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17

Zunächst musste Lena überlegen, wo sie eine Schüssel hernehmen sollte, dann fiel ihr die Plastikwanne unter der Küchenspüle ein, in der Kleinkram wie eine Spülbürste, ein Paket mit frischen Wischtüchern und einzeln verpackte Spülmaschinentabs lagen. Sie riss die Tür des Küchenschränkchens auf und griff nach der Schüssel. Erst jetzt bemerkte sie, wie ihre Hände zitterten. Mit viel langsameren Bewegungen als zuvor holte sie die Plastikwanne heraus, richtete sich wieder auf und schüttete den Inhalt wie in Trance auf eine marmorne Arbeitsfläche. Mit unbewegter Miene sah sie in die reflektierende Glastür des Geschirrschranks über der Spüle, sah in ihr eigenes Gesicht. Oder war es Annas Gesicht?

Vor nicht einmal ganz einer Stunde war noch alles in Ordnung gewesen. Sie wusste, dass Anna mit den Männern am Strand war, um das Spiel zu spielen. Diesmal sollte es eine Art Schatzsuche sein. So viel hatte Dennis beim Frühstück verraten. Anna sollte anfangen, und Lena dann morgen dran sein. Falls das Wetter mitspielte. Bei zu viel Wind konnte der Quadrocopter nicht fliegen.

Tatsächlich wehte es am Morgen noch recht stark, Lena konnte bei gekipptem Fenster von ihrem Zimmer aus die Brandung hören. Doch dann wurde es besser, und die Männer machten sich zusammen mit Anna startklar.

Als sie weg waren, schaltete Lena den riesigen Fernseher im Wohnzimmer ein und machte laut Musik an. Sie mochte es nicht, alleine in dem großen Haus zu sein. Viel lieber wäre sie mitgefahren und hätte zugesehen. Aber das wollte Dennis nicht.

Immer wieder war ihr Blick danach zur Uhr gegangen. Hätten sie nicht nach spätestens zwei Stunden wieder zurück sein müssen? Wie lange konnte das Spiel dauern? Es war Winter. In der knappen Bekleidung, die die Männer an den Frauen sehen wollten, konnte man es nicht ewig am Strand aushalten. Vier Grad Außentemperatur und der schneidende Wind waren mörderisch.

Die ersten Paintballvideos hatten sie im Sommer gemacht. Auf einem ehemaligen Kasernengelände, das seit Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht leer stand. Dennis und Hauke benutzten es anscheinend schon länger als Abenteuerspielplatz. An verschiedenen Plätzen hatten sie Videokameras aufgestellt und dann gemeinsam Jagd auf die Frauen gemacht.

Auch dort trugen Anna und Lena nur Shorts, BH und das obligatorische Stirnband mit Actioncam. Aber damals war eben Sommer. Sie schwitzten auf der Jagd. Dennis sagte, dass er das geil fände. Doch nun wollte er es anders haben. Die Mädchen sollten frieren.

Statt vor Schweiß glänzender Haut wollte Dennis Gänsehaut sehen. Er meinte, man müsse den Zuschauern immer etwas Neues bieten. Doch Lena glaubte, dass er seine ständig neuen Ideen ausschließlich entwickelte, um sich selbst daran aufzugeilen.

Anna kam ganz gut zurecht mit ihm, aber Lena fand Dennis insgeheim abstoßend. Wenn Anna sie nur nicht immer wieder zum Weitermachen überreden und Dennis nicht so hohe Prämien für die Spiele bezahlen würde … Lena wäre längst nicht mehr dabei.

Dann klingelte es an der Tür. Wegen der lauten Musik hatte Lena es nicht gleich begriffen. Auch den Postboten eine Stunde früher hätte sie beinahe überhört. Als sie auf dem Weg zur Tür war, merkte sie, wie jemand ums Haus schlich. Dennis oder Hauke konnten es nicht sein. Die hatten doch einen Schlüssel.

