Читать книгу: «Selma Merbaum - Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben», страница 2

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»Liebes Mütterchen, Solst nie traurig sein, weil ich hoffe du wirst mit mir und mit Joselu noch fiel vergnigen haben. dein aufrichtiger Sohn Max. Gewidmet meiner Theueren Mutter. Zum ewigen andenken an das schwere Kriegsjahr 1918.«21

Mit Liebe und harmloser Orthografie drückt der Sohn seine Zuneigung zur Mutter auf der Rückseite der Fotografie aus. Max schreibt gerne Widmungen auf die Fotos, auf denen er zu sehen ist. Drei sind erhalten geblieben. Hoffnung und Zuversicht sprechen immer aus den Zeilen. Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft. Auf ein besseres Leben, das er bald in einer fremden Stadt beginnen will. Sobald es ihm möglich ist, verspricht er, die Mutter zu sich zu holen. »Joselu« fehlt auf dem Foto, das auf 1919 datiert ist.


Der junge Max

Hatte Max gezögert, nach Czernowitz zu ziehen, so wird Josef seine Bedenken zerstreut haben. Der jüngere Bruder galt als abenteuerlustig, hatte immer schon vieles leichter genommen als Max. Und außerdem standen Slobozia-Banila und Văşcăuţi nur noch für die Hässlichkeit des Krieges, waren Inbegriff von Schrecken und Pogromen. Czernowitz dagegen hatte seinen Mythos über den Krieg hinaus gerettet. Czernowitzer zehrten eigentlich ihr Leben lang von dem Bild in ihren Herzen. Nicht nur, weil man dort weiterhin beharrlich Deutsch sprach. Oder weil die Stadt mit üppiger Natur verführte und ihre prächtigen Bauwerke sich weiterhin vor ihrer historischen Vergangenheit aufbäumten. »Cernăuţi e cel mai neromânesc oraşdin România.«– Czernowitz war zwar »die nichtrumänischste Stadt Rumäniens«22, doch sie wurde auch von den Rumänen geliebt.

Czernowitz, die Stadt voller Minderheiten, die angeblich keine bevorzugte – und wo sich doch alle benachteiligt fühlten. Die Juden genauso wie die Deutschen und die Ruthenen, wie sich die Ur-Ukrainer nannten. Fast die Hälfte der Einwohner der Stadt waren Juden. Nicht zu vergessen die bis zu zwanzig kleineren ethnischen Gruppen, die nicht nur Farbe in das Treiben auf dem Marktplatz brachten, sondern auch Probleme in den Behördenalltag. Czernowitz, die dreigeteilte Stadt: unten die Handwerker und Krämer, die Intelligenz in der Mitte, oben die Reichen. Dort hörte man weder ruthenische Flüche noch sah man die »Chniokes«, die orthodoxen Juden, die selbst beim Zeitunglesen im Gebetsrhythmus hin- und her wippten.

Max und Josef sahen Czernowitz nicht als die Stadt voller Widersprüche. Die vertraute deutsche Sprache lockte und die Aussicht, Verwandte väterlicherseits ausfindig zu machen und eigenen Wurzeln nachzuspüren.

Auch Chaim und Abraham Merbaum waren unter Entbehrungen großgeworden. Onkel und Cousin von Max sollten sie sein, so war ihm bisher erzählt worden. Hatte die Mutter Andeutungen über andere, engere verwandtschaftliche Beziehungen gemacht? Waren Chaim und Abraham möglicherweise Vater und Halbbruder von Max? Max und Josef wollten das klären.

Chaim Merbaum hatte mit seiner ersten Frau Galizien verlassen und sich im knapp fünfzig Kilometer entfernten Czernowitz niedergelassen. Sein Sohn Abraham hatte in Czernowitz eine Lehre in einer Molkerei absolviert und nach Abschluss seiner Ausbildung mit Fleiß und dem richtigen Geschäftssinn bald seinen eigenen Betrieb in der Dreifaltigkeitsgasse aufgemacht. Die Qualität der Merbaum’schen Butter war legendär und Abraham ein gewiefter Geschäftsmann. Als Lieferant für die Czernowitzer Krankenhäuser hatte er den großen Coup gelandet und sich beliebt und unentbehrlich zugleich gemacht. Keiner der Direktoren der Hospitäler wollte den großzügigen Merbaum-Präsentkorb missen, den der Molkereichef ihnen alljährlich zukommen ließ. Doch auch seine Angestellten wurden Nutznießer der guten Geschäftslage. Abraham Merbaum hatte nicht vergessen, wie es ist, wenn man Hunger leidet. Er wusste auch, dass Juden mehr als anderen Erfolg geneidet wurde. Ein einladender Korb mit zweihundertfünfzig frischen Brötchen und hauseigener Butter stopfte deshalb täglich hungrige und neidische Mäuler.23

