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Kapitel 4

Isabel saß im Bus von Allensbach nach Konstanz und blickte über den See, der zu ihrer Rechten vorbeizog. Das große Wasser machte ihr nicht mehr Angst, vielmehr sorgte die natürliche Weite dafür, dass ihr Innerstes sich beruhigen und ihr Herz wieder weit werden konnte.

Am Abend nach dem Unglück war Isabel nicht zu Thomas nach Hause gegangen. Entgegen dem Rat der Rettungssanitäter, sich im Krankenhaus untersuchen zu lassen, hatte sie, durcheinander wie sie war, die Katamaranfähre bestiegen und war von Friedrichshafen nach Konstanz zu ihrer Freundin gefahren. Im Nachhinein wunderte sie sich selbst, dass sie damals ein Boot ohne Hemmungen hatte besteigen können. Später war ihr klar geworden, dass sie zu der Zeit in völligem Schockzustand funktionierte. Panik und Angstzustände kamen erst hinterher.

Lena hatte sie aufgenommen, ohne lange zu fragen, und zu Bett gebracht. Thomas hatte sie nur eine kurze Nachricht über WhatsApp geschickt. Eine Nacht und einen halben Tag lang hatte die Freundin bei ihr ausgeharrt, ihr zugehört, sie in den Arm genommen und erst losgelassen, als die Weinkrämpfe aufgehört und die Tränen versiegt waren. Lena, die ohnehin von der Affäre mit Carl wusste, hatte Isabel alles erzählen können. Nur ihr. Am nächsten Tag hatte Lena sie nach Friedrichshafen zurückgebracht und dem völlig ahnungslosen Thomas übergeben.

Lena staunte, als Isabel nun unangemeldet in ihrer Praxis auftauchte: »Du bist wieder auf den Beinen? Und hier in Konstanz? Warum hast du nicht gesagt, dass du kommst?«, begrüßte sie die Freundin.

»Hab mich ganz spontan entschlossen. Hast du überhaupt Zeit?«, fragte Isabel.

»Bald. Lass dich erst mal umarmen.« Dicht an Isabels Ohr flüsterte Lena: »Ich bin gerade mitten in einem Patientengespräch. Wenn das Telefonat beendet ist, haben wir Zeit, bis ich Ben aus der Kita holen muss.« Sagte es und schielte hinüber in ihr Behandlungszimmer. Dann drückte sie die Freundin von sich und fügte hinzu: »Setz dich einen Moment und nimm dir was zu trinken.« Damit verschwand Lena noch einmal im Zimmer nebenan.

Was würde ich bloß machen ohne Lena, dachte Isabel in einem Anflug von Verzweiflung. Sie kannte Lena länger als jeden anderen Menschen auf der Welt – abgesehen von ihrer Schwester Katharina, die allerdings vor Jahren den Kontakt zu ihr abgebrochen hatte. Ihrer Schwester war Isabels Beamtendasein zu spießig. Sie wusste nicht einmal, wo Katharina sich gerade aufhielt, ob sie noch studierte oder ins Berufsleben eingetreten war. Und doch verdankte Isabel ihrer Schwester, dass sie seinerzeit Thomas kennengelernt hatte, als sie Katharina in Freiburg besucht hatte.

Bis Isabel bei Thomas eingezogen war, hatte sie in Tübingen lange Zeit eine Wohnung mit Lena geteilt. Obwohl Lena einige Jahre älter war – in wenigen Tagen erreichte sie das Schwabenalter – verband sie eine innige Freundschaft. Diese Verbindung war so stark, dass sie auch die räumliche Distanz, die durch Lenas Umzug nach Konstanz entstand, unbeschadet überdauert hatte. Lena war ihr vorausgeeilt: Sie hatte die berufliche Chance, in Konstanz in eine Praxis von Psychotherapeuten einzusteigen, auch genutzt, um sich in aller Freundschaft vom Vater ihres Sohnes Ben zu trennen. Damit hatte Lena geschafft, was sie selbst bis zum heutigen Tag nicht hinbekam: Mutig hatte sie diese Entscheidung getroffen, und dafür bewunderte Isabel sie. Ben war, neben Lenas Berufstätigkeit und Isabels Schichtdienst, der Grund, warum sie sich nicht mehr wie früher einfach mal spontan trafen und sich gemeinsam eine Nacht um die Ohren schlugen.