Etwas ängstlich wich Lena von der Tür zurück und ging in die Küche, um durch die Fenster nach draußen zu sehen. Plötzlich legte jemand sein Gesicht gegen die Scheibe. Das war ein Schreck! Doch dann wurde Lena sauer, und sie beschloss, den fremden Mann zur Rede zu stellen.

Nun lag dieser Mann mit einem Pfeil in der Schulter in der Sauna. Das war total verrückt. Dennis hatte ihn angeschossen.

Noch immer blickte Lena ihr eigenes Spiegelbild im Küchenschrank an. Als würde Anna hinter der Scheibe stehen. Wenn Anna nur hier wäre. Sie wüsste, was zu tun war. Anna hatte immer alles unter Kontrolle.

Lena hingegen war völlig ratlos.

Warum hatte Dennis Anna ins Hotel gebracht? Das war gar nicht nötig und vorher nicht abgesprochen.

Andererseits änderte Dennis gerne mal die Absprachen.

Was also hätte Anna jetzt an Lenas Stelle getan?

Lauf, Mädchen, lauf!

Lena spülte die Plastikwanne im Waschbecken aus, füllte sie anschließend zur Hälfte mit heißem Wasser. Das Gewicht der halbvollen Wanne war schwer genug. Lena griff nach einem Stapel Geschirrtücher, die ordentlich in einem Regal lagen.

18

»Na endlich«, empfing Dennis sie mit einem Kopfschütteln. Er hatte selbst bereits ein paar Frotteetücher aus dem Badezimmer besorgt und sie unter Jan gelegt. Offenbar sorgte er sich, dass Jans Blut das Holz der Saunabank durchtränken konnte. Dabei blutete die Wunde in Jans Schulter gar nicht besonders schlimm, solange der Pfeil darin steckte. Doch das sollte sich bald ändern.

»Wäre es nicht besser, wenn du die Spitze absägst?«, meinte Lena.

»Warum das denn?«

»Ich meine ja nur. Kann die Spitze sonst nicht vielleicht in der Schulter steckenbleiben?«

Dennis überlegte kurz, schüttelte den Kopf. »Die sind doch dafür gemacht, dass man sie nach dem Schuss wieder aus der Zielscheibe zieht. Haben ja keine Widerhaken oder so was.«

»Trotzdem könnte die Spitze beim Rausziehen noch mehr in der Schulter verletzen als jetzt schon?«

»Was denn?«

»Muskeln und Gewebe.«

»Na und?« Wieder schüttelte Dennis den Kopf. »Glaubst du, dafür mache ich den Pfeil kaputt? Mensch, Lena, das sind doch nur sechs. Hauke fände das bestimmt auch nicht gut.«

»Hauke?«, wiederholte Lena. »Hauke ist doch völlig egal. Der Mann hier ist verletzt!«

Dennis lachte auf. »Das würde ihn bestimmt traurig machen. Dass er dir völlig egal ist, meine ich. Armer Hauke.« Dann beugte er sich über Jan und sprach ihn direkt an. »Willst du, dass ich langsam ziehe oder schnell?«

»Ruf einen Arzt«, antwortete Jan mit trockenen Lippen. Er war noch immer geschockt, bekam aber alles mit, was um ihn herum passierte.

»Also schnell.« Dennis sah Lena an. »Halt ihn fest.«

»Nicht«, stammelte Jan. »Ein Arzt … soll das machen.«

Lena wusste nicht, was genau sie tun sollte, stellte die Schüssel ab und trat zur Saunabank.

»Nicht streicheln«, sagte Dennis ungeduldig, als Lena Jans Stirn befühlte. »Drück seine Schultern runter. Siehst du, so wie ich.«

Der junge Mann drückte ein angewinkeltes Knie auf Jans Brust und umschloss mit beiden Händen den Pfeil. »Vielleicht doch besser langsam«, meinte er und begann zu ziehen.