Chaim Merbaum hatte alles richtig gemacht. Stetig war er bergauf gezogen. Ein sozialer Aufstieg ließ sich an der richtigen Adresse ablesen: Je höher am Berg die Wohnung, desto wohletablierter sein Bewohner. 1906 hatte Chaim als Tagelöhner noch ganz unten am Ende der Stadt in der im jüdischen Viertel gelegenen Russischen Gasse 145 sein Dasein gefristet, wo Seiler und Tischler, Binder, Kürschner, Uhrmacher, Schuster, Klempner, Barbiere, Kupferschmiede, Schlosser, Kesselflicker, Glaser, Schneider, Gold- und Silberschmiede Geschäft und Wohnung vereinten.

Heimelig war ein Zuhause dort nicht.

… so viele Hühner und ein kleiner weißer Hund

und Himmel der so farbenfroh und bunt –

der kahle Baum wirkt so gespensterhaft

und graue Häuser, wie ganz ohne Kraft … 24

Die Armut der Bewohner spiegelte sich in den Häusern und Straßen wider. Im Sommer trieb der Wind gelben Staub durch die engen Gassen, der in den Augen biss und die Kehle rau werden ließ. Im Frühjahr und Herbst machte Regen den Lehm der ungepflasterten Wege weich und schwer. Dann quälten sich die Anwohner durch den knöcheltiefen gelben Morast. Ein trostloser Anblick.

Lichter spiegeln sich in schmutzig-naßen Pfützen,

gelb und fettig, schmutzig auch, und schwer.

Helle Häuserfenster können gar nichts nützen.

Tore hallen hehr und leer. 25

Frieda Merbaum wird ihrer Selma bei solchem Wetter deshalb später immer ein extra Paar Schuhe für den Schulweg mitgeben: Die »ganz hohen Galoschen« für den Matsch zog Selma erst kurz vor der Schule aus. In »schöne Halbschuhe mit hohen Absätzen«26 schlüpfte sie erst, als sie die gepflasterte Straße erreicht hatte.

In den primitiven Häusern jener Gegend drängten sich meist mehrere Familien zusammen. Sie gaben sich mit einfachsten Heizmöglichkeiten zufrieden und beklagten selten, weder fließendes Wasser noch WC oder gar ein Bad zu haben. »Ein weitverzweigtes, sehr gut angelegtes Canalisationsnetz und eine Tiefquell-Wasserleitung haben zur Hebung der sanitären Verhältnisse«27 nur in der Oberstadt beigetragen. Im Armenviertel versorgten städtische Brunnen die Anwohner mit dem kostbaren Nass, das erst nach Hause geschleppt werden musste. Beißender Salmiakgeruch aus den Plumpsklos in den Hinterhöfen raubte den Atem – ein unwirtlicher Ort, vor allem im Winter.

Doch gerade die kalte Jahreszeit verlieh auch den armseligen Gassen der Unterstadt Charme. Der erste Schnee überdeckte Unrat und Gestank. Czernowitz liebte den Schnee. Schneegedichte hatten im Czernowitzer »Morgenblatt« im Winter ihren festen Platz:

»Schneeflocken wehen um das Haus

Und kleiden Baum und Reis’.

Wie herrlich sieht der Wald jetzt aus

Im Winterkleide weiß.«28

Der Winter hatte die Stadt oft von November an fest im Griff, den erst der März lockerte. Unten in der Stadt blieb der Schnee länger liegen, denn dort schaufelte kein Räumdienst die Straßen frei. Kein Kunde der kleinen Kramläden oder Handwerksbetriebe erwartete, dass ihm der Weg zur Eingangstür gebahnt wurde.

Hatten Max und Josef gleich in der Molkerei von Abraham Merbaum in der Bilaergasse 16 vorbeigeschaut? »LĂPTĂRIE MEERBAUM« wird Abraham bald in großen Lettern über den Türstock schreiben und damit ab 1936 dem Hin und Her mit den Merbaum-Schreibweisen für seine Familie ein Ende setzen. Vater Chaim Merbaum hatte sich als »Comerciant«‚ als Händler, etabliert. Er war inzwischen verwitwet, doch die junge Jente Blasenstein ging ihm im Haushalt zur Hand. Das sollte sich für sie noch auszahlen.