Isabel hatte jahrelang die Praxisräume nicht mehr betreten und schaute sich um. Den Ficus benjamini kannte sie schon aus Tübingen. Seine Blätter streiften inzwischen die Zimmerdecke. Bilder mit Sinnsprüchen und Alltagsweisheiten an den hellgelb gestrichenen Wänden verliehen dem Wartezimmer wohltuende Wärme. Isabel ging von einer Tafel zur anderen und überflog die Zeilen: ›Probleme, die man konsequent ignoriert, verschwinden nur, um Verstärkung zu holen‹, stand da neben einem Vogel Strauß, der seinen Kopf in den Sand steckte. Aha, dachte Isabel und las den nächsten Text, bei dem der Betrachter durch ein Schlüsselloch schaute: ›Halte durch, liebes Herz. Es regelt sich gerade alles neu.‹ Isabel schmunzelte und dachte: Wenn es damit getan wäre … Ihre Augen wanderten weiter. Mitten in einem roten Herz stand: ›Mach es dir zur Aufgabe, dich gut um dich selbst zu kümmern.‹ Das hörte sich alles richtig an, wenn es doch auch so einfach einzuhalten wäre …

Isabel setzte sich mit einem Seufzer auf einen Stuhl und kramte die Zeitung aus ihrem Rucksack, die sie im Zug eingesteckt hatte. Ein weiteres Mal überflog sie die Zeilen, und wieder beschleunigte sich ihr Herzschlag merklich:

… Zwei Personen – dem Vernehmen nach ein Mann und eine Frau – hatten sich unter Deck befunden. Sie mussten Fensterscheiben zertrümmern, um sich aus dem sinkenden Schiff zu befreien. Einer der beiden Personen gelang es nicht, aus eigener Kraft an die Oberfläche zu schwimmen. Sie wurde mit in die Tiefe gerissen, konnte aber …

Da kam Lena zurück und unterbrach Isabels Lektüre mit den Worten: »Ich freu mich so, dass du wieder auf die Beine gekommen bist, und das aus eigener Kraft. Ich dachte schon, du versinkst in deiner Trübseligkeit bis zum Sankt Nimmerleinstag und ich muss dich raushieven.«

Isabel hob die Augenbrauen und sagte erstaunt: »Hey, so spricht keine Therapeutin!«

»Nein, eine Therapeutin nicht, aber eine beste Freundin«, erwiderte Lena und zwinkerte ihr zu. »Und die wäre demnächst gekommen und hätte dir in den Hintern getreten, wärst du nicht freiwillig aus dem Bett gestiegen!«

Isabel lächelte und sagte mit gespielter Empörung: »Da habe ich ja noch mal Glück gehabt, du brutales Wesen, du!«

»Komm, wir gönnen uns jetzt einen schönen Eiskaffee«, sagte Lena, streifte ihr T-Shirt mit dem Emblem der Praxis ab und zog sich eine Bluse über.

»Oh ja, den hab ich verdient«, pflichtete Isabel bei, steckte den Zeitungsbericht ein und fügte an: »Ich war in Allensbach in der Klinik, bei Carl, auf der Intensivstation.«

Lena richtete gerade ihre Handtasche und blickte überrascht auf: »Wie? Du warst in Allensbach? Bist einfach in die Intensivstation rein? Ich habe mich schon gewundert, warum du hier so überraschend reinschneist.«

Isabel nickte, und die Worte sprudelten förmlich aus ihrem Mund: »Ja, ich war bei Carl. Er liegt im künstlichen Koma. Die Atmosphäre dort war echt schlimm. Auch ich bin mir richtig ausgeliefert vorgekommen. Nur Maschinen um mich herum, und überall piepst und blinkt es.« Noch immer lief ein Schauder über Isabels Rücken, wenn sie zurückdachte. Ihre Augen suchten Lenas, als sie fortfuhr: »Noch viel schlimmer ist: Mit dem Menschen, den du besuchen willst, kannst du gar nicht reden, der liegt da wie tot. Aus Verzweiflung suchst du Kontakt zu anderen Angehörigen, die in derselben Situation sind. Es war grausam.« Isabel schmiegte sich an Lena, die näher gekommen war und die Freundin an sich drückte.

»Das war bestimmt ein schwerer Gang«, sagte Lena und strich ihr über den Rücken.

Isabel hob den Kopf, blickte in Lenas Augen und sagte: »Unbeschreiblich schwer … und furchtbar … ich möchte da auch nie mehr hin.«

Lena legte eine Hand auf Isabels Arm und beteuerte: »Das kann ich gut verstehen. Das möchte niemand, der eine Wahl hat. Das war eine starke Leistung von dir, find ich ganz prima, dass du diesen Schritt gewagt hast.«

»Danke, dass du das sagst, Lena. Und danke, dass du für mich da bist.«

»Und jetzt lass uns gehen. Unser Eiskaffee wartet«, sagte Lena und nahm ihre Handtasche.