Wo ist der Lederriemen oder das Stück Holz, auf das ich beißen kann, dachte Jan, während er sich in sein Schicksal ergab. Hat von euch denn noch nie jemand einen John-Wayne-Film gesehen?

Vor Schmerzen fuhr ihm Übelkeit in den Magen. Automatisch schloss er die Augen.

19

Es war Jan nicht vergönnt, ohnmächtig zu werden. Die Schmerzen waren grausam, während Dennis am Pfeil zerrte. Es fühlte sich an, als würde die Schulter in Stücke gerissen, dabei war der Pfeil durch das weiche Gewebe direkt unterhalb des Schlüsselbeins gedrungen und hatte hauptsächlich Bereiche des rückseitigen Musculus supraspinatus zerstört.

Als die Operation endlich gelungen war, zerrte Dennis den Oberkörper des Patienten kurz hoch und zog ihm mit Lenas Hilfe erst die dicke Daunenjacke, dann auch Pullover und T-Shirt aus. Es war eine Erleichterung für Jan, danach wieder zurückzusinken.

Dennis wusch das Loch in der Schulter mit heißem Wasser aus. Doch bald wurde klar, dass sie die Blutung mit den Geschirrtüchern nicht stoppen konnten.

»Hol den Verbandskasten aus dem Auto!«, befahl Dennis. Sicherlich gab es auch im Haus eine ähnliche Notfallausrüstung, aber er wusste nicht, wo.

»Wir müssen ihn wieder aufsetzen«, meinte er, als Lena zurückkam. »Vielleicht blutet es im Sitzen nicht so schlimm.«

Die Idee gefiel Jan nicht, aber er musste mitmachen. Seine beiden Krankenpfleger waren in der Überzahl.

Mit vereinten Kräften zogen die beiden seinen Oberkörper hoch und rückten Jan soweit an die Wand, dass er sich dagegen lehnen konnte. Lena drückte Kompressen von vorn und von hinten auf Jans Schulter, während Dennis eine Mullbinde darüber legte, sie erst unter der Achsel durchführte und dann, für einen besseren Halt, quer über die Brust und unter dem anderen Arm hindurch auf dem Rücken zurückführte. Das Ergebnis sah ganz gut aus, fand er.

»Jetzt schön sitzenbleiben, damit nicht gleich wieder alles durchnässt«, meinte Dennis. Dann fiel sein Blick auf Jans Jacke. Ohne zu fragen begann er, die Taschen zu durchsuchen. Hierbei legte er nacheinander Portemonnaie, zwei Paar Schlüssel und Jans Handy auf die Holzbank. »Das macht mich jetzt aber mal neugierig«, sagte er. »Zahlencode, Musterwischen, Fingerabdruck oder Gesichtserkennung? Wie ist das Ding gesichert?«

Dennis legte die Jacke weg und ging mit dem Mobiltelefon zu Jan. Im Schein der schwachen Saunalampe musterte er das Display aus verschiedenen Winkeln, drehte es dazu leicht hin und her.

»Nach Musterwischen sieht es schon mal nicht aus. Das könnte man erkennen …«

Jan entgegnete nichts, leistete aber auch keine Gegenwehr, als Dennis seine Hand nahm, um den Daumen der rechten Hand auf ein Sensorfeld unterhalb des Displays zu drücken.

»Na bitte«, meinte Dennis zufrieden. »So, mal sehen. Oh, ein Anruf in Abwesenheit und eine Kurzmitteilung. Hast du in der Hektik glatt verpasst, was? Kein Problem. Gucken wir einfach mal.

So, die Kurznachricht 14.01 Uhr. Von einer Charlotte Sander. Und der Anruf? Überraschung, auch von Charlotte. 14.53 Uhr. Soll ich die Nachricht vorlesen?«

»Das ist privat«, brachte Jan nur heiser hervor.

»Oh, privat.« Kichernd fügte Dennis hinzu: »Dann ist sie wohl deine – wie sagt man – Bumsfreundin?«

Das Wort klang nicht nett, doch weder Jan noch Lena ließen sich davon beeindrucken.

