Bedingungen am Arbeitsplatz vermitteln eine kulinarische Struktur: Gibt es eine Kantine, eine Küche oder ansprechende und leistbare Lokale rundherum? Wie viel Zeit darf das Essen einnehmen? Welchen Stellenwert hat es? Mit wem isst man? Und mit wem nicht? Wie verändern sich eigene Gewohnheiten mit einem Wohnsitz-, Partner- oder Jobwechsel?

Essen und Trinken sind höchst individuell und gleichzeitig ein sozialer Spiegel. In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Die Antworten darauf zeigen sich eben auch darin, wie wir mit Nahrung umgehen. »Essensordnungen sind Offenbarungen über Kulturen«, deutete Friedrich Nietzsche schon an. Schließlich definieren sich Gesellschaften nicht bloß über ihre rechtlichen, sozio-ökonomischen und politischen Systeme. Nationalgerichte stehen oft stellvertretend für das Savoir-vivre eines Landes. Was wäre Österreich ohne Wiener Schnitzel, Apfelstrudel oder Kaiserschmarren? Italien ohne Pasta und Pizza, Spanien ohne Paella? Deutschland ohne Bratwurst, England ohne Fish and Chips oder Roastbeef? Die Schweiz ohne Käsefondue und Raclette? Ungarn ohne Gulyás? Und Frankreich? Seit 2010 zählt die gesamte Küche zum Weltkulturerbe. Bouillabaisse, Coq au Vin, Mousse au Chocolat, eine delikate Käseauswahl und Wein als immanenter Begleiter: Nicht die Speisen an sich überzeugten die UNESCO für ihre Entscheidung, die französische Küche als Kulturerbe zu verankern. Viel eher sei in Frankreich die Cuisine française eben die gebräuchlichste Art, die »wichtigsten Momente im Leben zu feiern". Damit zählt die Art und Weise, wie die Franzosen essen, nun selbst zu einem schützenswerten Kulturgut. Anlass für den Antrag war der Umstand, dass das traditionelle Essen mit Apéritif, Vorspeise, Hauptgericht, Nachtisch, Käse und Kaffee nur noch selten stattfinde. Zu sehr würde Fast Food um sich greifen, die Mahlzeiten werden immer kürzer und Kinder würden die kulinarische Tradition nicht mehr mitbekommen. Dagegen sollte ein Signal gesetzt werden. Das Essen selbst, und nicht nur die Lebensmittel, soll wieder einen höheren Stellenwert in der Gesellschaft erlangen.

Auch die Italiener greifen zu kulturell ausgezeichneter Küche: Die gesamte mediterrane Kost wurde ebenso zum immateriellen Weltkulturgut erhoben. Auf ihre traditionelle Lebens- und Ernährungsweise besinnen sie sich nun aber in einer Zeit, in der die industrielle Produktion schrumpft, die wirtschaftliche Kraft nachlässt, die Arbeitslosigkeit zunimmt, die Infrastruktur in den Städten zusammenbricht. Sie ziehen vermehrt auf das Land, übernehmen Höfe und widmen sich wieder der Produktion regionaler Nahrungsmittel. In der Krise entdecken die Italiener erneut ihre Lebensfreude im Einfachen und Unverfälschten. Sie nehmen sich Zeit für Belohnung. Sich etwas gönnen gleicht dem Rettungsanker im tristen Alltag.

Genuss gewinnt als Antidepressivum an Wert. Kostengünstiger lassen wir uns nicht bei Laune halten. Nur: Genießen muss erlaubt sein. Und: Genießen können fällt nicht allen in den Schoß. Es braucht ein förderliches Umfeld, eine genussfreundliche Kultur, einen entspannten Zugang. Woran liegt es, dass wir nicht »genießen«, sondern »sündigen«?

3.1 DIE GESUNDHEITSGESELLSCHAFT: VOM SECHSTEN KONDRATIEFF ZUR IDEOLOGIE

Der Wert »Gesundheit« hat gesellschaftlich eine beachtliche Aufwertung erfahren. Dafür gibt es mehrere Erklärungen. Eine resultiert aus der Theorie der langen Wellen. Im Gegensatz zu kurzen und mittleren Wirtschaftszyklen mit einer Dauer von drei bzw. sieben bis elf Jahren sind das jene Grundschwingungen in der Marktwirtschaft, die einen Zeitraum von 40 bis 60 Jahren umfassen. Sie werden nach ihrem Entdecker Nikolai Kondratieff »Kondratieffzyklen« genannt. Auslöser dieser langen Wirtschaftszyklen sind bahnbrechende Erfindungen, die große gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen mit sich bringen. Das war die Dampfmaschine ebenso wie die Erfindung des Autos oder die Informationstechnologie. Das Gesundheitswesen ist nun der Antriebsmotor für die sechste lange Welle, die um die Jahrtausendwende begann. Zwei Innovationsschübe sprechen dafür: die Biotechnologie und der Stellenwert psychosozialer Gesundheit. In den Bereich Biotechnologie fallen Ernährung, Therapien, Medizintechnik, Diagnosen, Medikamente, Landwirtschaft, Umwelt- und Naturschutz, Energieerzeugung, et cetera. Die psychosoziale Gesundheit birgt Potenzial, wenn man alle Kosten, Verluste und Schäden zusammenzählt, die mit Kriminalität, Diebstahl, Betrug, Drogen, Gewalt, Korruption, Menschenhandel, Terrorismus, Umweltzerstörung, Energievergeudung, Ausgaben für innere und private Sicherheit, Bürgerkriege und militärische Einsätze zusammenzählt. Ein weit gespanntes Feld.