Isabel grinste: »Aber bitte mit Sahne!«

Auch Thomas staunte, als er kurz nach Isabel nach Hause kam und sie in der Küche fand, wo sie am Tisch saß und Gurke und Paprika für das Abendessen schnippelte.

»Hallo, Isabel, da bist du! Ich habe dich im Bett vermutet. Es geht dir also besser. Du bist auferstanden von den Toten!«, versuchte er zu scherzen und stellte eine Tüte mit Einkäufen auf den Tisch.

Isabel hob den Kopf und lächelte ihm zu: »Ja, lieber Thomas, nicht aufgefahren in den Himmel – noch nicht.«

Dann schnippelte sie weiter, als gäbe es nichts Wichtigeres zu tun. Thomas setzte sich ihr gegenüber und überlegte, wie er ein Gespräch beginnen sollte, damit sich Isabel ihm endlich öffnete. Seit dem Unglück mit ihren Kollegen hatte sie Tag und Nacht apathisch im Bett verbracht. Für ihn war es nicht neu, dass Isabel gelegentlich bei ihrer Freundin übernachtete. Ungewöhnlich war allerdings, dass Lena sie am nächsten Tag heimgebracht hatte, und das in einem Zustand, der ihn ahnen ließ, dass sie Schreckliches durchgemacht haben musste. Bisher war Isabel kaum ansprechbar gewesen. Mehr als das, was er den Medien entnehmen konnte, hatte Thomas aus ihr nicht herausbekommen. Nun schaute er ihren geübten Handgriffen zu und fragte: »Isabel, ich habe mir echt Sorgen gemacht um dich. Möchtest du mir nicht endlich sagen, was passiert ist?«

Isabel legte das Messer beiseite: »Bitte nicht jetzt, Thomas. Ich brauche Zeit. Es geht auch schon wieder.« Um seinem Blick nicht länger standhalten zu müssen, arbeitete sie nach einer kurzen Pause eifrig weiter und streifte das Gemüse in eine Schüssel.

»Dein Rucksack steht im Flur. Du warst außer Haus?«, fragte Thomas weiter.

Isabel nickte.

»Warst du bei deiner Ärztin?«

Isabel schüttelte den Kopf.

Thomas fasste an seine Brille. Wie konnte er sie nur aus der Reserve locken? Er fragte: »Denkst du, du kannst bald wieder zur Arbeit gehen?«

Isabel zuckte mit den Schultern.

Thomas ließ nicht locker: »Isabel, bitte. Was ist los mit dir? Du willst es mir nicht sagen, habe ich recht?«, bohrte er weiter.

Isabel überlegte. Würde Thomas sie verstehen können, wenn sie ihm alles beichtete? Alles, auch die Affäre mit ihrem Chef? Wie würde er reagieren? Würde er ausflippen und toben? Wohl kaum. Schreien oder weinen? Schon eher. Nein, das könnte sie im Moment nicht ertragen. Sie entschloss sich, Thomas nun direkt anzusehen, und sagte: »Thomas, ich fühle mich noch nicht stark genug, um da­rüber zu reden. Und ich will dich auch nicht noch mehr belasten, nicht jetzt. Bitte versteh mich.«

Thomas hielt ihrem Blick stand. Er mochte ihre rehbraunen Augen, und das Flackern darin war ihm nicht entgangen. Erneut rückte er seine Brille zurecht und seufzte: »Ja nun, verstehen kann ich es zwar nicht, Isabel, aber ich muss es wohl akzeptieren.«

Damit stand er auf, nahm Brot, Käse, Roastbeef und die Sachen, die er sonst eingekauft hatte, aus der Tasche und stellte sie in den Kühlschrank. Dann drehte er sich wieder Isabel zu, die schweigend weitergeschnippelt hatte, und sagte: »Es ist schon ein großer Fortschritt, dass du wenigstens das Bett verlassen konntest. Wenn ich es geahnt hätte, hätte ich nicht schon in der Mensa gegessen.«