»Na, egal. Also, pass auf. Sie schreibt: Bin wieder zu Hause. Ruf mich bitte an. Charlotte.« Dennis rümpfte die Nase. »So besonders privat finde ich das allerdings nicht. Eher nüchtern, oder? Hattet ihr etwa Streit?«

Jan hatte nicht vor zu antworten.

»Was dagegen, wenn ich noch ein bisschen weiter stöbere?«

»Dennis«, sagte Lena, »das ist wirklich privat.«

»So, meinst du«, erwiderte Dennis und drehte das Display in ihre Richtung. »Wie privat findest du das hier?«

Das Bild, das Dennis ihr entgegen hielt, zeigte Anna beim Paintball. Es war die Nahaufnahme, die Jan in den vergangenen Tagen diversen Leuten gezeigt hatte. Doch für Dennis und Lena war das Bild neu. Sie kannten nur das Video und nicht den Screenshot der Vergrößerung.

»Anna«, sagte Lena.

»Ach, kapiere«, meinte Dennis und drehte das Smartphone wieder zu sich, »jetzt erkenne ich es. Das war auf dem Kasernenhof. Gutes Spiel. Und sehr gute Klickzahlen. Bist du so auf uns gekommen?«

Jan nickte. »Das habe ich doch schon gesagt.« Das Sprechen fiel ihm schwer. »Eine Geschichte über euch. Das Video. Die Klickzahlen.«

»Ja, stimmt. Hast du gesagt. Trotzdem. Überall Annas Foto rumzuzeigen, das geht gar nicht. Und das hast du doch, nicht wahr? Schon mal was vom Recht am eigenen Bild gehört? Und die Videos sind urheberrechtlich geschützt. Alter, Mann, das finde ich echt respektlos. Oder findest du es gut, was er da macht?« Die Frage ging an Lena.

Sie schüttelte den Kopf.

»Wem hast du das alles gezeigt?«, bohrte Dennis weiter. »Bestimmt der halben Insel, was? Und wer weiß, dass du hier bist? Weiß Charlotte es?«

Dennis sah nur kurz vom Display auf, wischte dann weiter darauf herum. »Nein, ich glaube nicht. Sonst hätte sie ja nicht geschrieben, dass du dich melden sollst. Stimmt’s? Oh, wow, Mann, ist sie das vielleicht?«

Dennis drehte das Handy zuerst in Jans Richtung und dann so, dass Lena es auch ansehen konnte.

»Was für Augen. Das haut einen ja glatt um. Hast du schon mal so grüne Augen gesehen, Lena? Die durchbohren einen glatt. Das muss ja wie in der Hölle sein, wenn sie dich beim Ficken anguckt. Als würde dich der Teufel persönlich reiten. Stimmt’s, Jan? Und? Fickt sie gut, deine Charlotte? Ach, komm, brauchst gar nichts zu sagen. Man sieht es ihr doch an. Und dann dieser Körper. Richtig gut in Form, die Frau. Vielleicht solltest du sie anrufen und herbestellen. Dann können Hauke und ich sie auch mal mit an den Strand nehmen und ein kleines Spiel mit ihr machen.«

20

Das Wasser spritzte kaum auf, während Charlotte durch das Becken kraulte. Immer wieder musste sie alten Männern und Frauen ausweichen. Frühmorgens ließ es sich leichter schwimmen. Doch am Nachmittag und frühen Abend war es immer sehr voll in der Schwimmhalle. Das allein war aber nicht der Grund dafür, dass Charlotte ihren Rhythmus nicht richtig fand. Normalerweise half ihr das Schwimmen beim Abschalten. Sie brauchte nur ins Wasser zu steigen und loszuschwimmen, schon verlor die Welt außerhalb des Beckens an Bedeutung. Dann hörte sie nur ihren eigenen Atem und spürte, wie das Wasser an ihr vorbeifloss. Doch heute gelang ihr das nicht. Sie dachte an Javier und Lucia Moreno, die beiden Geschwister, mit denen sie auf Mallorca so viel Zeit verbracht hatte. Und dann war da wieder der Gedanke an Jan. Vor dem Schwimmen hatte sie es nicht länger ausgehalten und ihn angerufen.