Wir wissen nicht, ob die Verwandtschaft Max und Josef in die Rapfgasse geschickt hatte. Doch dort überraschten sie Frieda eines Tages. En passant kam niemand in diese idyllische Sackgasse, die nur ein paar Schritte entfernt war von der imposanten Anlage der Residenz des katholischen Erzbischofs. Im Frühling lag dort der Duft von blühenden Robinien und tiefdunklem Flieder in der Luft. »Maifliederfülle«29 zog sich den Hügel hinauf.

Max und Josef schien das genau der richtige Ort zu sein, um ihre Geschäftsidee zu verwirklichen. Im nicht genutzten Teil von Friedas Laden wollten sie ein Schuhgeschäft eröffnen. Und zwar »Standart-Sandalen en Gross u. moderne Schuhe en Detail«30. Erstaunlicherweise waren handgefertigte Schuhe erschwinglicher als die Fertigware aus den großen Städten. Die Gegend um die Rapfgasse garantierte finanzkräftige Kundschaft. Und so verpflichteten die beiden Brüder exklusive Marken für ihr Geschäft: »Derby«– ein extravaganter Stadtschuh für den Herrn, nur aus bestem Leder gefertigt. Auch »Buccarest und Baccu« bürgten mit ihrem Namen für Qualität. Der Mietvertrag war schnell geschlossen. Der Laden lief gut.

Frieda sah ihre Mieter Max und Josef zwangsläufig täglich. Sie wurden einander vertraut. Die patente junge Frau, die mit ihrem Laden das Einkommen der Familie aufbesserte, mag beiden imponiert haben. Frieda Schrager aber schien an Max Gefallen gefunden zu haben.31

Pragmatisch und wenig romantisch fasst Josef Merbaum sechzig Jahre später zusammen, wie sein Bruder und Frieda zusammengefunden hatten: Die beiden »verliebten sich, heirateten und bekamen Selma«32.

So schnell ging es wohl nicht. Max hatte vor seiner Heirat noch Familienangelegenheiten ins Reine zu bringen. Als Geschäftsmann wollte er nicht nur eine Familie gründen, sondern als »aufrichtiger Sohn« ein Versprechen einlösen: Hatte er seinem »lieben Mütterchen« nicht versichert, dass sie »nie traurig« sein und mit ihm noch »fiel vergnigen haben« sollte? Mit ihm und »Joselu«? Die Brüder holten ihre Mutter nach Czernowitz. Nicht in das Haus der Schragers in die Rapfgasse 6. Eidel Abisch kam beim wesentlich älteren, unverheirateten Israel Dauber unter – der bald darauf ihr Ehemann wurde.33

Und dann wollte sich Max noch um einen richtigen Familiennamen bemühen. Es werden viele Gespräche mit Chaim und Abraham stattgefunden haben und Verwandtschaftsverhältnisse geklärt worden sein. Hatte sich Chaim zu einer Vaterschaft zu Max bekannt? Auf alle Fälle änderte Max am 3. November 1922 seinen Namen von Chaim Meier in »Chaim Meier Merbaum«. Einer Hochzeit stand nun nichts mehr im Wege: Zwei Monate nach der Namensänderung, am 9. Januar 1923, gab Rabbiner Dr. Kessler dem Brautpaar im privaten Gebetsstüberl der Rapfgasse 6 seinen Segen.34


Hochzeitsregistereintrag: Friederika Schrager und Chaim Meier Merbaum

Friederika hatte den Namen Merbaum35 ihres Mannes angenommen und war nun »căsătorită«, ordentlich verheiratet mit Chaim Meier Merbaum.36


Hochzeitsfoto: Frieda und Max

Doch eine strahlende Braut ist Frieda nicht, als sie zum offiziellen Hochzeitsfoto Platz nimmt. Der Betrachter der Fotografie kann sich der elegischen Melancholie nicht entziehen, die sowohl Braut als auch Bräutigam umflort. Madonnenhaft entrückt schickt die junge Frau ein Mona-Lisa-Lächeln in eine ungewisse Zukunft. Scheu und innig zugleich schmiegt sie sich an ihren Bräutigam. Zeigten sich bei Max schon Anzeichen seiner Krankheit? Tief drückt das Grün ihres doppelten Myrtenkranzes den dichten, weißen Schleier in ihre Stirn – typisch für Bräute jener Zeit. Das Paar hatte für den hellen Brautstrauß Sommerblumen ausgesucht und Rosen und Margeriten zum lockeren Bouquet arrangiert. Festlich gewandet ist auch der Bräutigam. Zum Frack mit weißer Schleife gehört ein seidig glänzender Zylinder, den der Fotograf effektvoll vor den Brautleuten in Szene gesetzt hat. Auch Max wirkt entrückt. Sein scheuer Blick verliert sich in der Ferne. Mehr als die Andeutung eines Lächelns lässt sich von seinen Lippen nicht ablesen.