Da war sie wieder, diese Kühle in Thomas’ Benehmen und in seinen Worten, die Isabels Herz wie einen Eispanzer umschloss. Sie legte das Messer beiseite und sagte: »Du hättest ja auch mal etwas für mich kochen können – eine Kleinigkeit, einen Salat, eine Suppe oder so etwas. Auf die Idee kommst du wohl nicht?« Kaum waren die Worte über ihre Lippen gekommen, taten sie Isabel auch schon leid. Sie wusste, sie verhielt sich Thomas gegenüber ungerecht. Schließlich hatte er sie in den Tagen, als es ihr schlecht ging, liebevoll umsorgt. Er hatte ihr Getränke und kühlende Tücher ans Bett gebracht. Wonach sie sich am meisten gesehnt hatte, nämlich, dass er sie in den Arm genommen hätte, das hatte er nicht versucht. Nicht ein einziges Mal. Obwohl: Hätte sie seine Berührung überhaupt zulassen können? Hätte sie ihn von sich geschoben? Das fragte sich Isabel jetzt. Mit den Antworten war sie sich selbst nicht sicher. Warum war sie innerlich so zerrissen? Warum waren ihre Gefühle für ihn so widersprüchlich? Warum war alles so kompliziert geworden? Warum konnte sie sich einfach nicht mehr richtig wohlfühlen in seiner Gegenwart? Was hatte sie für Carl empfänglich gemacht?

Sie rückte ihren Stuhl zurück, stand auf und flüsterte: »Entschuldige bitte. Hab’s nicht so gemeint.« Sie hob ihre Hände und wollte Thomas umarmen. Doch er schob sie von sich und sah sie verständnislos an. Ihre Reaktion hatte ihn verletzt, und er zerbrach sich den Kopf, was er gerade falsch gemacht hatte. Schließlich seufzte er: »Ja nun, ich konnte nicht ahnen, dass es dir heute besser geht. Die letzten Tage wolltest du nichts und hast jegliche Nahrung verweigert.« Mit diesen Worten griff er nach einer Flasche Wasser, fügte hinzu: »Jedenfalls tut es gut, dich hier in der Küche sitzen zu sehen«, und zog sich in sein Zimmer zurück. Hier könnte er das Gespräch nochmals Revue passieren lassen und analysieren. Er fragte sich, ob er seine Mutter anrufen sollte. Vielleicht wusste Annerose Rat. Immerhin war sie auch eine Frau.

Isabel sah ihm nach. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, vergrub sie ihren Kopf in den Händen. Warum merkte Thomas nicht, was ihr fehlte? Warum konnte er ihr nicht das geben, was sie brauchte? Und warum schaffte sie es nicht, ihm zu sagen, was sie in ihrer Beziehung vermisste?

Kapitel 5

Mit dem ersten Klingelton des Weckers stand Isabel am nächsten Morgen auf, ging ins Bad, wusch sich und schlüpfte rasch in ihre Kleider. Sie beeilte sich, denn sie befürchtete selbst, dass sie es sich anders überlegen könnte. Statt zum Dienst zu gehen, könnte sie sich weiterhin mit der Bettdecke über dem Kopf verkriechen und von der Außenwelt abschirmen, um nichts sehen und nichts hören zu müssen und bestenfalls nichts fühlen zu müssen. Doch diesen Impulsen wollte Isabel nicht länger nachgeben. Mit aller Willenskraft wollte sie versuchen, zu sich selbst zurückzufinden, und die Rückkehr an ihren Arbeitsplatz würde ihr Halt geben. Sie verließ hastig die Wohnung, ohne Thomas zu wecken und ohne sich von ihm zu verabschieden. Als er nach stundenlanger Lektüre am späten Abend ins Schlafzimmer geschlichen kam, hatte sie sich schlafend gestellt, um dem Gute-Nacht-Kuss zu entgehen.

Als Isabel ihr Fahrrad aufschließen wollte, bemerkte sie, dass sie ihren Schlüsselbund vergessen hatte. Mist, dachte sie, aber nochmals nach oben gehen, kommt nicht infrage. Dann werde ich heute eben den Bus nehmen. Und schon lief sie die wenigen Meter zur Haltestelle.

Von den Menschen, die an den wenigen Stationen bis zur Dienststelle ein- und ausstiegen, nahm Isabel keine Notiz, ebenso wenig von den vorbeiziehenden Gebäuden. Ihre Gedanken kreisten um das bevorstehende Wiedersehen mit den Kollegen. Wie würden sie ihr gegenübertreten? Hatte doch deren übermütiges Schaukeln das Schiff in extreme Schieflage und letztendlich zum Kentern gebracht – und damit Carl Dangelmann und sie in Lebensgefahr. Erneut bildete sich auf Isabels Haut eine Gänsehaut, als sie an die schrecklichen Minuten unter Wasser zurückdachte.