Sie wollte sich mit ihm verabreden, ihn heute noch sehen. Aber Jan war nicht ans Telefon gegangen. Charlotte stieg aus dem Becken und checkte ihr Smartphone am Spind. Doch Jan hatte auch auf ihre Kurznachricht nicht reagiert. Also duschte sie und fuhr, statt nach Hause, wieder zur ehemaligen Kirche an der Süderelbe. Im großen Versammlungssaal war es dunkel. Offenbar waren alle früh nach Hause gegangen. Kein Auto stand mehr neben der Kirche, und die große Außentür war verschlossen.

Charlotte fummelte ihren Schlüssel ins Schloss. Bei der Einliegerwohnung oben klopfte sie sicherheitshalber an die Tür. Doch da wusste sie schon, dass Jan noch immer nicht zu Hause war. Sein Auto stand schließlich auch nicht unten. Nervös steckte Charlotte die Spitze des linken Daumens zwischen die Zähne und biss solange zu, bis es wehtat.

Christian Freitag traf 45 Minuten später in der Redaktion ein. »Hier«, sagte sie. »Diesmal habe ich Kaffee gekocht.«

Christian Freitag nickte nur. Noch im Mantel griff er nach dem Getränk.

»Ganz schön windig, was?«, meinte Charlotte. »Bist du auch fast von der Straße geweht worden?«

Christian nickte. »Also, was ist jetzt genau los?« Er wirkte ungeduldig.

»Sagte ich doch schon: Jan ist verschwunden.«

»Verschwunden? Oder einfach nur nicht da?«

»Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«

»Keine Ahnung. Anfang der Woche? Hier in der Redaktion.« Christian konnte sehen, dass Charlotte sich ernsthafte Sorgen zu machen schien. Sie blinzelte ungewöhnlich oft, ihre Haare waren eine einzige Katastrophe, und die riesigen Ohrringe, für die sie berühmt war und die sie am Nachmittag noch getragen hatte, fehlten gänzlich. Nur der stechende Blick ihrer grünen Augen war geblieben. Und dieser bohrte sich gerade in Christian.

»Ich habe ihm vorhin eine Nachricht geschickt, damit er weiß, dass ich wieder da bin. Und als nichts zurückkam, habe ich ihn etwa eine Stunde später angerufen. Aber er hat auch darauf nicht reagiert. Ich komme überhaupt nicht mehr zu ihm durch. Da stimmt was nicht, Chris.«

»Ist ja nicht das erste Mal, dass er nicht erreichbar ist.«

»Ja, genau. Und beim letzten Mal hatte er es dann mit einem russischen Auftragskiller zu tun.«

Der Punkt ging an Charlotte.

»Okay, ich weiß, wen ich fragen muss. Wie spät ist es?«

Charlotte sagte es ihm.

»Na, die wird sich freuen«, meinte er.

»Wer?«

»Dana«, sagte Christian und hob sein Telefon ans Ohr.

21

Die Villa verfügte im ersten Stock über ein ebenso großes Luxusbadezimmer wie das im Erdgeschoss. Statt einer Sauna war dort ein Whirlpool eingebaut. Beim Verteilen der Zimmer hatten die derzeitigen Bewohner vereinbart, dass die Frauen oben schliefen und hauptsächlich das dortige Badezimmer nutzten, während die Männer im Erdgeschoss wohnten. Als Ausnahme galten gegenseitige Besuche in der Sauna oder im Whirlpool.