Die Jahreszeiten der Bukowina kann die junge Familie Merbaum nur einmal gemeinsam durchwandern. »Schana tova u’metuka«–»Gut und süß« hätte das neue jüdische Jahr 5685 werden sollen. Auch Max und Frieda werden es traditionsgemäß mit Apfelscheiben und Honig begrüßt haben. Doch 1924 sollte eher bitter aufstoßen. Das Schicksal hatte die Tage der Zukunft schon verteilt.

KAPITEL 2

Die Luft ist leis und voll von Sehnen,

so daß man wartet auf die blauen Lerchen 1

Das Jahr 1924 ließ sich alles andere als »gut und süß« für die junge Familie an. Max Merbaum war erkrankt. »An der Lunge« umschrieb die Verwandtschaft es zuerst noch vage, bis Tuberkulose zur Gewissheit wurde. Die Krankheit schwächte Max schnell. Die Leitung des Schuhgeschäftes musste er ganz seinem Bruder übertragen. Frieda Merbaum ließ ihrem Mann beste ärztliche Hilfe zukommen. Die Arztkosten fraßen die finanziellen Rücklagen auf – und Max’ Gesundheitszustand verschlechterte sich dennoch zunehmend.

Inspektionsarzt Dr. Saveanu war ununterbrochen im Einsatz. Die »weiße Pest« breitete sich epidemisch in der jüdischen Gemeinde von Czernowitz aus, raffte Alte und Junge gleichermaßen dahin. »Phtisis Pulmonum« trug der Amtsarzt wieder und wieder ins Sterberegister des Jahres 1924 ein.

Max war ein guter Vater, ein begeisterter Vater. Sooft es ging, führte er seine kleine Selma zu Spaziergängen aus. Immer wieder zur Verwandtschaft in die Bilaergasse 16. Dort steckte ihm Abraham jedes Mal hauseigene Milch und Butter aus der Meerbaum’schen Molkerei zu.2 Max verfiel zusehends, verlor immer mehr an Kraft. Die Verwandtschaft erinnerte sich, wie stolz Max auf seine Tochter war. Doch auch, dass es schlecht um den jungen Vater stand. Sein körperlicher Verfall war nicht aufzuhalten.

Friedas dreiunddreißigster Geburtstag am 29. Oktober 1924 wird von der Krankheit ihres Mannes überschattet gewesen sein. Als der November, der tristeste aller Monate in Czernowitz, mit feuchter Kälte den nahen Winter ankündigte, ging es mit Max zu Ende. Am 9. November, einem Sonntag, kam Dr. Saveanu in die Rapfgasse 6, um nur noch den Tod des Zweiunddreißigjährigen zu konstatieren und die Todesursache festzuschreiben: »Phtisis Pulmonum.« Am Tag darauf wurde Max Merbaum auf dem jüdischen Friedhof von Czernowitz beigesetzt.3

Areal 61 A, Plot 32. Jedes Areal fasst mehr als zweihundert Grabstätten. Aufgestellt für alle Ewigkeit. Und doch widerstehen die Grabsteine nicht der Zeit und nicht der Natur: Sie sacken ab. Sie rutschen weg. Neigen sich zur Seite, am Nachbarstein Halt suchend, der doch selbst dem Verfall wenig entgegenzusetzen hat. Die Pflanzenwelt wird nach den Steinen greifen und sie mit ihrem Grün überwuchern. Zögerlich sanft, entschlossener bald und schließlich undurchdringbar. Mannshohe Riesen-Goldruten schlagen über den Grabmalen zusammen, verschlucken sie. Essigbäume bilden wehrhafte Mauern. Ahornschösslinge stellen sich quer. Schlingpflanzende Fußfesseln lassen Besucher straucheln. Dornen stechen. Nesseln brennen. Reife Holunderbeeren geben ihren blauroten Saft dazu. Bienen schwärmen auf. Für das Grabmal hatte die Familie belgischen Marmor ausgesucht. Der es nicht mit der Robustheit seines italienischen Gesteins-Bruders aufnehmen kann. Wind und Wetter werden sich durch die Schichten fressen und abtragen, was für die Ewigkeit gedacht war. Knapp neunzig Jahre später wird die Gravur mehr zu ertasten als zu entziffern sein. »Die Seele muss zum Himmel fliegen«– auch das Epitaph mit den hebräischen Schriftzeichen über dem deutschen Text wird kaum noch lesbar sein.