Mit gemischten Gefühlen schritt sie durch die zu dieser morgendlichen Stunde fast menschenleere Fußgängerzone auf das Gebäude der Wasserschutzpolizeistation Friedrichshafen zu. Als sie den See erblickte, hoben sich ihre Mundwinkel zu einem leisen Lächeln. Sie kniff die Augen zusammen, denn die Wasserfläche glitzerte bereits im Sonnenlicht. Vor den Thurgauer Bergen am Ufer gegenüber zog noch der morgendliche Dunst sein hellgraues Band.

Es kam Isabel vor, als wären Wochen vergangen, seit sie zum letzten Mal hier gewesen war. Dabei lagen nur wenige Tage dazwischen. Und erst fünf Monate war es her, seit sie zum ersten Mal vor der blauen Metalltür stand, um ihren Dienst anzutreten. Damals pochte ihr Herzen vor Aufregung und Freude mindestens so heftig wie jetzt. Doch nun mischten sich Scham, Furcht und das schlechte Gewissen. Dieser Gefühlscocktail drohte von ihr Besitz zu ergreifen, ihr wurde übel. Sie holte tief Luft und zwang sich, an die positiven Seiten der Entwicklung zu denken: Mein Traum hat sich erfüllt, ich bin von Tübingen zur Wasserschutzpolizei an den Bodensee versetzt worden. Ich liebe meine Arbeit. Doch so vieles hat sich seither verändert und mein Leben durcheinandergewirbelt.

Da auch der Schlüssel zu dieser Tür in der Wohnung lag, musste Isabel wie an ihrem ersten Tag den Klingelknopf drücken. Sie hielt den Atem an. Wie damals öffnete ihr auch heute Frieder Kahle. Isabel mochte den dienstältesten Kollegen, hatte ihn vom ersten Arbeitstag an besonders ins Herz geschlossen, weil er sie an ihren verstorbenen Vater erinnerte. Frieder Kahle blieb verdutzt stehen, als er Isabel sah, und sein ohnehin gerötetes Gesicht legte noch an Farbe zu. Keine humorvolle Begrüßung, wie sonst üblich, kam aus seinem Mund. Nur ein einziges Wort presste er zwischen zusammengekniffenen Lippen hervor: »Entschuldige.« Und schon eilte er mit gesenktem Kopf an ihr vorbei.

Isabel spürte, wie sehr Frieder sich Vorwürfe machte für das, was passiert war. Aber auch Isabel schämte sich, und ihre Wangen wurden heiß. Frieder, ebenso wie alle anderen, wussten nun von ihrem Verhältnis mit dem Chef. Bestimmt hatte es sich auch bei den Kollegen der anderen Schicht und in den weiteren Dienststellen wie ein Lauffeuer verbreitet. Da gab es nichts mehr zu beschönigen, gar nichts. Bei Frieder war es Isabel besonders peinlich, obwohl er selbst gern den Voyeur und Filou gab und kein Unschuldslamm war. Das hatte sie bei manchen Einsätzen mit ihm erlebt. Boote, auf denen sich Pärchen im Adams- beziehungsweise Evaskostüm sonnten, überprüfte er besonders gern und intensiv.

Frieder und die anderen Kollegen hatten von ihrem ersten Tag an über den enormen Verschleiß des Chefs an schönen Frauen gelästert. Sie hätte gewarnt sein müssen, doch sie hatte immer nur lächelnd zugehört. Und dann war auch sie dem Charme von Carl W. Dangelmann und seiner unfassbar erotisch-männlichen Ausstrahlung erlegen. Die dunkle Seite seines Charakters und sein übersteigertes Selbstbewusstsein, ja seinen Narzissmus, hatte sie am eigenen Leib erst zu spüren bekommen, als es zu spät war. Im Gegensatz zu den meisten Kollegen, insbesondere dem jungen Timo Fessele, hatte Carl sich ihr gegenüber nämlich lange Zeit nicht herablassend, gemein und jähzornig verhalten.

Isabel zog energisch den Haargummi fester um ihren Pferdeschwanz. Jetzt gab es nur eines: Sie musste dazu stehen, was sie getan hatte, schließlich war sie erwachsen. Worauf sie sich eingelassen hatte, konnte nicht mehr rückgängig und ungeschehen gemacht werden. Sei stark, bleib ruhig, hämmerte sie sich mit jeder Treppenstufe ein, die sie auf dem Weg zu ihrem Büro nahm.