Lena stand allein im oberen Bad. Ihre ehemals weiße Bluse war von Jans Blut durchtränkt. Doch das war ihr egal. Sie knöpfte die Bluse auf und ließ sie achtlos auf den Boden fallen. Die Kleidung war nicht von ihr bezahlt worden. Dennis hatte alles ausgesucht. Die dünne Bluse und den Rock. Darunter die Dessous mit den Strapsen, ja, selbst die hochhackigen Schuhe. Lena wusste, dass sie, genauso wie Anna, mit ihrem sinnlichen Mund und den straffen Brüsten für viele Männer eine Art primitive Erotik ausstrahlte. Damit hatte sie umzugehen gelernt, seit sie 14 war.

Unter der Dusche legte sie lange die Stirn gegen die Kacheln, ließ heißes Wasser auf ihren Nacken und die Schultern prasseln. Sie wollte mit Anna sprechen. Aber Dennis ließ sie nicht. Schon bei ihrer Ankunft in der Villa hatte er von beiden Frauen die Mobiltelefone einkassiert. Er wollte nicht, dass sie während ihres Aufenthalts auf der Insel Kontakt zu anderen hatten.

Anna meinte, das sei in Ordnung, also hatte auch Lena zugestimmt. Denn in 80 Prozent der Fälle bestimmte Anna, was die beiden Schwestern machten. Vielleicht waren es sogar 90 Prozent.

Als sie die Telefone abgaben, waren Anna und Lena aber auch davon ausgegangen, dass sie die ganze Zeit zusammen in der Villa wohnen würden. Davon, dass man sie trennte, war nie die Rede gewesen. Doch nun saß Anna in einem Hotel in Westerland, und Lena war allein hier. Allein mit drei Männern, die sie weder besonders gut kannte noch mochte.

Einer von ihnen war zeitweise unberechenbar; einer die meiste Zeit schweigsam, introvertiert und außerdem im Moment betrunken und nicht ansprechbar; der dritte lag mit einer Pfeilwunde in der Sauna und behauptete, dass es keine freien Hotelzimmer in Westerland gebe. Wieso noch mal? Wegen eines Zahnarzttreffens?

Das musste er sich ausgedacht haben, um Lena zu verunsichern. Aber warum? Was für eine blöde Idee. Doch leider funktionierte sie. Lena war verunsichert.

Nach dem Duschen kroch sie unter ihre Bettdecke. Auch wenn das Haus gut isoliert war, hörte sie den Wind um jede Ecke pfeifen. Offenbar wurde es da draußen immer stürmischer.

Irgendwann zog Lena frische Sachen an, ging hinunter, toastete zwei Brotscheiben und schälte sich einen Apfel. Automatisch ging ihr Blick immer wieder zur Tür. Dahinter lag der Flur. Dann kam die Badezimmertür. Und hinter einer weiteren Tür lag der verletzte Fremde.

Sie legte das Messer zur Seite und beschloss, nach ihm zu sehen. Nach Jan Fischer.

Abgesehen davon, dass Dennis auf ihn geschossen hatte, war er auch sonst ziemlich fies zu Jan. Das mit dem Handy war nicht okay. Wieso musste er die Nachrichten von dieser Charlotte vorlesen und auch noch in der Fotogalerie rumstöbern?

Auf dem Flur sah Lena zu Haukes Schlafzimmer. Der lag bestimmt noch immer im Alkoholkoma. Und Dennis?

Dennis wollte nicht, dass sie zu Jan Fischer ging. Er hatte es ihr unmissverständlich verboten. Ins untere Badezimmer ging ab sofort niemand außer ihm. Sie erinnerte sich an die Worte, als sie schon vor dem Bad stand. Dann hörte sie Geräusche aus dem Vorflur. Blitzschnell zog sie die Hand von der Türklinke zurück.

22

Der Wind schlug die Haustür krachend gegen die Wand. Dennis kam polternd ins Wohnzimmer. Der Fernseher lief. Lena saß mit angezogenen Beinen auf dem Sofa und aß Apfelspalten. Er sah nur kurz in ihre Richtung und warf die Armbrust ziemlich unsanft auf den Esstisch.