Grabstein: Max Meerbaum

»Max Meerbaum gest. 9. Nov 1924 im 32. Lebensjahr tief betrauert von seiner Gattin und den Angehörigen« ist in die graue Marmorplatte eingemeißelt worden, die in hellen Sandstein eingelassen ist. Im Tod ist Max Merbaum endgültig in die Familie väterlicherseits aufgenommen worden: »Meerbaum« wurde mit Doppel-e in den Stein eingraviert.

Alles ruhte in den Tagen der Schiwa, der Trauerwoche. Das Merbaum’sche Schuhgeschäft wurde geschlossen. Sieben Tage lang. Sieben Tage lang Schweigen, sieben Tage lang Besinnen. Gemeinsam mit Familie und Freunden verharren, sich bekümmern. Gemeinsam mit Familie und Freunden essen. Kein Spiegel reflektiert den Schein der brennenden Kerze, die zur Erinnerung an den Verstorbenen entzündet wird. Denn die Spiegel werden verhängt: Den Toten will man nicht zweimal sehen, heißt es. Auch Eitelkeit soll außen vor bleiben. Immer wieder gesellen sich neue Besucher zu den Trauernden. Schweigen mit ihnen. Hocken und wippen auf unbequemen Schemeln und richten sich auf das Unabänderliche ein, weil die jüdische Religion nicht auf Verharren im Schmerz, sondern auf das Leben ausgerichtet ist.

Josef nahm die Arbeit im Schuhgeschäft deshalb so schnell wie möglich wieder auf – und zwar gemeinsam mit seiner Schwägerin, die sich in der Pflicht fühlte. Sie hatte in den vergangenen Monaten für die Pflege ihres Mannes keine Kosten gescheut. Nun saß sie auf einem Schuldenberg von fast einer Million Lei, die sie bei den Markenlieferanten »Derby« und »Baku« abzustottern hatte.4 Frieda war gezwungen, nach und nach selbst das Inventar ihres Ladens zu verkaufen.

Sie war nach dem Tod ihres Mannes mit Selma zu den Eltern in die Franzengasse 46 gezogen, nur einen Steinwurf von der Rapfgasse entfernt. Die freigewordene Wohnung übernahm nun Chaim Merbaum, der mit seiner jungen Frau Jente Blasenstein dort einzog. Friedas kleiner Laden war unabhängig vom dortigen Wohnhaus: Drei Stufen führten von außen zum Eingang hinunter.

Selmas Mutter war mit ihren dreiunddreißig Jahren eine junge Witwe. Schon ihrer kleinen Tochter zuliebe musste sie sich dem Leben zuwenden. Die jüdischen Gesetze hätten einer verwitweten Frau nach drei Monaten eine Wiederheirat zugestanden. Doch der Schloschim, der Trauermonat, war gerade um, als am 13. Dezember 1924 Dr. Scurteanu gegen Abend in das Jüdische Hospital in der Synagogengasse gerufen wurde. Helfen konnte der Arzt auch hier nicht mehr. Selmas Großvater Israel Schrager war den Folgen einer »Arterio Sclerose« erlegen. Dreiundsechzig Jahre alt war der Kantor der jüdischen Gemeinde nur geworden.5 Selma hatte innerhalb eines Monats Vater und Großvater verloren.

Es war ein Glück, dass Onkel Josef, der vertraute Bruder des Vaters, weiterhin um Selma herum war. Und auch Onkel David mit seiner kleinen Erika, die im selben Alter wie Selma war. Denn mit ihrem Cousin David kam Selmas Mutter bestens aus. Die Familien unternahmen so viel gemeinsam, dass man sagen konnte, dass »Selma und Erika zusammen aufwuchsen«.6

»Wenn Brüder beieinander wohnen und einer stirbt ohne Söhne, so soll seine Witwe nicht die Frau eines Mannes aus einer andern Sippe werden, sondern ihr Schwager soll zu ihr gehen und sie zur Frau nehmen und mit ihr die Schwagerehe schließen.«7 Dieses sogenannte Levirat hätte sich auch für Josef und Frieda angeboten. Waren sie nicht jung genug? Waren sie nicht ein gutes Team? Hatten sie nicht beide mit vereinten Kräften die gemeinsamen Schulden reduziert? Doch selbst der sozialverträgliche Aspekt schien die »Schwagerehe« nicht attraktiv gemacht zu haben. Als 1927 nur noch zwölftausend Lei Restschuld an »Derby« zu bezahlen waren, zog sich Josef aus dem gemeinsamen Geschäft zurück. Er ging weg – nur mit dem, was er auf dem Leibe hatte. War Frieda der Grund für die Trennung? Selmas Mutter wollte wieder heiraten. Doch Josef war nicht der Auserwählte.