Oben angekommen, wurde ihre gerade beschworene Selbstsicherheit sogleich auf die Probe gestellt. Im Flur kam ihr Timo entgegen. Ihn hatte das Geschehen besonders getroffen. Er mochte Isabel sehr, war sogar heftig verliebt in sie. Isabel mochte Timo auch, wenngleich sie für ihn nur kollegiale Gefühle empfand. Bisher hatte sie seine unbeholfenen Annäherungsversuche eher amüsiert registriert und ihm nie irgendwelche Hoffnungen gemacht. Timo war überhaupt nicht ihr Typ. Und Timo wiederum war viel zu schüchtern und hatte sich nie getraut, Isabel seine Liebe zu gestehen. Erst am Tag des Unglücks war seine Hoffnung, die schöne Kollegin für sich gewinnen zu können, bis in die Grundfesten erschüttert worden. Timos Augen flackerten, als er nun Isabel erblickte, und seine helle Gesichtshaut färbte sich dunkelrot bis zum Ansatz seiner blonden Stoppelhaare. »Hey, Isabel. Wieder an Bord«, presste er hervor. Dann senkte auch er seinen Kopf und drückte sich an ihr vorbei in sein Büro.

Obwohl Isabel gar nicht nach Späßen zumute war, rief sie ihm nach: »Aye, aye, Käpt’n.« Die Seemannssprache war ihr einfach über die Lippen gerutscht. Sie dachte: Armer Kerl, für dich muss eine Welt zusammengebrochen sein. Isabel wünschte, sie hätte Timo nicht auf diese Art das Herz brechen müssen. Ausgerechnet mit dem ihm so verhassten Chef, von dem er sich auch im Dienst ständig demütigen lassen musste.

Vor ihrem Zimmer hob Isabel den Kopf, zerrte nochmals ihren Haargummi zurecht, drückte die Türklinke und ging entschlossen hinein. Ihr Kollege Markus Proll saß hinter seinem Computer, vor sich einen Berg von Papieren, den Kopf in die Hände gestützt.

Seit der Polizeidirektor im Krankenhaus war, wusste er oft nicht, wo ihm der Kopf stand. Er musste, zusätzlich zu seiner Arbeit, stellvertretend die Dienststelle der Wasserschutzpolizei Friedrichshafen leiten, zu der auch der Polizeiposten im 15 Kilometer entfernten Langenargen gehörte. Als nun Isabel das gemeinsame Zimmer betrat, blickte Markus auf. Er erhob sich sofort, kam ohne ein Wort auf sie zu und nahm sie einfach in die Arme. Dann sagte er: »Ich freue mich, dass du wieder da bist, Isabel. Und es tut mir so leid, dass das passiert ist.«

Isabel merkte, wie sich ihr Körper bis hinauf zum Nacken versteifte. Sie schluckte die Erinnerung, die erneut hochkommen wollte, hinunter. Da Isabel nichts sagte, versuchte Markus, sich unbeholfen zu rechtfertigen: »Die Kollegen brachten das Boot so leichtsinnig zum Schaukeln, die beugten sich so weit über die Reling, um einen Blick auf euch da unten erhaschen zu können. Du hättest ihre zotigen Witze hören sollen … Ich dachte, wenn ich Gas gebe, kommen die zur Vernunft und hören auf, aber das war offensichtlich das Verkehrteste, was ich tun konnte …«

Bei seinen Worten erfasste Isabel ein Schaudern. Offensichtlich hatte sie sich doch zu viel zugemutet. Markus bemerkte es und drückte sie noch fester an sich.

»Danke für dein Mitgefühl, Markus. Ich weiß, dass du das nicht wolltest, keiner wollte das«, brachte Isabel nun mit zitternder Stimme hervor. Sie richtete sich auf, schaute ihrem Kollegen in die Augen und fragte: »Du hast schon vor dem Unglück alles gewusst von Carl und mir, nicht wahr?«

Markus strich ihr über Schultern und Rücken und sagte noch einmal: »Du bist wieder hier, Isabel. Das allein zählt. Es ist nicht deine Schuld, wie alles gekommen ist. CaWe allein ist verantwortlich für das, was er tut.«

Obwohl Isabel nie ein Wort darüber verloren hatte, hatte Markus geahnt, dass der Chef sich Isabel genommen hatte wie so viele andere vor ihr. Er hatte es bereits befürchtet, als er Isabel zum ersten Mal gesehen hatte. Ihre natürliche Schönheit, die Make-up nicht nötig hatte, ihr herzliches und offenes Wesen, ihre Unschuld beeindruckten auch ihn. Er arbeitete gern und gut mit Isabel zusammen. Immer mal wieder hatte er versucht, sie durch die Blume vor den Absichten des Chefs zu warnen. Aber er wusste, dass Gefühle und Triebe stärker sein können als der Verstand. Das hatte er nicht nur in der theoretischen Ausbildung gelernt, die polizeiliche Praxis konfrontierte ihn beinahe täglich mit den Abgründen menschlichen Handelns.