»Habe einen Pfeil verloren. Verdammter Wind. Verdammte Dunkelheit. Morgen musst du mir suchen helfen. Am besten bestellt Hauke gleich noch welche nach. Ich glaube, es gibt Zwölferpacks. Aber bis dahin müssen wir sparsam mit den Dingern umgehen. Hast du gehört, Lena? Du hilfst mir morgen beim Suchen.«

»Ja doch.«

»Dann antworte doch gleich!«

»Bist du meine Mutter?«

»Was?« Dennis erweckte kurz den Eindruck, als würde er über die Bemerkung wütend werden, stattdessen lachte er auf. »Nee, bin ich nicht. Ganz bestimmt nicht.«

Der Raum wurde nur vom bläulichen Licht des Fernsehers beleuchtet. Eine Weile blieb Dennis regungslos beim Esstisch stehen. Irgendwann drehte Lena den Kopf, um zu sehen, ob er überhaupt noch im Raum war.

»Was macht Hauke?«, fragte er in diesem Moment.

»Keine Ahnung.«

»Und unser Gast?«

»Weiß ich nicht.«

»Warst du bei ihm?«

»Nein.«

»Stimmt das?«

Lena sagte nichts dazu.

»Ob das stimmt?«

Zur Antwort erhielt Dennis ein in die Länge gezogenes, trotziges »Jaaaa …«

»Ich mache keinen Spaß, Lena.« Danach etwas freundlicher: »Weißt du auch, warum? Weil er lügt.«

Lena blickte ihn fragend an.

»Lügenpresse, Lena. Die denken sich ihre eigenen Geschichten aus.«

»Das ist doch Quatsch, Dennis.«

»Mach einfach, was ich dir sage, Lena.«

»Wir sollten einen Arzt holen.«

»Was?«

»Die Wunde kann sich entzünden. Vielleicht stirbt er über Nacht.«

»Der stirbt nicht.«

»Woher willst du das wissen?«

»Wir machen erst den Dreh mit dir. Und dann verschwinden wir. Und erst dann, klar, erst dann lassen wir ihn laufen.«

»Du willst ihn doch gar nicht laufen lassen.«

Dennis zuckte mit den Schultern. »Klar lass ich ihn laufen.«

»Der Typ ist ein Schnüffler. Ein Journalist. Hast du selbst gesagt. Der findet alles raus. Egal, was es ist. Auch unsere Nachnamen. Und davor hast du Angst.«

»Halt die Fresse, Lena.«

»Wie bitte?«

»Ja, halt die Fresse. Ich habe keine Angst. Schon gar nicht vor dem. Erzähl also nicht so einen Scheiß. Wieso glaubst du eigentlich, dass er so toll ist? Hast du was über ihn rausgefunden? Warst du etwa im Internet?«

»Ich war nicht im Internet.«

»Kein Internet während des Spiels, Lena.«

»Ich weiß.«

Die Regel war Quatsch. Aber Dennis wollte es so. Dennis machte hier die Regeln.

»Ich will das nicht«, plusterte er sich auf. »Guck Fernsehen, wenn du dich langweilst.«

»Mach ich doch.«

»Lena, willst du mich ärgern?«

»Nein.«

»Dann halte dich an die Regeln.«

Sein ausgestreckter Zeigefinger drohte ihr. Doch Lena ließ sich dadurch nicht beeindrucken. Als er noch immer wütend zur Tür stapfte, sagte sie leise: »Dennis …«

»Was?« Er drehte sich um.

»Ruf einen Arzt.«

»Fick dich, Lena. Fick dich.«

Die Tür krachte in den Rahmen.

Wieder allein machte Lena den Fernseher aus. Lange hörte sie dem Wind zu, der immer mehr den Charakter eines beginnenden Sturms bekam, und dachte: Fick dich selbst, Dennis.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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362 стр. 5 иллюстраций
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9783839269466
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