1927 stellten sich Josef und Frieda dem Fotografen zu einem Abschiedsfoto.


Frieda und Josef

Die wirtschaftliche Not der vergangenen Jahre hatte Spuren hinterlassen. Beide wirken erschöpft. Frieda ziert die Eleganz ihres spitzenbesetzten Kleides, doch die junge Frau ist dünn geworden. Ihr widerspenstiges dunkles Haar, das sie Selma vererbt hat, bändigt sie mit einer großen Schleife zum Zopf. Josef an ihrer Seite verliert sich in seinem weiten Anzug. Doch er neigte wohl immer schon zum Schlanksein. Als die Zeiten bedrohlich wurden, sah er sich dürr wie »ein Skelett«.8 Auf dem Foto ähnelt Josef seinem Bruder Max – und dann auch wieder nicht. Josef hat nicht die aufgeworfene Oberlippe des Bruders. Auch in der Augenpartie unterscheiden sie sich. Josef schmückt ein modisches Menjou-Bärtchen. Wer die Fotografie genau betrachtet, empfindet einerseits die Vertrautheit des Paares, kann andererseits die Distanz zwischen ihnen nicht leugnen. Wieder ist die Ernsthaftigkeit der Pose wohl dem Zeitgeist geschuldet. Nicht aber die Melancholie, die Wehmut, die von den beiden ausgeht. Ratlos scheinen sie in eine ungewisse Zukunft zu blicken. Die in sorgsamem Sütterlin verfasste Widmung auf der Rückseite des Fotos soll optimistisch klingen, doch liest sie sich wie ein Seufzer: »Froh gedenket mein. In Lieb und Treu allzeit. Wenn in weiter Fern werd sein umgeb Euch Lust und Munterkeit.« »Bettelstudent« ist noch hinzugefügt worden – dachte die Verfasserin der Zeilen an den armen »Bettelstudenten« Symon, der in der Millöcker-Operette am Ende doch noch sein Glück findet?

Josef und Frieda hatten etliche Abzüge von dem Foto machen lassen und zur Verwandtschaft in alle Welt geschickt.9

Am 20. Mai 1927 heiratete die Witwe Frieda Merbaum den geschiedenen, siebenundreißigjährigen Händler Leo Eisinger, Löwi gerufen. Unter diesem Namen wurde er sogar in das jüdische Heiratsregister eingetragen.10


Hochzeitsregistereintrag: Friederika Merbaum und Löwi Eisinger

Über das Zusammentreffen von Leo und Frieda ist nichts überliefert. Auch Josef Merbaum schwieg sich später darüber aus. Hatte ihn die Hochzeit gekränkt? Der Kontakt zu den Meerbaums kühlte mit Friedas Hochzeit ab.

Zu Löwi Eisinger »schweigen die Quellen«11 nicht. Er war der Sohn des Viehhändlers Moses Eisinger und seiner Frau Rosa, Rosel gerufen. Eisingers und Merbaums mussten sich gekannt haben: Als sich die Eisingers nach dem Ersten Weltkrieg in Czernowitz niederließen, hatten sie mit Chaim Merbaum in der Steingasse jahrelang Haus an Haus gewohnt.

Davor waren Leos Eltern viel herumgekommen. Bis nach Böhmen hatte es Moses Eisinger verschlagen. Seine Frau stammte aus Rohozna im damals Böhmischen Kronland der Habsburgmonarchie. Dort war Leo am 5. Juli 1890 zur Welt gekommen. Vielleicht auch zehn Tage später. Wieder nehmen es Meldezettel und Gemeindebucheinträge mit den Daten nicht so genau. Doch sie legen Zeugnis ab über die unruhige Wanderschaft der Eisingers: 1910, 1915, 1916, 1917 bewegte sich die Familie rastlos von Ort zu Ort.12 Erst mit dem Ende des Krieges, als Rohozna der Tschechoslowakei zugeschlagen wurde, hatten sich die Eisingers in Czernowitz niedergelassen. Der deutschen Sprache wegen. Vielleicht auch, weil es Leos Vater Richtung Heimat zog. Er stammte aus dem nahen Sadagora.