Isabel löste sich aus seiner Umarmung und betonte: »Es war nicht nur sein Fehler, ich hätte es wissen müssen.« Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und fügte hinzu: »Hoffentlich wacht Carl bald auf.«

Isabel wusste, auf Markus konnte sie sich verlassen, er war eine ehrliche Haut. Doch mit welchen Augen würden die anderen Kollegen sie betrachten, jetzt, nachdem sie sich zu einer weiteren Kerbe im Bett des Chefs hatte machen lassen? Angstvoll fragte sie sich: Werden sie lästern und tuscheln hinter meinem Rücken? Werden sie mich auch künftig als verlässliche Polizistin und pflichtbewusste Stellvertreterin des Schichtleiters akzeptieren? Wie wird sich Frieder verhalten, mein väterlicher Ratgeber und »Bärenführer«, der mir die Abläufe bei der Wasserschutzpolizei erklärt hat? Er hatte sie wie eine Tochter behandelt. »Mädle, du bist ja geradezu süchtig nach Recht und Gerechtigkeit. Das ist die beste Voraussetzung für eine gute Polizistin«, hatte er sie einmal gelobt. Mit Sicherheit war er nun enttäuscht. Würde er sie verurteilen, ablehnen? Aus der kurzen Begegnung vorhin am Empfang war sie nicht schlau geworden. Dann machte sich Isabel noch einmal klar: Die Kollegen hatten sich auf dem Boot verhalten wie pubertierende Flegel. Das Unglück wäre nicht passiert ohne deren blödsinnige Neugierde und kindische Stichelei.

Isabel holte die Worte in ihr Bewusstsein, die Lena ihr nach einem freundschaftlichen therapeutischen Gespräch mit auf den Weg gegeben hatte: »Was passiert ist, ist passiert, und du willst stark sein. Also musst du lernen, dir solche Sachen nicht so zu Herzen zu nehmen, vieles an dir abprallen zu lassen. Leg dir eine Echsenhaut zu. Das Denken der anderen kannst du ohnehin nicht beeinflussen.« Damit drückte sie den Einschaltknopf ihres Computers. Würde sie da schon ein Shitstorm erwarten?

Auch Markus hatte sich wieder seinen Unterlagen zugewandt und sagte nun: »Selbst wenn CaWe aus dem Koma wieder aufwacht, weiß niemand, was danach sein wird.«

Daran wagte Isabel gar nicht zu denken, vorerst zumindest nicht. Sie überlegte, ob sie Markus von ihrem Besuch am Vortag in der Klinik erzählen sollte, entschied sich dann, es zunächst für sich zu behalten, und begann, ihre elektronische Post zu sichten. Sie war fest entschlossen, sich nun mit aller Kraft in die Arbeit zu stürzen, um wenigstens das wiedergutzumachen, und fragte: »Viel liegen geblieben die letzten Tage, Markus?«

»Das auch. Ich konnte aber einiges abarbeiten«, antwortete Markus. »Meine Frau und meine Jungs haben sich schon beschwert, weil ich deswegen unsere gemeinsame Radtour gecancelt habe.«

»Oh, tut mir leid.«

Markus schmunzelte: »Das muss es nicht. Meine Familie ist ohne mich nach Konstanz rüber. Die haben es sich gutgehen lassen, sind mal wieder ins SEA LIFE und haben gebummelt. Und ich konnte wenigstens abends noch eine Runde mit meinem Bike drehen.« Er schwenkte einen Packen Papiere und wechselte den Tonfall: »Die Kollegen der Kripo, der Schorsch und der Mehmet, waren übrigens auch schon da und haben uns zum Hergang des Unglücks befragt. Die haben uns ganz schön auf Trab gehalten.«

Isabel hob überrascht den Kopf, sah Markus an und fragte: »Schorsch und Mehmet, sagtest du? Also ermittelt die Kripo von nebenan?«

Markus nickte und sagte: »Ja, Gott sei Dank sind unsere Kollegen an dem Fall dran und nicht gleich die von der nächsthöheren Dienststelle oder die Konstanzer. Da bin ich echt froh drüber. Unsere Nachbarn lassen wenigstens mit sich reden.«

»Wie ist denn der aktuelle Sachstand?«, fragte Isabel vorsichtig und merkte, wie ihr der Schweiß aus allen Poren drang.