Für den Einzelnen aber ist Gesundheit als Megatrend eher spürbar, weil sie ideologischen Charakter angenommen hat. Gesundheit wird als das höchste Gut des Menschen verkauft. Und viele glauben, das war schon immer so. Doch das ist falsch. Gesundheit zu verabsolutieren ist ein Zeichen unserer Zeit. »Das Streben nach Gesundheit kompensiert die innere Glaubensleere unserer Gesellschaft«, meint der österreichische Schriftsteller, Theaterregisseur und Filmemacher Walter Wippersberg. In Deutschland gehen mehr Menschen ins Fitnessstudio als in die Sonntagsmesse. Er spricht gar von einer »Gesundheitsreligion«, die, wie banal, als einziges Ziel ein möglichst langes Leben hat, sich nur diesseitig orientiert. Moral, Tradition und etablierte Religionen bilden keine stabilen gesellschaftlichen Werte mehr und halten keine allgemein gültigen Argumente gegen abweichendes Verhalten bereit. Der »Sünder« wäre ausgestorben, gäbe es nicht den gesellschaftlichen Imperativ zur Gesundheit.

Wer sich heute »ungesund« verhält, zu viel isst, zu wenig Sport macht, wessen Körperform vom Ideal allzu sehr abweicht, wer zu viel raucht, Alkohol trinkt, nichts gegen Stress tut, seine Psyche vernachlässigt, Vorsorgeprogramme verweigert, und letztendlich der Gemeinschaft auf der Tasche liegt, weil sich Diabetes, Bluthochdruck, Depression oder Adipositas entwickelt haben, wird als unsozial gebrandmarkt – steht am Pranger.

Johann Kinzl, Psychosomatiker an der Universitätsklinik Innsbruck, spricht vom »Foodamentalismus« und sieht diesen ebenfalls im Gesundheitswahn begründet. Das Essverhalten wird krisenanfällig, weil die Gesundheitsaspekte zu sehr in den Vordergrund rücken und gleichzeitig der Vergnügungsfaktor vernachlässigt wird. Es wird durch Vorschriften und eine Auswahl nach »guten« und »bösen« Lebensmitteln gestört. Vor Jahren schon wurde dieses Phänomen wissenschaftlich beobachtet und unter dem Begriff »Orthorexie« zusammengefasst. Dabei geht es um ein krankhaftes »richtig essen«. Was sich bei den einen als Splen entwickelt und noch als verschrobener Zugang zum Essen bezeichnet werden kann, mausert sich bei anderen zur veritablen Essstörung, die in ihrer Manifestation durchaus mit Anorexie (Magersucht) oder Bulimie (Ess-Brech-Sucht) mithalten kann. Generell geht es aber weniger um die Tatsache, dass immer mehr Menschen aus verschiedenen Motiven heraus ihr Lebensmittelspektrum einengen. Verstörend ist der Gutmensch-Aspekt, das Missionarische und Ideologische daran.

Denn Gesundheitsideologen unterscheiden messerscharf zwischen richtig und falsch, zwischen »gut« und »böse«, wünschenswert und verdammungswürdig. Ihre Gesinnung ist binär codiert: 0 oder 1. Es gilt das eine oder genau das andere. Dazwischen hat nichts Platz. Schwarz oder Weiß – Grautöne fehlen. Ideologen übernehmen Verantwortung für Ihre Haltungen, nicht aber für ihre Handlungen. Sie sehnen sich nach klaren Handlungsempfehlungen. Dafür können die Fakten durchaus etwas verdreht werden. Der Zweck heiligt die Mittel. Rationale Gründe sind nur von Interesse, wenn sich damit eigene Positionen untermauern lassen.

Philosophen dagegen wägen ab. Sie sind auf der Suche nach dem rechten Maß, haben die Konsequenzen im Auge und bemühen sich um eine ganzheitliche Betrachtungsweise. Um das konkreter zu machen, ein Beispiel anhand der Frage: »Soll man Schweinefleisch essen?«. Philosophen werden darauf antworten: »Kommt darauf an.« Sie fragen nach der Menge, nach artgerechter Haltung, stressfreier Schlachtung, danach, ob man grundsätzlich Tiere essen soll. Oder danach, was ein Schaf oder Rind vom Schwein unterscheidet. Etwa, dass Wiederkäuer aus für den Menschen nicht verdaulichem Gras ein wertvolles Lebensmittel bilden. Oder warum ein Schwein »unreiner« sein soll als ein Rind. Anhänger jüdischer oder islamischer Religion beispielsweise werden auf die Frage mit ihren Essensregeln mit einem Nein antworten. Sie berufen sich dabei nicht auf naturwissenschaftliche oder hygienische Erkenntnisse, sondern begründen ihre Gesinnung mit historisch gewachsenen Traditionen. Was die Gesundheit betrifft, so gleicht sie in der ideologischen Argumentation oft nur einem Feigenblatt.

Denn ging es um sie, bräuchte man sich nur um eines der im Kontext mit Essen und Trinken wohl am häufigsten zitierten Naturgesetze zu bemühen: jenes von Philippus Theophrastus Aureolus Bombast von Hohenheim, einem Arzt aus dem 16. Jahrhundert, genannt: Paracelsus. Er lehrte: »Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift, allein die Dosis macht’s, dass ein Ding kein Gift sei.« In der richtigen Menge kann also eine Substanz ein Heilmittel sein, im Übermaß aber ein Gift. Dazwischen sitzt der sogenannte qualitative Sprung. Das rechte Maß ist also kein reines Quantum: Es ist ein Qualitativum.

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