»Sadagora«– die russische Übersetzung des Namens »Gartenberg«. Der deutsch-baltische Offizier Peter Nikolaus von Gartenberg hatte 1770 während des Russisch-Türkischen Krieges im Auftrag der Zarin Katharina der Großen eine Münzprägeanstalt am linken Pruthufer nahe bei Czernowitz eingerichtet. Aus dem Metall der erbeuteten osmanischen Kriegswaffen wurden die Münzen für den Sold der Soldaten der russischen Armee geprägt.

Viele Juden hatte von Gartenberg in Lohn gehalten. Nach der österreichischen Annexion der Bukowina 1774 waren sie mit Privilegien und Landbesitz erst gelockt, dann mit bürokratischen Zwängen vertrieben worden, als sie nicht länger dienlich waren. Erst als sich 1842 Israel Friedmann, der Führer der Chassidim, der Wunderrabbi, in Sadagora ansiedelte, stieg die Zahl der Juden wieder. Vor allem galizische Juden ließen sich vom Chassidismus und Prunk des Rabbis faszinieren – auch wenn die verwinkelten, kotbedeckten Straßen Sadagoras mit ihren kleinen schindelgedeckten Holz-Häuschen, in die niemals ein Sonnenstrahl drang, im krassen Gegensatz zum Prachtbau standen, in dem der Rabbi Hof hielt.

»Am Hof des Wunderrabbi von Sadagora lernte der Vater die schwierigen Geheimnisse […] Von Sadagora nach Czernowitz und zurück zum Heiligen Hof gingen die Wunder […]«13 – auch Rose Ausländer hatte der Wunderrabbi beeindruckt. Der in Russland eingebürgerten Czernowitzer Dichterin Klara Blum war dieser Paradiesvogel ebenfalls ein Gedicht wert.

»Man raunt: er kann Geburt und Tod erzwingen,

Auf einem Tüchlein fährt er übers Meer,

Sein Lächeln wird dir Glücksgeschäfte bringen,

Sein Zornesblick macht deine Taschen leer.

Man geht zu ihm mit Klagen und Beschwerden,

Verlassne Fraun und Händler vorm Bankrott.

Es ist nicht leicht: von ihm empfangen werden.

›Ein andermal, der Rabbi spricht mit Gott.‹«14

Doch vielen blieb der Chassidismus fremd. Mehr noch, er stieß sie ab. Da tanzte einer in goldenen Pantoffeln, während andere hungerten. Paul Celan assoziierte mit Sadagora, wie andere Czernowitzer auch, Gauner und Ganoven15, selbst wenn es der Geburtsort seiner Mutter war.

Leo Eisingers Mutter Rosa wurde 1925 in Sadagora beerdigt, nachdem sie an den Folgen einer Tuberkulose und Unterzuckerung gestorben war. Der Tod seiner Mutter könnte Leo bewogen haben, seine Wohnung in der armseligen Sterngasse aufzugeben und wieder zu seinem Vater Moses in die Steingasse zu ziehen. Als später in direkter Nachbarschaft zum Vater eine Wohnung in der Steingasse 6 frei wurde, zog er dort ein. Möglicherweise schon mit Frieda und Selma?

Ob Löwi Eisinger Selma ein guter Vater wurde, wissen wir nicht. Doch von der Nestwärme einer Großfamilie mit Brüdern der Mutter und zahlreichen Cousinen und Cousins wird Selma in ihren ersten Lebensjahren profitiert haben. Die Berufstätigkeit von Mutter und Stiefvater hat der Kleinen sicher schon früh Selbstständigkeit abverlangt. Unterstützung der Mutter bei hausfraulichen Tätigkeiten wird Selma eine Selbstverständlichkeit gewesen sein – in Handarbeit und Hauswirtschaft gehörte Selma später in der Schule immer zu den Besten.