Markus hatte sich wieder seiner Akte zugewandt und antwortete, ohne aufzusehen: »Die beiden haben alle, die auf dem Boot waren, befragt – als Zeugen.«

»Als Zeugen? Nicht als Beschuldigte?«, wunderte sich Isabel. Ungeachtet ihrer Affäre war ursächlich für den Untergang des Schiffes immerhin die zu einseitige Gewichtsverteilung und das heftige Wippen der Kollegen. Mit einem Schreibblock fächerte sie sich Luft zu, um Hals und Nacken zu kühlen.

»Nein, und als Zeugen waren wir zur Aussage verpflichtet«, sagte Markus, und seine Stimme klang ziemlich genervt. »Wir alle haben dieselben Angaben zum Sachverhalt gemacht, so wie wir es nach dem Unfall besprochen haben. Wenigstens das hat funktioniert.«

Isabel überlegte, und ihr Herz schlug heftiger: »Dann kommen die bestimmt bald auch auf mich zu.«

»Du hast es erfasst. Sie haben den Fragebogen für deine Stellungnahme hiergelassen. Da ist er«, sagte Markus und reichte ihr das Papier über den Schreibtisch. »Ausfüllen musst du ihn selbst.«

Isabel erhob sich, griff nach dem Fragebogen, und schon während sie das Fenster öffnete, überflog sie die Fragen. »Ich halte mich natürlich ebenfalls an das, was ihr ausgesagt habt. Was habt ihr denn erzählt?«, fragte Isabel bang.

»Wir haben angegeben, dass wir, alle Kollegen aus unserer Schicht, mit dem Chef einen Bootsausflug unternommen haben – nicht dienstlich, sondern rein privat, einfach so, aus Spaß an der Freude. Wir haben fröhlich gefeiert, und alle haben Alkohol getrunken, der Bootsführer selbstredend nicht.«

Isabel runzelte die Stirn: »Der Bootsführer warst du, oder? Obwohl ich das Boot gechartert habe?« Sie erinnerte sich an den Tag, als sie mit Lena und Ben mit dem Vermieter in Konstanz verhandelt und den Deal festgemacht hatte.

Markus nickte und fuhr fort: »Ja, ich war im kritischen Moment ja auch am Steuer. Es war sehr schwül und heiß an diesem Tag, und alle wollten ins Wasser und schwimmen gehen. Du bist in die Kabine runter, um dich umzuziehen. Der Polizeidirektor folgte dir nach unten. Wir, also die Kollegen, sind oben auf der Flybridge zusammengestanden, haben weiter getrunken und geschunkelt und Witze gerissen. Zu viele standen auf derselben Seite. Die haben sich leichtsinnigerweise über die Reling rausgehängt und gemerkt, dass sie so das Schiff zum Schaukeln bringen können. Ich habe Kreise gezogen und einfach im falschen Moment Gas gegeben. Durch das Gewell hat das Schiff Schlagseite bekommen. Der Kahn hat sich auf die Seite geneigt, und weil der Schwerpunkt zu weit oben war, konnte es sich schlichtweg nicht mehr aufrichten. Dann hat sich die Kajütentür geöffnet, und Wasser drang herein. Das Innere ist rasend schnell vollgelaufen und das Boot schließlich abgesoffen.«

Isabel hatte gebannt zugehört, nickte nun nachdenklich und murmelte: »So war’s ja wohl.« Markus griff in seine Tüte Studentenfutter, schob sich ein paar Nüsse in den Mund und resümierte kauend: »Die Kollegen von der Kripo haben Verständnis gezeigt. Die kennen diese Art von Booten ja auch. Die wissen so gut wie wir, dass so formstabile Schiffe wie die »Amareno« eigentlich für Flüsse und Kanäle gebaut sind. Für Seen sind die Boote eher nicht geeignet und für den Bodensee schon gar nicht. Bei Sturm und Wellen haben die einen ungünstigen Schwerpunkt. Wenn man in Freizeit- und Feierstimmung ist, denkt man da nur nicht dran.«

»Gibst du mir bitte etwas ab von deiner Nervennahrung«, fragte Isabel, »hab sie nötig!« Damit griff sie ebenfalls in die Tüte, und kauend hörte sie Markus sagen: »Der Frieder hat mal erzählt, vor ein paar Jahren sei auf dem Bodensee schon mal ein Boot dieser Bauart gekentert und gesunken. Mit Bestattern aus ganz Deutschland an Bord.«

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25 мая 2021
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9783839267981
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