Eine von Selmas wichtigsten Bezugspersonen war wohl Großmutter Henriette »Henie« Schrager, die Mutter von Selmas Mutter Frieda. Und das nicht nur, weil sie immer schon vertrauter Teil der Familie gewesen war, sondern auch, weil die Großmutter die Kultur in Selmas Elternhaus geprägt hatte. Selmas Cousine Edit in Israel erinnerte sich noch im hohen Alter an die würdevolle Eleganz der Großmutter, die selbst im Alltag nie ihre lange Perlenkette abgelegt hatte.16 Großmutter Henie hatte Stil und den verdankte sie ihrem guten Elternhaus. Ihr Vater Abraham Thaler war ein vermögender »Eigenthümer« und hatte ihr offenbar die Erziehung angedeihen lassen, die jüdische Bildungsbürger für ihre Töchter vorsahen: Haushaltsführung, Belesenheit und Klavierspiel mit Gesang. Selmas Großmutter war belesen. Und sie spielte auch Klavier. Selma wird jede Gelegenheit genutzt haben, der Großmutter dabei zuzuhören. Ihre Musikalität wurde im Hause der Großmutter gefördert und geprägt. Stundenlang konnte das kleine Mädchen lauschen, wenn jemand Klavier spielte, und war nachhaltig fasziniert davon, wie Finger dem Ebenholz und Elfenbein der Tastatur Töne und Klänge entlockten. Die ihre Fantasie beflügelten, für sie Gestalt annahmen und zu religiösen Bildern führten: zum Beispiel zu Szenen des Kampfes, den der Engelfürst Michael ausfocht, als er den Drachen niederzwang; Szenen, die Selma später in ihrem Gedicht Der Kelch verarbeiten wird:

… Frauenhände,

die, über Tasten schwebend, spielen die Legende

vom Prinzen, welcher mit dem Drachen rang. 17

Musik verband oft mehr als Worte. Musik war für Selma mehr als bloßer Hörgenuss. Musik führte Menschen zusammen, schuf dauerhafte Vertrautheit. In Selmas einzigem erhaltenen Brief von 1942 aus dem Lager im Steinbruch an ihre Freundin Renée ruft sie sich in den wohl verzweifeltsten Momenten ihres Lebens diese Innigkeit ins Gedächtnis. Sie schöpft Kraft und Trost aus der Erinnerung an die Nachmittage, als die beiden Mädchen »zusammengesessen sind ohne zu reden. Nachmittage, an welchen Du gespielt hast, und ich zugehört habe«18. Musik, »muzică vocală«, gehörte auch in der Schule zu Selmas Lieblingsfächern, in denen sie mit guten Noten glänzte.

Wenn Großmutter Henie Klavier spielte, durfte der Gesang der Kinder nicht fehlen. Deshalb kam auch die Familie von Philipp Schrager, dem Bruders ihres verstorbenen Mannes, gern zu der alten Dame. Vorzugsweise, um gemeinsam den Sabbat zu feiern. Und dann war natürlich auch Cousin Paul mit von der Partie. Selma und Paul haben offenbar mehr Zeit gemeinsam verbracht als bisher angenommen.

Pauls Musikalität wurde in den höchsten Tönen gerühmt, seine schöne Singstimme gepriesen. Kein Wunder also, dass der Junge dieses vielgelobte Talent kultivierte und in das Erwachsenenalter hinüberrettete: Den Rhythmus der jüdischen Gebetsstimme beim Rezitieren seiner Gedichte behielt er bei, was viele Jahre später zu einer großen Demütigung führen sollte.

Der erste öffentliche Auftritt in Deutschland des damals noch weitgehend unbekannten Dichters Paul Celan fand im Mai 1952 auf der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf an der Ostsee statt. Die Wiener Freunde um Ingeborg Bachmann hatten ihren Einfluss spielen lassen. Dass die Gruppe nicht zimperlich mit Kritik umging, war bekannt. Doch Paul Celan wurde dort wegen seiner Vortragsweise richtiggehend ausgelacht. Bemerkungen wie »Der liest ja wie Goebbels« oder »Singsang wie in einer Synagoge« verletzten ihn tief. Die Verhöhnung seines Gedichts »Todesfuge« aber riss eine immer schwärende Wunde auf. Hatte er doch darin nicht nur die bittere Erfahrung der schlimmsten Verfolgung, die »schwarze Milch der Frühe«, thematisiert, sondern auch versucht, dem traumatisierenden, nie verarbeiteten Schmerz über den gesichtslosen Tod seiner Mutter im Arbeitslager Michailowka Gestalt zu geben. Der von Hans-Werner Richter »herbergsvatermäßig geführte Haufen«19 beschwieg die Existenz von Juden ohnehin. Weder kam der Holocaust im Allgemeinen, noch die persönlichen Schicksale der Einzelnen je zur Sprache.

Bei seinen Großeltern hatte Paul Kritik dieser Art nicht zu fürchten und seinen jüngeren Cousinen Edit, Erika und Selma wird er ohnehin Vorbild gewesen sein und in ihnen willige Zuhörerinnen für seine selbsterdachten Märchen gefunden haben. Selma wird ihm bald nacheifern und ihm auch in ihrer Verbundenheit mit der Natur in nichts nachstehen.

Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
Объем:
353 стр. 40 иллюстраций
ISBN:
9783866743649
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Правообладатель:
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